Reinhard G. Kratz, Dr. theol.
Professor für Altes Testament
Georg-August-Universität Göttingen
Geboren 1957 in Offenbach a.M.
Studium der Griechischen Philologie und Evangelischen Theologie in
Frankfurt a.M., Heidelberg und Zürich
Arbeitsvorhaben
Israel und das Judentum. Geschichte der jüdischen Tradition in der Hebräischen Bibel
Das Thema des geplanten Buches ist die - historische und theologische - Frage, wie aus der Religion des alten Israel die jüdische Tradition wurde. Die Frage zielt auf eine konsequente Unterscheidung zwischen dem Israel der Geschichte und dem Israel des Glaubens und Bekennens in den Schriften der hebräischen Bibel/des Alten Testaments. Mit Hilfe archäologischer, epigraphischer und ikonographischer Daten sowie der Kritik der literarischen Quellen werden die Reste der israelitischen und judäischen Religion nach verschiedenen Bereichen (Prophetie, Weisheit, Hymnen und Gebete, Recht, Kult, Erzählung) rekonstruiert, historisch und theologisch in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext interpretiert und daraufhin befragt, wie aus ihnen die in der hebräischen Bibel überlieferte, aus jüngerer Zeit stammende Traditions- und Auslegungsliteratur entstanden ist, auf der die Religion des Judentums basiert.Hinweis für Mit-Fellows
Besonders interessiert bin ich am Austausch über religionsgeschichtliche, historische und archäologische Daten aus dem Raum des (antiken) Vorderen Orients, das Rezeptions- und Traditionswesen in Judentum, Christentum und Islam sowie in der griechisch-römischen Antike, Prozesse und Möglichkeiten der Rekonstruktion von Literaturwerdung (mit und ohne empirische Grundlage), Theorien der historischen Rekonstruktion und der Fiktionalität von historischer (literarischer) Überlieferung.
Lektüreempfehlung
Kratz, Reinhard Gregor. Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik. UTB 2157, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000.
-. Kyros im Deuterojesaja-Buch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Entstehung und Theologie von Jes 40-55. Forschungen zum Alten Testament 1. Tübingen: Mohr-Siebeck, 1991.
-. Translatio imperii. Untersuchungen zu den aramäischen Danielerzählungen und ihrem theologiegeschichtlichen Umfeld, Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 63. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1991.
Kolloquium, 10.12.2002
Israel und das Judentum im Alten Testament
1. Das Projekt
Die wissenschaftlichen Erforschung der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments hat eine historische und eine theologische Dimension. Das eine lässt sich vom anderen nicht trennen, da die Bibel selbst den Anspruch erhebt, nicht nur eine historische Quelle, sondern Gottes Wort zu sein. Die historische Rekonstruktion darf sich daher nicht auf die Geschichte Israels, und sei es die Religions- und Kulturgeschichte, beschränken. Auch der theologische Anspruch der Bibel, auf dem der bis heute anhaltende religiöse (und kulturelle) Gebrauch Bibel beruht, bedarf der historisch-kritischen, sprich: wissenschaftlichen Erklärung. Sie soll in eine Geschichte der Tradition im Alten Testament münden, eine kombinierte Literatur- und Theologiegeschichte.
Um sie nachzuzeichnen, arbeite ich mit der Grundunterscheidung zwischen der Religion des alten Israel einerseits und dem Judentum andererseits, wenn man so will: zwei verschiedene Aggregatzustände der israelitisch-jüdischen Religion im 1. Jahrtausend v. Chr. Beide sind im Alten Testament enthalten, aber auf eigentümliche Weise miteinander vermischt. Die Aufgabe besteht darin, die historischen Übergänge vom einen zum anderen zu erforschen und zu klären, wie aus der Religion des alten Israel die theologische Tradition im Alten Testament entstanden ist.
Ein Anhaltspunkt ist der spezielle Charakter des Alten Testaments. Anders als die gesamte altorientalische Überlieferung ist es in einem langen Prozess von Interpretation und Fortschreibung entstanden. Ein einmal geschriebener Text, galt als sakrosankt und bildete die Grundlage für seine Auslegung. Diese wurde in den Text hineingeschrieben und war so ihrerseits wieder die Grundlage für die weitere Auslegung, und so ging es weiter, bis die Bücher ihren jetzigen Umfang erreicht hatten und zur Quelle einer immensen Sekundärliteratur wurden. Mit Michael Fishbane nenne ich diesen Prozess der innerbiblischen Auslegung die jüdische Tradition, was sowohl den Gegenstand der Tradition als auch den Vorgang des Tradierens umfasst.
Das Thema der Tradition ist in überwiegendem Maße das alte Israel, das meint: das Volk Israel von seinen vorstaatlichen Ursprüngen bis zur Zerstörung Jerusalems und dem Anfang des babylonischen Exils im Jahre 587 v. Chr., gelegentlich etwas darüber hinaus. Wie man von der ersten Seite der Bibel an leicht erkennt, ist das Bild, das die Tradition vom alten Israel zeichnet, kein historisches. Es hat eine theologische Mitte, die alles zusammenhält. Diese theologische Mitte ist, grob gesagt, die Tora, das Gesetz des Mose. Julius Wellhausen (1844-1918) hat durch die literarische Kritik des Alten Testaments nachgewiesen, dass das mosaische Gesetz historisch nicht in die vorexilische, sondern in die nachexilische Epoche der israelitischen Religionsgeschichte gehört. Er hat damit im Alten Testament selbst den Unterschied zwischen altem Israel und Judentum entdeckt. Eine konsequente Unterscheidung steht bis heute aus.
Um sie methodisch kontrolliert durchzuführen, empfiehlt es sich, nicht von den literarischen Quellen, der Bibel, sondern von der externen Evidenz auszugehen, der Archäologie und dem religionsgeschichtlichen Vergleich. Eine Reihe neuer archäologischer, epigraphischer und ikonographischer Funde hat die von Wellhausen aufgeworfene Frage noch verschärft. Aufs Ganze gesehen scheint es so, dass sich das alte Israel in nichts von den benachbarten, in etwa gleichzeitig entstandenen syrisch-kanaanäischen Stadt- und Flächenstaaten der Aramäer, Ammoniter und Moabiter unterschieden hat. Auch zum religionsgeschichtlichen Vergleichsmaterial aus den altorientalischen Großreichen besteht kein fundamentaler Gegensatz, nur muss man sich alles sehr viel bescheidener vorstellen. Mit einem Wort: Was Archäologie und religionsgeschichtlicher Vergleich vor Augen führen, ist eine kanaanäische Kultur wie jede andere und nicht das Israel der Bibel, die im Gegenteil gegen alles polemisiert, was nur im entferntesten an das archäologische Israel erinnert.
Das Vorhaben besteht darin, die archäologischen und religionsgeschichtlichen Daten als Kriterien zugrunde zu legen, um in der literarischen Hauptquelle, dem Alten Testament, nach den Resten des alten Israel zu suchen, aus denen sich die jüdische Tradition entwickelt hat. Das Mittel dazu ist die religions- und literarhistorische Kritik des Alten Testaments. Sie zielt nicht auf die Frage, "ob die Bibel recht hat" oder nicht, sondern ist daran interessiert, das historische Rätsel zu verstehen, wie es in Israel trotz annähernd gleicher Anfangsbedingungen zu einer so gravierend anderen Entwicklung gekommen ist als z.B. in Moab oder Ammon. Das Rätsel wird sich nie ganz lösen lassen, doch kann man versuchen, die Übergänge so präzise wie möglich zu beschreiben.
2. Ein Fallbeispiel: Die Propheten
Als Beispiel bietet sich die Prophetenüberlieferung an, in der man den Ursprung der Tradition vermuten kann. Altorientalische Parallelen geben, soweit es die Quellen erlauben, Einblick in die Erscheinungsformen, die Inhalte und die Überlieferungsmodalitäten der Prophetie im syrisch-mesopotamischen Raum. Die inhaltliche Ausrichtung sowie die Frage der Überlieferung wird an zwei Beispielen (Zakir-Inschrift und Lachisch-Ostracon) demonstriert. Im Vergleich mit den biblischen Propheten fällt auf, dass die ao. Propheten niemals dem ganzen Staatswesen oder einem ganzen Volk den Untergang angedroht haben, sondern im Gegenteil, auch wenn sie Kritik am Königshaus übten oder vor bevorstehendem Unheil warnten, immer bemüht waren, das Unheil zu vermeiden. Zur Überlieferung von Prophetenorakeln bieten die ao. Parallelen praktisch keine Anschauung. Sie sind für den historischen Moment, nicht für die Ewigkeit aufgezeichnet.
Anders die Situation im Alten Testament. Hier dominiert die Ankündigung eines göttlichen Strafgerichts, das Prophetenbuch stellt die notwendigen Zusammenhänge im Nachhinein künstlich her: Die Überschriften der Bücher stecken den historischen Rahmen ab. Erst die Zusammenstellung und literarische Bearbeitung der Orakel verleihen ihnen eine Bedeutung über die historische Stunde hinaus als Wort Gottes für alle künftigen Generationen, die das Wort auf sich beziehen sollen. Die Übergänge und ihre historischen Hintergründe werden am Beispiel von Jesaja 8,1-8 und Amos 3,12-15 behandelt.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Kratz, Reinhard G. (Winona Lake, Indiana, 2006)
The second temple of Jeb and of Jerusalem
Kratz, Reinhard G. (Tübingen, 2004)
[Kleine Schriften] ; [1] ; Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels [Kleine Schriften] ; [1]
Kratz, Reinhard G. (Göttingen, 2003)
"Abraham, unser Vater" : die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam
Kratz, Reinhard G. (München, 2003)
Die Propheten Israels Beck'sche Reihe ; 2326
Kratz, Reinhard G. (Gütersloh, 2002)
Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie ; 22
Kratz, Reinhard G. (2000)
Kratz, Reinhard G. (2000)
Der literarische Ort des Deuteronomiums
Kratz, Reinhard G. (Berlin, 2000)
Schriftauslegung in der Schrift : Festschrift für Odil Hannes Steck zu seinem 65. Geburtstag Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft ; 300
Kratz, Reinhard G. (Göttingen, 2000)
Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments : Grundwissen der Bibelkritik UTB für Wissenschaft
Kratz, Reinhard G. (Göttingen, 2000)
Liebe und Gebot : Studien zum Deuteronomium ; [Festschrift zum 70. Geburtstag von Lothar Perlitt] Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments ; 190