Maarten C. Brands, Ph.D.
Professor (em.) der Neueren Geschichte
Universität Amsterdam
Geboren 1933 in Haarlemmermeer bei Amsterdam; verstorben 2018 in Amsterdam.
Studium der Geschichte und Philosophie an den Universitäten von Groningen,
Amsterdam, Berlin, Berkeley und Yale
Arbeitsvorhaben
Die Hartnäckigkeit historischer Muster bei der Modernisierung
Concerning European integration, I hope to finish a "Eurogram" with the following chapters:1) What historical factors enhanced integration?
2) Crucial changes in the integration climate since the end of the Cold War
3) The unique/incomparable growth and structure of the EC/EU. The limited use of integration theories
4) EMU
5) Central position of Germany within the EU
6) On the effects of the future enlargement: "die Ver(w)östlichung Europas".
7) A common foreign and security policy?
8) Relations US - EU. A widening Atlantic? More entangled and further apart?
9) A growing EU-aversion among the population? Renationalization?
10) "Überforderung der EU?" Too many great challenges at the same time
The main common theme of all what I hope to write/finish is: The tenacious patterns of continuity, even in periods of rapid change. Or: the "odd couple" of, on the one hand, modernization and, on the other, the impact of a "heavier (dead) hand" of historical patterns in Europe after the Cold War.
Other specific themes:
1) What do "borders" still mean in present-day Europe?
2) Territorialism versus globalism. The rise of virtual borders. (Cf. Charles Maier's essay in Transit 14 and his speech in Florence 1999 "Trennlinien in Europa")
3) New asymmetries in the EU. On the growing differentiation between larger and smaller member states
4) The loss of status / the devaluation of smaller states since 1990
5) On the road to a directorium in the EU?
6) Today's recycling of political concepts. On the renewed use of outdated/antiquated ideas
7) What could be the meaning - if any - of the expression "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen" (Ernst Bloch)?
Recommended Reading
Brands, Maarten C. The Obsolescence of Almost all Theories Concerning International Relations. Amsterdam, 1997.
-. Deutschland, Frankreich und die Niederlande. Ungleichheit und Wettbewerb in Europa nach dem Umbruch. Robert Bosch Stiftung, 1998.
-. "Die Wirte vom Gasthof 'Zur verpassten Chance'. Deutsche Intellektuelle und das politische Defizit." In Grenzüberschreitungen oder der Vermittler Bedrich Loewenstein, edited by V. Precan. Prague, 1999.
Kolloquium, 04.03.2003
Die vielfältigen Paradoxien, Widersprüche und Absurditäten der europäischen Intergration: die wunderbare Integration eines "widersprüchlichen Kontinents"
1. Was die EU ist und was sie nicht ist.
Wie weit ist die Integration vorangeschritten?
Die EU ist weder eine Föderation, noch eine Konföderation; sie ist eine Föderation von Nationalstaaten, "eine Staatendemokratie" (Chr. Meier). Die EU ist kein souveräner Staat oder 'vereinigte Staaten'. Sie hat keine Verfassung, kein "Wir, das europäische Volk...".
"Weniger als ein Staat, ... mehr als ein Staatenbund" (Martin Walker).
Sie hat keine Regierung, doch es gibt Regierungsgewalt, eine Art Verwaltung ohne Staatlichkeit.
Sie hat ein Parlament, doch dieses ist mit einem ernsten Handicap belastet, denn ihm fehlt das Gegengewicht einer Regierung.
Es gibt kein europäisches Parteiensystem, mit entsprechenden europäischen Wahllisten für die Wahlen zum europäischen Parlament.
Es gibt keine Zivilgesellschaft mit 'Bürgerbewegungen'.
Wie soll eine europäische Öffentlichkeit geschaffen werden? Das ist immer noch eine ungelöste Frage. Ein demos als erkennbare Kategorie, als eine Gesellschaft, die sich ihrer selbst bewusst ist, gibt es kaum. Es gibt kein europäisches Volk mit einer eigenen Sprache oder Lingua franca.
Es gibt keine öffentliche Meinung, keine europäische Zeitung, kein Fernseh- oder Radiosender; es gibt nicht eine einzige gemeinsame Öffentlichkeit, sondern 15 nationale Öffentlichkeiten; es gibt kein Kommunikationssystem, keinen europäischen politischen Diskurs, keine demokratische Substanz. Tatsächlich existiert auf europäischer Ebene keine Interaktion zwischen Institutionen und Bürgern.
Die EU hat kein eigenes Steuersystem. In Bezug auf das Budget ist die EU eher eine 'Kleinmacht'. Sie verfügt über weniger als 1,2 % der BIPs der Länder, die ihrerseits mehr als 40 % ihres BIP der Kontrolle der jeweiligen Parlamente und Regierungen anvertrauen.
Die EU hat zwar einen gemeinsamen Markt und seit 1999 auch eine gemeinsame Währung, aber nur eine Seite der Münze ist europäisch, die andere Seite ist national - ein klares Symbol. Trotz des gemeinsamen Markes und trotz des Euro gibt es keine gemeinsame Wirtschaftspolitik.
Die EU hat kein stehendes Heer oder eine Polizei. (Und kein Gewaltmonopol, das entscheidende Kriterium für Max Webers traditioneller Definition von Staatlichkeit.)
Es ist sehr schwierig, sich mit Europa zu identifizieren, denn man kann nur dazu gehören, wenn man die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedsstaats hat. Die emotionale Funktion der Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat ist nicht durch ein Gefühl für Europa ersetzt worden. Wie man im Deutschland des 19. Jahrhundert sagte: "Ein Zollverein ist kein Vaterland." Es gibt keine gemeinsame politische Identität.
Europa hat keine Hymne, die sein Volk singen könnte - nur eine Melodie, die man summen kann: der Schlusschor von Beethovens 9. Sinfonie (Schillers An die Freude)
(Such es überm Sternenzelt/Über Sternen muß es wohnen)
Es gibt jedoch eine Flagge mit einer wachsenden Anzahl von Sternen, da jeder Stern eine Nation darstellt. Sie reflektiert die Vielfalt der Regierungen in Europa.
Es fehlen vier wichtige Pfeiler: einen gemeinsame Geschichte, Sprache, Identität und Verfassungstradition.
(J. Joffe)
Die Europäisierung Europas ist nach wie vor notwendig, doch paradoxerweise geht die Europäisierung nationale Wege: jedes Land tut es auf seine Weise.
Trotz oder wegen der anhaltenden Internationalisierung gibt es einen zunehmenden Lokalpatriotismus: die direkte regionale Umgebung, in der die Leute leben, wird immer wichtiger.
"Der Ausdruck 'europäisch' ist von offizieller Seite nicht definiert worden. Er kombiniert geographische, historische und kulturelle Elemente, die alle zur europäischen Identität beitragen. Die gemeinsame Erfahrung von Nachbarschaft, Ideen, Werten und historischer Interaktion kann nicht in eine einfache Formel zusammengefasst werden und muss von jeder nachfolgenden Generation aufs Neue überprüft werden. Die Kommission ist der Meinung, dass es weder möglich noch angebracht ist, die Grenzen der Europäischen Union jetzt festzulegen, denn ihre Kontur wird erst im Laufe der kommenden Jahren geformt." (Cris Shore)
2. Was macht den Integrationsprozess so komplex, so widersprüchlich und paradox?
Einige Paradoxien:
2. 1. Die europäische Integration ist ein elitäres Projekt, von Anfang an undemokratisch, obwohl die EU eine Koalition freier demokratischer Staaten sein soll.
Der ehemalige Präsident der EU-Kommission, Jacques Delors, sprach von einem gütigen Despotismus. "Europa ist zu ernst, als dass man es dem Volk überlassen kann," sagte er. In Integration in der europäischen Gemeinschaft war das Produkt von Absprachen zwischen den politischen Eliten Europas. Die Option war ein Entweder-Oder: entweder Integration ohne Demokratie oder eine starke Stimme des Volkes in den Teilnehmerländern und wahrscheinlich keine Integration.
2. 2. Immer wieder wird auf den Gipfeltreffen der Union eine transparentere EU versprochen, nachdem das Führungspersonal die Struktur der EU gerade eben noch undurchsichtiger gemacht hat. Die zunehmende Komplexität der Union macht den Text der EU noch unlesbarer.
2. 3. Die Grenzen der Integration: die Angleichung etwa der verschiedenen Sozialsysteme könnte zum Bruch in der Union führen, wenn der Wohlfahrtsstaat auf das Minimum sozialer Sicherheit reduziert wird. Das gleiche könnte auf die Steuern zutreffen.
2. 4. Ein weiteres, sehr wichtiges Paradoxon, das uns Einblick in den schleichenden Prozess der Europäisierung gewährt, ist die Position des europäischen Gerichtshofes als Teil der Verfassungsarchitektur. Der europäische Gerichtshof hat seine Rechtsprechung ausgedehnt und ist ein Beispiel für die 'illegale' Selbstvergrößerung der europäischen Institutionen. Illegal bedeutet hier: nicht auf der Basis einer Verfassung, einer politischen Entscheidung oder einer anderen Legitimation. Die Nationalstaaten haben die Schaffung einer supranationalen Rechtsordnung akzeptiert, obwohl diese in den Gründungsverträgen so nicht vorgesehen war. Der Europäische Gerichtshof hat die EU erfolgreich in ein "föderatives Staatswesen in statu nascendi" verwandelt.
Die Selbstvergrößerung wird vom Europäischen Gerichtshof nicht beschränkt: "Die Europäisierung ist ein in sich zirkulärer und sich selbst verstärkender Prozess. Die Institutionen und Gesetze der EU bringen kontinuierlich ihre eigenen Umwelten und die Bedingungen für ihre Expansion hervor. (...) Die EU - sowohl Ursache als auch Wirkung ihrer selbst - wirft die grundsätzliche Frage danach auf, was sie eigentlich ist." (Shore)
2. 5. Das Konzept 'Europa' mag ursprünglich vielleicht überwiegend kulturell gewesen sein, doch Kultur kam in den Integrationsprogrammen nicht vor. Die Gründerväter hatten gute Gründe, die Kultur als Mittel zur Integration auszulassen.
2. 6. Die Paradoxien des Vertrags von Maastricht (1991/92)
"Da stand nichts über die Erweiterung, nicht über die Transformation Europas als Ganzem. (...) Maastricht hat Europa überhaupt nicht auf die Lawine vorbereitet, die auf der anderen Seite des Kontinents losbrach." (Norman Davies, Europe, S. 1122)
Lord Dahrendorf bemerkte ganz richtig zu Maastricht: Das ist die "Zukunft von Gestern".
Die Osterweiterung schiebt die dringende Frage in den Vordergrund: Wo hört Europa auf? Während des kalten Krieges war diese Frage nur von untergeordneter Bedeutung.
2. 7. Zur Diskussion um die EU-Verhandlungen mit der Türkei: Ist es nicht paradox, dass im säkularisierten Westeuropa der Bezug auf das christliche Erbe häufig als Argument gegen die Mitgliedschaft der Türkei verwendet wird?
Es ist eine Ironie, dass kein anderes EU-Mitglied die Kandidatur der Türkei mit mehr Begeisterung begrüßt als ihr alter Feind Griechenland; die Griechen sind überzeugt, dass sich ihre Beziehungen nur im europäischen Kontext normalisieren werden, wie auch die gemeinsame Verpflichtung zur Integration Frankreich und Deutschland geholfen hat, die Wunden der beiden Weltkriege zu heilen.
In der Diskussion um die Türkei formulierte der Berliner Historiker Jürgen Kocka, was ich das Paradoxon der EU-Grenzen nennen möchte: "Wenn Europa eine politische Union sein will, muss es Grenzen haben."
Die EU sollte nicht übermäßig ausgedehnt werden, sonst sei sie nicht mehr "handlungsfähig", sagte er. Andererseits plädierte Kocka für eine "Gradualisierung der Grenzen" zu jenen Staaten, die keine Mitglieder sein werden. "Den abgestuften Beziehungen zwischen den Mitgliedsnationen entspricht eine Gradualisierung der Grenze nach außen."
Wie soll man die beiden Punkte miteinander vereinbaren? Einerseits die Gradualisierung der Grenzen, andererseits klare Grenzen, die man für eine politische Union und eine klare EU-Identität der Bürger benötigt.
"Die Grenzen fallen, die Mauern werden hochgezogen." Wenn im nächsten Jahr die EU nach Osten erweitert wird, werden einige Grenzen fallen (z. B. zwischen Deutschland und Polen), doch gleichzeitig werden die anderen Grenzen östlich der neuen Mitgliedsstaaten dichter als zuvor. Das ist zynisch, insbesondere da Polen sich gerade mit Ländern wie der Ukraine versöhnt hat.
Der paradoxe Effekt der europäischen Vereinigung ist ein "kultureller Fundamentalismus" oder Eurozentrismus, eine "Art Fremdenfeindlichkeit höherer Ordnung, die sich gegen Muslime und die moderne Version der mongolischen Horden richtet." (Shore)
2. 8. Die Absurdität der gemeinsamen Agrarpolitik
Die Dialektik der großen Erfolge des Integrationsprozesses: die gemeinsame Agrarpolitik ist einer der ersten Erfolge der EEG. Daraus ist ein Klotz am Bein der Union geworden, von dem sie sich nur schwer befreien kann. Etwa die Hälfte der EU-Gelder werden für diese Politik ausgegeben, von der nur 4% der Bevölkerung profitieren.
2. 9. Die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik
Noch hat die EU keine gemeinsame Politik für diese wichtigen Bereiche. Einer der Hauptgründe ist, dass die Abstimmung der Außenpolitik und der Verteidigungsinteressen gerade erst beginnt.
Das Paradoxon des Javier Solana: Die aktuellen Konflikte zwischen der EU und Washington "drängen die EU vielleicht dahin, eine aktivere Rolle in der Welt zu spielen. Wir sind dazu verpflichtet", sagte Solana jüngst, in seiner Funktion als Generalsekretär und Hoher Vertreter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU.
Aber wo könnte er diesen richtungsweisenden Impuls sehen? Die Kürzung der Verteidigungsetats in vielen EU-Mitgliedsstaaten wird auch in diesen unsicheren Zeiten voran getrieben.
2. 10. Das Paradoxon der amerikanischen Liberalen und andere Gegner der amerikanischen Hegemonie:
ihr Glaube an Europa als politisches Gegengewicht.
Obwohl sie um die politischen Schwächen der EU wissen, beziehen sich sogar bedeutende amerikanische Experten für die europäische Integration immer wieder auf die EU als das einzige politische Gegengewicht zur amerikanischen Hegemonie (z. B. David Calleo, Joseph Nye und andere).
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Brands, Maarten C. (2002)
Deutschland : mächtiger oder überfordert - integrierend oder zentrifugale Kraft
Brands, Maarten C. (2002)
Will semi Europeans really become full Europeans? : vom Klein- zum Grosseuropa
Brands, Maarten C. (2002)
The September events and the European Union : "American polygamy" and the European wallflower
Brands, Maarten C. (2001)
Einige Thesen zum Verhältnis Deutschland - Niederlande
Brands, Maarten C. (2000)
Brands, Maarten C. (1999)
Die Wirte vom Gasthof "Zur verpaßten Chance" : deutsche Intellektuelle und das politische Defizit
Brands, Maarten C. (1999)
Berlin and the recycling of German symbols : an introduction
Brands, Maarten C. (Amsterdam, 1999)
De uitbaters van herbert "De gemiste kans" : Duitse intellectuelen en het politieke tekort ; afscheidscollege op 20 november 1998 Universiteit van Amsterdam Duitsland cahier ; 5/99
Brands, Maarten C. (1998)
The non-role of intellectuals in present European politics
Brands, Maarten C. (Stuttgart, 1998)
Deutschland, Frankreich und die Niederlande : Ungleichheit und Wettbewerb in Europa nach dem Umbruch Umbrüche und Aufbrüche, Europa vor neuen Aufgaben