Grazyna Skapska, Ph.D.
Professor der Soziologie
Jagiellonian University in Kraków
Geboren 1949 in Krakau, Polen
Studium der Rechtswissenschaft und Soziologie an der Jagiellonian Universität Krakau
Arbeitsvorhaben
Zivilgesellschaft, Zivilcourage und das Recht auf Wahrheit
The collapse of dictatorial regimes extended debate on political power and civil society. The new concepts of political power emphasize its ability to control and to manipulate human consciousness and public discourse, to interpret meanings and to manipulate memory, to decide on what is true or false. The debates on civil society brought about new ideas on law and liberal rights, which are conceptualized not in technical and rational, nor in purely negative and individualistic terms, but rather as positive rights of active citizens, based on their moral attitudes and their feelings about justice and dignity, supported by their civic bonds. Looked upon from the perspective of the past abuse of social consciousness and collective memories, as well as from the present efforts to learn and understand the past, the concept of civil society is linked to active individual and collective courage to face past human rights abuse, to debate it publicly, and eventually to compensate past wrongs.Hence, one of the most important dimensions of civil society is the growing sensitivity to the control of meanings and of memories - collective as well as individual - and the courage to investigate past human rights abuse, i.e., civil courage. The aim of this project is to investigate the various forms of such civil courage and their impact on the formation of the new democratic and civic rights. The most important of the new rights on which this research focuses is the newly emerging right to truth. The truth, in the best traditions of the Central European dissidents movements, is not only an individual right, but also the foundation of a political order linking a liberal conception of individual rights with the republican idea of how these rights are interlinked with the public and political sphere.
Recommended Reading
Skapska, Grazyna. "Law, Rights and Democracy after Totalitarianism." In Pluralism and Law, edited by A. Soeteman. Kluwer Aacademic Publishers, 2001.
-. "Between 'Civil Society' and 'Europe': Post-Classical Constitutionalism after the Collapse of Communism in a Socio-Legal Perspective." In The Rule of Law in Central Europe, edited by J. Priban, J. Young. Ashgate, Socio-Legal Studies Series, 1999.
-. "From Rights to Myths. Transformation in Post-Communist Europe." In Western Rights? Post-Communist Application, edited by A. Sajo. Kluwer Academic Publishers, 1996.
Kolloquium, 15.04.2003
Die Wahrheit über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit: ein Beitrag zur Kritischen Theorie
Der eigenen Geschichte ins Angesicht zu blicken, ist eine Pflicht sowohl für Nationen als auch für Individuen. Amnesie ist eine Tragödie, freiwillige Amnesie ein schweres Vergehen.
Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis (1992)
Die einzigartige, explosive, unberechenbare politische Kraft eines Lebens in der Wahrheit liegt darin, dass ein offenes Leben in der Wahrheit einen Verbündeten hat, der sicherlich unsichtbar ist, aber dennoch omnipräsent: die verborgene Sphäre der authentischen Existenz. Aus dieser Sphäre erwächst das offene Leben in Wahrheit; zu dieser Sphäre spricht es und dort wird es verstanden. Genau dort gibt es auch das Potential für Kommunikation. (...) In der Wahrheit zu leben, ist die Auflehnung der Menschheit gegen eine aufgezwungene Meinung, ist (...) der Versuch, die Kontrolle über das eigene Verantwortungsgefühl zurück zu gewinnen.
Vaclav Havel, The Power of the Powerless (1986)
Dort entsteht ein neues Menschenrecht: das Recht auf Wahrheit.
Juan E. Mendez "An Emerging Right to Truth: Latin America"
(unveröffentlichtes Papier, 1999)
Diese drei Zitate - von einem Historiker, einem ehemaligen Dissidenten, der Präsident wurde, und einem Rechtsanwalt (der Geschäftsführer des Inter-American Institute of Human Rights) weisen auf einen Bereich sozialer Existenz und auf die Dimensionen eines sozialen Phänomens, die selten, wenn überhaupt, von den Sozialwissenschaften erforscht werden. Damit ist jener Kommunikationsbereich gemeint, in dem es um von diktatorischen Regimes begangene schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen geht, ein Bereich, in dem die Annäherung an eine solche Vergangenheit institutionalisiert wird, und zwar in Form von verschiedenen gesetzlichen oder 'transitorischen' gesetzlichen Institutionen, die die vergangenen Verbrechen untersuchen und verfolgen, kontrollieren und sühnen, die die öffentliche Debatte und öffentliche Abrechnung ermöglichen und fördern. Diese Institutionen verkörpern eine ansonsten verborgene Dimension gesellschaftlicher Struktur und gesellschaftlicher Veränderung - die moralische Dimension. Istvan Pogany, Autor verschiedener Bücher zu den Menschenrechten in Osteuropa, bemerkte 1997: "Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist eine lebenswichtige Erfahrung für traumatisierte Gesellschaften und Individuen, und die Voraussetzung dafür, dass man voran kommt."
Die Wahrheit und ihre Institutionalisierung
Mein Projekt geht von drei grundsätzlichen Thesen aus. 1. Jede soziologische Untersuchung der Wahrheit, die sich auf schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit bezieht, ist de facto eine Untersuchung der Gesellschaft selbst wie auch des täglichen Lebens der ganz gewöhnlichen Bürger und der Regeln gesellschaftlicher Kommunikation. Insofern spiegelt die öffentliche Debatte über vergangene Menschenrechtsverletzungen und die Art und Weise, wie die Menschen damit fertig werden, auch die Erfahrungen der Opfer, der Familien der Opfer und der Täter. Wir haben es hier mit einer Wahrheit zu tun, die aus der Erforschung dieser verschiedenen Erfahrungen entsteht und die nicht nur den Regeln der politischen und gesetzlichen Institutionalisierung unterworfen ist, sondern die - wie auch die Art, in der darüber geredet wird - durch tief verwurzelte, verborgene Ideologien, Religion und Kultur bestimmt wird. Sie sind dafür verantwortlich, wie eine Gesellschaft sich selbst wahrnimmt und in welcher Weise Begriffe wie historische Wahrheit, Verbrechen, Schuld, Scham und Menschenrechtsverletzungen interpretiert werden. Daher dreht sich meine Studie um die verschiedenen soziologischen Wahrheiten, die bei der Bewältigung vergangener Verbrechen an die Oberfläche kommen, und um die Manipulation von Bedeutungen, die tief verwurzelten Stereotypen und sogar Archetypen, die zur Rekonstruktion der Vergangenheit angewandt werden - und die die Vergangenheit verzerren.
Moralische Momente im gesellschaftlichen Leben
2. Da die 'Wahrheit' über die Vergangenheit mit der Alltagserfahrung der gewöhnlichen Menschen so eng verwoben ist (z. B. das lange Zusammenleben von Opfern und Tätern), ist sie gleichzeitig auch eine Wahrheit über alltäglichen Opportunismus, Feigheit und die Duldung von Menschenrechtsverletzungen, doch ebenso auch eine Wahrheit über die Zivilcourage der gewöhnlichen Menschen, diesen Helden der Weltgeschichte, die niemals besungen worden sind. Daher ist die gesellschaftliche Abrechung mit der Vergangenheit in Form einer öffentlichen Debatte und die Institutionalisierung der Suche nach der Wahrheit ein "moralisches Moment" im Leben der heutigen Gesellschaften. Die Wahrheit über vergangene Menschenrechtsverletzungen hat transformierende, sogar emanzipatorische Auswirkungen: sie erschüttert Tabus und enthüllt stereotypes Denken, kollektive Heuchelei, Macht und Unterdrückung. Sie bietet der gesamten Gesellschaft die Möglichkeit eines breit angelegten Lernprozesses bezüglich ihrer Identität. Sie zeigt den 'Anderen', der auch in 'Uns' ist, und verschafft den Menschen auf diese Weise die Fähigkeit, eine kritische Haltung gegenüber sich selbst und ihren Institutionen einzunehmen. Da Selbstkritik nicht nur eine bescheidene Haltung, sondern auch eine erniedrigende Erfahrung sein kann, brauchen die Gesellschaften, die sich diesem schmerzhafte Prozess unterziehen, eine großes Maß an Zivilcourage. Doch dieser Prozess ist nicht nur für die Entwicklung jener Sozialwissenschaften notwendig, die von Ideologien der Unterdrückung verdreht und verbogen wurden, sondern auch die Sozialwissenschaftler, die in sie verwickelt waren.
Beitrag zur Kritischen Theorie
3. Die Forschung zu einem neu entstehenden Recht auf Wahrheit trägt auch zur Entwicklung der Kritischen Theorie bei, wie sie von zeitgenössischen Philosophen wie Jürgen Habermas fortgeführt worden ist. Sie konzentriert sich vollkommen auf das menschliche Bewusstsein, auf Moral, Kultur und Kommunikation bei der Institutionalisierung eines Rechts auf Wahrheit; sie fügt den Begriffen wie diskursive Wahrheit, gesellschaftliche Kommunikation und gesellschaftliche Emanzipation die Alltagerfahrungen der gewöhnlichen Menschen hinzu. In meinem Projekt möchte ich versuchen, die Kritische Theorie auf Themen wie Demokratie, Macht, Rechstaatlichkeit und die neue Konzeption sozialer Identität nach dem Zusammenbruch der Unterdrückungsregimes auszudehnen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Skapska, Grazyna (2003)
Moral definitions of constitutionalism in east central Europe : facing past human rights violations
Skapska, Grazyna (2003)
Moral definitions of constitutionalism in east central Europe : facing past human rights violations
Skapska, Grazyna (2003)
Skapska, Grazyna (Leiden [u.a.], 2003)
The moral fabric in contemporary societies The annals of the International Institute of Sociology ; N.S., 9
Skapska, Grazyna (2001)
Skapska, Grazyna (Budapest, 1997)
The paradigm lost? : the constituional process in Poland and the hope of a 'grassroots constitutionalism' ; delivered at Collegium Budapest Budapest, March 6, 1997 Discussion paper series / Collegium Budapest, Institute for advanced Study ; 41