Herbert Molderings, Dr. habil.
Autor und Privatdozent für mittlere und neuere Kunstgeschichte
Ruhr-Universität Bochum
Geboren 1948
Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Soziologie an der Rheinischen
Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und an der Ruhr-Universität Bochum
Arbeitsvorhaben
Marcel Duchamp - Henri Poincaré. Relativismus und Konventionalismus in Kunst und Wissenschaft
Marcel Duchamp gilt als Begründer einer künstlerischen Praxis, die dem Betrachter bei der Konstituierung von alltäglichen Objekten als Kunstwerken eine ebenso große Bedeutung beimisst wie dem Künstler selbst. Jeder Akt der Deutung von Kunst ist im Kontext einer derartigen Praxis stets eine Bestätigung beziehungsweise eine neue Behauptung bestimmter ästhetischer Konventionen. Das Projekt beinhaltet zum einen die quellenkritische Untersuchung der Frage, ob und inwieweit die relativistischen und konventionalistischen Strukturen des Duchampschen Kunstbegriffs auf die "konventionalistische" Theorie wissenschaftlicher Erkenntnis des Mathematikers Henri Poincaré zurückzuführen sind und zum andern eine vergleichende Betrachtung der Auswirkungen des relativistischen und "konventionalistischen" Denkens auf die naturwissenschaftliche und die künstlerische Produktion.Lektüreempfehlung
Molderings, Herbert. Marcel Duchamp. Parawissenschaft, das Ephemere und der Skeptizismus. Frankfurt a.M., 1983 (3. Aufl. Düsseldorf, 1997).
-. "Objects of Modern Skepticism." In The Definitively Unfinished Marcel Duchamp, herausgegeben von Thierry de Duve, 243-265. Cambridge, Mass.: MIT Press, 1991.
-. "Fahrrad-Rad und Flaschentrockner. Marcel Duchamp als Bildhauer. (The Bicycle Wheel and the Bottle Rack. Marcel Duchamp as Sculptor)." In Marcel Duchamp Respirateur, 119-169. Ostfildern, 1995.
Kolloquium, 27.05.2003
Marcel Duchamps "Readymades". Nicht-Euklidische und vierdimensionale Geometrie als Ausgangspunkte einer neuen Kunst
Die in den Jahren 1913 bis 1921 von dem französisch-amerikanischen Künstler Marcel Duchamp (1887-1968) realisierten "Readymades" haben den modernen Kunstbegriff im vergangenen Jahrhundert so tiefgreifend verändert wie keine andere künstlerische Erfindung. Sie stehen am Ursprung einer neuen bildkünstlerischen Sprache, der sog. "Objektkunst".
"Readymades" nannte Duchamp eine Gruppe von alltäglichen Gebrauchsgegenständen, deren Wahrnehmung er durch Dislozierung und Hinzufügung rätselhafter Titel verfremdet hatte. Nachdem die Künstler der Pop Art und des Nouveau Réalisme, der Concept Art und der Fluxus-Bewegung sie in den sechziger Jahren zu historischen Gründungswerke ihrer eigenen künstlerischen Bestrebungen erklärt hatten, wurden sie zunehmend zum Gegenstand strukturalistischer, rezeptionsästhetischer, linguistischer und institutionskritischer Theorien.
In auffälligem Kontrast zu der ständig wachsenden Fülle an ästhetischen Theorien des Readymades steht der Mangel an historischen Untersuchungen dieser Werke. Fragen nach ihrer geschichtlichen Genese, nach den materialästhetischen, bildtheoretischen, philosophischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen ihrer Erfindung sind nur selten gestellt worden.
Das Standardmodell zur historischen "Erklärung" der "Readymades" lautet, Duchamp habe als eine Art genialer "Proto-Dadaist" 1913-14 alltägliche Gebrauchsgegenstände in Kunstausstellungen auf den Sockel gehoben, um damit gegen den Elitismus einer vom Leben entfremdeten Kunst zu protestieren. Im Gegensatz zu dieser kanonischen Ansicht gilt es festzuhalten, dass diese Objekte bis auf eine einzige Ausnahme in der Zeit ihrer Entstehung nicht ausgestellt worden sind. Sie existierten jahrzehntelang allein in Duchamps Ateliers und wurden erst retrospektiv, mit einer Verzögerung von mehr als zwanzig Jahren, öffentlich ausgestellt (ohne jeden Skandal).
Wenn die Readymades ursprünglich nicht zum Ausstellen und Provozieren bestimmt waren, welche Funktion hatten sie für Duchamp? Wie kam es, dass er, anstatt weiter Bilder von Dingen auf Leinwand zu malen, 1913 die Dinge selbst als Bilder begriff? Diese Fragen suche ich in meinem Vortrag zu beantworten, indem ich mich auf die beiden ersten dreidimensionalen "Readymades", das "Fahrrad-Rad" von 1913 und den "Flaschentrockner" von 1914 beschränke.
Meine These lautet: Die "Readymades" waren ein Nebenprodukt von Duchamps Arbeit an dem großformatigen Bild auf Glas "Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar" (1912-1923), das den Versuch darstellte, die Malerei mit dem Raummodell der vierdimensionalen Geometrie in Übereinstimmung zu bringen. Duchamps Spekulationen über die Visualisierung des vierdimensionalen Hyperraums führten ihn zum Bruch mit der Malerei auf Leinwand und zur Idee, alle dreidimensionalen Gegenstände als "Projektionen" vierdimensionaler Entitäten zu betrachten. Damit war der Weg geöffnet, die Dinge nicht mehr flächig-malerisch oder körperlich-skulptural darzustellen, sondern die realen Dinge selbst als Repräsentationen, als Bilder, als Zeichen sichtbar und verstehbar zu machen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Molderings, Herbert (Köln, 2023)
Floating cities Charles Simonds - Floating cities
Molderings, Herbert (Köln, 2019)
Über Marcel Duchamp und die Ästhetik des Möglichen
Molderings, Herbert (München, 2012)
Die nackte Wahrheit : zum Spätwerk von Marcel Duchamp Gegeben sind 1. Der Wasserfall 2. Das Leuchtgas
Molderings, Herbert (New York, NY, 2010)
Duchamp and the aesthetics of chance : art as experiment Kunst als Experiment. Marcel Duchamps <engl.>
Molderings, Herbert (2009)
L´évidence du possible, surréalisme et photographie
Molderings, Herbert (2009)
Comment écrire l´histoire de la photographie?
Molderings, Herbert (Paris, 2009)
L' évidence photographique : la conception positiviste de la photographie en question Passages ; vol. 23
Molderings, Herbert (Hamburg, 2008)
Die Moderne der Fotografie [Fundus-Bücher] ; [167]
Molderings, Herbert ([s.l.], 2007)
The passengers : Moscow - Warsaw - Berlin - Paris - New York : Vernissage Veranstaltung des Wissenschaftskollegs
Molderings, Herbert (Paris, 2007)
L'art comme expérience : les 3 Stoppages étalon de Marcel Duchamp Passerelles