Egon Flaig, Dr. phil.
Professor der Altertumswissenschaften
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Geboren 1949 in Gronau (Württemberg)
Studium der Französischen Sprache, Geschichte und Philosophie in Stuttgart, Paris II und an der FU-Berlin
Arbeitsvorhaben
Geschichte der Römischen Republik 202-27 v. Chr.
1. Eine minimal narrative, maximal diskursive Darstellung, wie ein politisches System sich transformierte2. Eine Kombination von Sozialgeschichte und Kulturgeschichte bourdieuscher Prägung
a. Untersuchung, wie die politischen Institutionen immer weniger die Zunahme außerinstitutioneller Macht kompensieren konnten
b. Die kulturellen Mechanismen, mit denen eine herrschende Klasse versuchte, ihren "Klassenhabitus" zu stabilisieren und die Interaktion mit den Beherrschten semiotisch zu regeln (kollektive Rituale)
c. Die analytische Auflösung institutioneller Prozesse in Praxeologie: Gesten und Performanzen auf dem politischen Feld (politischer Semiotik)
3. Geschichtstheoretische Auseinandersetzung mit anderen Darstellungen
Lektüreempfehlung
Flaig, Egon. Den Kaiser herausfordern: Die Usurpation im Römischen Reich. Frankfurt und New York: Campus, 1992.
-. Ödipus: Tragischer Vatermord im klassischen Athen. München: Beck, 1998.
-. Ritualisierte Politik: Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2003.
Kolloquium, 18.11.2003
Die Mehrheitsentscheidung. Politische Risiken und kulturelle Dynamik
1. Besonderheit der Mehrheitsregel und warum sie überwiegend vermieden wird
2. Eine Problemgeschichte des Konsensprinzips: Um das Thema zu entideologisieren
3. Neue Forschung zum Konsensprinzip: Intensität und vertagte Gegenleistung
a) Funktionsweise des Konsensprinzips
b) Nachteile des Konsensprinzips
4. Die Scharnierstelle finden: Varianten des Konsensverfahrens und Wege zur Mehrheitsentscheidung
5. Schnelligkeit des Entscheidens und Ausweitung des Politischen
6. Risiken der Mehrheitsentscheidung in einer Versammlungsdemokratie (face-to-face)
a) Polarisierung
b) Dysfunktionalitäten
c) Forschungsthema: Wie gelingt es, den Konflikt zu entschärfen
7. Kulturelle Dynamiken:
a) Das Politische als ein genuin eigener Raum
b) Extremer Institutionalisierungsschub
b) Extremer Institutionalisierungsschub
c) Adaptierte Verhaltensdispositionen
d) Ein neuer intellektueller Habitus
e) Verfügung über die Ordnung
f) Theoretische Reflexion über das Politische
g) Ausdifferenzierung von intellektuellen Feldern
8. Was ich vorhabe - in 5 Punkten
Gelegentlich bekommen wir im Fernsehen zu sehen, wie ein Parlament einen wichtigen Beschluß faßt. Wir können dabei gelegentlich sehen, wie 242 Hände hochgehen; und dann nach einer Weile 195 Hände. Und dann ist eine Entscheidung gefallen, die womöglich 80 Mio Menschen betrifft. Nichteuropäisch geprägte Ethnologen - hätte es sie je gegeben -, wären verwundert gewesen über dieses Spiel mit den Händen. Ein seltsames Ritual. Denn die Parlamentarier hatten ja überhaupt keinen Konsens erreicht. Und trotzdem soll dieses Händespiel zu einem Beschluß geführt haben, der für alle gilt. Wie kann das gutgehen? Und welche kulturellen Bedingungen sind dafür notwendig?<br>
Die Mehrheitsregel als Prinzip zur Herbeiführung von Entscheidungen wurde in der griechischen Kultur nicht erfunden;1 aber dort wurde sie in einer umfassenden und systematischen Weise, welche einmalig geblieben ist, zum Prinzip, um den Gesamtwillen einer Gruppe, bzw. einer Gemeinschaft zu ermitteln.2
1. Besonderheit der Mehrheitsregel und warum sie überwiegend vermieden wird. <br>
Diese tendenziell schrankenlose Anwendung ist erstaunlich - schon allein wegen der Implikate:
1. Die Mehrheitsregel erachtet alle Stimmen als gleichwertig. Das setzt eine Abstraktion von sämtlichen konkreten Beziehungen voraus, in denen ein Entscheidungsteilnehmer steht: a) egal ob jemand 1,70 groß ist oder 1,90; ob er dick ist oder dünn; b) es ist egal ob er aus einer vornehmen Familie kommt oder nicht, egal ob diese Familie reich ist oder nicht, ob sie politisch einflußreich ist oder überhaupt nicht, c) es ist auch egal, welche Schulbildung er hat, ob er überhaupt lesen kann, d) ja sogar ob er 60 Jahre alt ist oder nur 30, e) und es ist egal, welchen Beruf er ausübt, ob er arbeitslos ist oder nicht, ferner ist es egal, ob er verheiratet ist, ob er Kinder hat oder nicht. f) es ist sogar egal, was er selber schon geleistet hat und welches individuelle Ansehen ihm zusteht. Die Mehrheitsregel macht alle Stimmberechtigten radikal gleich. Das Ausmaß dieser Gleichheit ist desto abstruser, je größer die sozialen, ökonomischen und kulturellen Differenzen zwischen den Stimmberechtigten sind. Diese Gleichheit ist mitnichten bloße Fiktion, denn sie hat handfeste reale Konsequenzen, nämlich Beschlüsse. Aber sie gilt nur in einer definierten Sphäre des sozialen Lebens, nämlich im politischen Raum (dazu weiter unten: 7a).
2. Die Mehrheitsregel erfordert keine Demokratie, sondern lediglich Gleichheit innerhalb der Gruppe der Entscheidungsteilnehmer - daher kann die Mehrheitsregel auch in aristokratischen Gemeinwesen auftreten, freilich nur dann, wenn die betreffende Führungsschicht nicht rangmäßig stratifiziert ist. Aus diesem Grunde kann in stark hierarchisierten Gesellschaften oder Gruppen die Mehrheitsregel sich nicht durchsetzen (so z. B. in Rom). Doch der Umkehrschluß ist nicht möglich; Gleichheit ist zwar notwendige aber nicht hinreichende Bedingung für die Anwendung dieser Regel. Denn die meisten Kulturen vermeiden sie - sogar solche, die noch deutlicher politische Gleichheit praktizieren als die Griechen - z. B. viele ostafrikanische oder nordamerikanische Ethnien.3 Warum?
Die Mehrheitsregel verzichtet auf die Zustimmung aller zur Option, die für alle verbindlich sein soll. Hier steckt der Haken des Mehrheitsprinzips, der Grund, weshalb bei fast allen Systemen, die der Politischen Anthropologie bekannt sind, die Mehrheitsregel nicht zu finden ist. Daß die Stimmen der Minderheit ganz einfach verlorene Stimmen sein sollen, ja daß die Option der Minderheit schlicht übergangen wird, das war für die Tupinambà in Südbrasilien ebenso wie für die Karimoyong in Uganda eine Ungeheuerlichkeit, eine politische Undenkbarkeit.4 Aber nicht für die Griechen. <br>
Warum kommen die Griechen hier ins Spiel? Weil nirgendwo, in keiner anderen vorindustriellen Kultur die Mehrheitsregel so umfassend und so systematisch angewandt worden ist wie in den griechischen Poleis, in der cité grecque, in the Greek City. Das älteste Dokument der Menschheit, in welchem die Mehrheitsregel genannt wird, ist ein poetischer Text aus dem 8. Jh. v. Chr.; es das homerische Epos von der Heimkehr des Odysseus. Im 24. Gesang dieses Epos beschreibt der Dichter wie eine Volksversammlung darüber berät, ob man den Massenmörder Odysseus bestrafen soll. Doch die Volksversammlung ist unfähig, einen gemeinsamen Beschluß zu fassen. Nach drei kontroversen Reden spaltet sich die Versammlung:
So sprach er. Die aber sprangen auf mit großem Geschrei, /
mehr als die Hälfte - die anderen aber blieben versammelt am Orte -/
denn ihnen gefiel die Rede nicht in ihrem Sinne, sondern sie folgten/
dem Eupeithes und stürmten alsbald zu den Waffen (Odyssee XXIV, 463-466)
Hier zum erstenmal in der Weltgeschichte findet sich die Mehrheit als Kriterium für die Bildung eines Gesamtwillens - vom Dichter formuliert in wunderbarer Präzision. Der Dichter mißt die Volksversammlung an ihrer Fähigkeit, die Mehrheit zum Kriterium ihres Handelns zu machen. Doch die Fassung eines Beschlusses scheitert, weil die Gemeinde unfähig ist, sich zu einigen. Dabei ergeben sich bereits hier 2 Wege: Abstimmung nach der Lautstärke, das passierte in Sparta (die Lautstärke mißt die eher die Intensität des Willens als die Anzahl der Optierenden); Abstimmung nach der Größe der Parteien (beim Auseinandertreten), diesen Weg gingen alle anderen griechischen Städte (Intensität ist hier überhaupt kein Kriterium, nur die Anzahl).
2. Eine Problemgeschichte des Konsensprinzips: Um das Thema zu entideologisieren
Die Frage nach der Entscheidungsregel ist in den letzten dreißig Jahren deswegen so dringlich geworden, weil die Menschheit sich in einem besonderen weltgeschichtlichen Stadium befindet: politische Institutionen haben die Chance, sich zu globalisieren. Und genau in diesem Moment scheint uns die Mehrheitsentscheidung abhanden zu kommen. Denn Multikulturalismus und Kommunitarismus können die Mehrheitsregel per se nicht akzeptieren.
Wenn die Mehrheitsentscheidung problematisch wird, sind neue Erörterung fällig. Wir benötigen eine Untersuchung der kulturellen Bedingungen und Konsequenzen der Mehrheitsregel. Der erste Schritt für eine solche Untersuchung ist eine 'Problemgeschichte':5
a) wie es kommen konnte, daß die Einstimmigkeitsregel (Konsensprinzip) schließlich als "primitiv" qualifiziert wurde;
b) wie die Disqualifizierung des Konsensprinzips, d.h. der Einstimmigkeitsregel, den Weg zu einer komparatistischen Analyse der Genesis der Mehrheitsentscheidung versperrte.6
Am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jhs. hat eine besondere Strömung der historischen Forschung die Mehrheitsentscheidung ideologisiert und das Konsensprinzip als primitiv abqualifiziert.7 Jene Autoren gehen davon aus, daß das Konsensprinzip einer "primitiven" Gemütslage entspreche: erstens kennten die sogenannten "Primitiven" keinen Individualismus, und folglich gäbe es zweitens bei ihnen nur eine "Gemeinschaft", die den einzelnen erdrückte, keine "Gesellschaft" von Individuen (Ferdinand Tönnies).8 Diese "mental-evolutionistische" Theorie der Entstehung der Mehrheitsentscheidung taucht in den althistorischen Forschungen immer wieder auf; erst kürzlich wieder in einem Buch über Entscheidungen in Griechenland (F. Ruzé). Wir müssen uns davon verabschieden. Die Ethnologie hatte wenig Mühe, aufzuzeigen, daß es keine Kultur ohne ausgeprägte "Individualität" gibt, auch wenn die Individualisierung sich jeweils anderen Gebieten vollzieht. Die sogenannten "organischen Gemeinschaften", gibt es nirgends und haben nirgends existiert; auch Familienverbände sind keine solchen. Wenn aber diese Erklärung des Konsensprinzips falsch ist, dann ist auch die sich daraus ergebende Ableitung des Mehrheitsprinzips falsch. Nun steht der politischen Anthropologie heute eine sehr große Materialmenge zur Verfügung, die Aufschlüsse über die Entscheidungsprozesse unterschiedlichsten Kulturen gibt; und in der Tat herrscht weit überwiegend das Konsensprinzip vor. Aber es scheinen mehrere Wege zur Einmütigkeit zu führen, und manche davon sind von der Mehrheitsentscheidung nicht weit entfernt.
3. Neue Forschung zum Konsensprinzip: Intensität und vertagte Gegenleistung
a) Funktionsweise des Konsensprinzips
Für die Politologie ist das Konsensprinzip kein unerklärliches Problem mehr.9 Man kann heute exakt die Bedingungen angeben, die das Funktionieren der Einmütigkeitsregel ermöglichen.10 Der Schlüssel zum Verständnis des Konsensprinzips ist erstens die Kategorie der Intensität, zweitens die vertagte Gegenleistung.
Ich vereinfache, um schneller zu den Griechen zu kommen:
Die Präferenzen der Entscheidungsteilnehmer sind in der politischen Realität fast niemals gleich stark. Wenn eine kleine Gruppe für die Option A eintritt, aber intensiv, eine größere dagegen für die Option B, aber nur halbherzig, dann wird der Konsens dadurch erreicht, daß die laue Mehrheit der intensiven Minderheit nachgibt; das kann sie, weil ihre Präferenz schwächer ist.11 Daraus ergibt sich:
Das Konsensprinzip erfordert von allen Entscheidungsteilnehmern eine "Disposition des Nachgebens". Diese Disposition fällt nicht vom Himmel. Sie erfordert mindestens 2 Bedingungen:
a) Diese Disposition muß durch eine intensive politische Sozialisation trainiert werden. Nachgeben ist eine Kunst - und zwar politisches Nachgeben, in einer spezifischen Öffentlichkeit und ohne Gesichtsverlust; es hat in strengen performativen Akten zu erfolgen, die eingeübt werden müssen.
b) Diese Disposition muß sozial erfolgreich sein. Wenn der Nachgebende benachteiligt wird, dann ist es mit dem Nachgeben schnell vorbei. Der Nachgebende muß damit rechnen können, erstens, daß ihm sein Nachgeben nicht als Schwäche oder als Niederlage ausgelegt wird,12 zweitens daß bei der nächsten Gelegenheit, sobald er eine Option intensiv vertritt, die anderen ihm nachgeben. Also ist die Disposition des Nachgebens dann sozial erfolgreich, wenn das "Prinzip der vertagten Gegenleistung" - "diesmal gewinnst Du Vorteile, das nächstemal ich" - von allen Entscheidungsteilnehmern dauerhaft und zuverlässig respektiert wird.13
Daraus wird ersichtlich, daß das Konsensprinzip am besten in kleinen Gruppen funktioniert, wo alle einander gründlich kennen.14
Worin besteht der Vorteil des Konsensprinzips? Ganz einfach: alle Teilnehmer spielen ein Positivsummen-Spiel, d.h. es gibt keine Verlierer bei den einzelnen Entscheidungen. Durch vertagte Gegenleistungen gewinnen alle, und keiner verliert - im Idealfalle.15 Die Risiken, die aus dem Entscheidungsverfahren für den politischen Zusammenhalt der Gruppe entstehen - und diese Risiken will ich Entscheidungsrisiken nennen,16 die sind so gut wie null.
Und genau das ist völlig anders beim Mehrheitsprinzip. Die Mehrheitsregel tendiert - unter ungünstigsten Umständen - dazu, ein Nullsummen-Spiel zu werden: eine Seite gewinnt, die andere verliert.17
b) Nachteile des Konsensprinzips
Die Nachteile des Konsensprinzips sind die hohen Entscheidungskosten.
Anders gesagt: der Aufwand an Zeit, an Rhetorik, an Gesten und Beschwörungen des guten Willens kann bisweilen enorm ansteigen; und das geschieht, sobald mehrere Gruppenmitglieder ihre Präferenzen mit gleicher Intensität vertreten. Dazu kann es beispielsweise kommen, wenn ein Mord zu sühnen ist und die Verwandten des Mörders möglichst ungeschoren davonkommen wollen. Wenn dann keine Seite der anderen nachgibt, stundenlang oder gar tagelang, dann benötigt die Regelung einen enormen Aufwand an Rhetorik und an Zeit. Eventuell kommt es zu einem Kompromiß, den eigentlich keine Seite will; und schlimmstenfalls ist die Gemeinschaft unfähig einen gemeinsamen Willen zu bilden; damit lähmt sie sich; und vielleicht bricht sie auseinander.
Die Entscheidungskosten sinken, wenn die Gruppe der Entscheidungsträger ethisch sehr homogen und ihr Zusammenhalt sehr fest ist. Daher ist die Herstellung von Homogenität in vielen Gemeinschaften eine politische Aufgabe allerersten Ranges.18 Das hat beträchtliche kulturelle Konsequenzen.19
4. Die Scharnierstelle finden: Varianten des Konsensverfahrens und Wege zur Mehrheitsentscheidung
Warum dieser Umweg zur Soziologie und zu den Befunden der Politischen Anthropologie? Weil ich ein differenziertes Inventar davon benötige, wie das Konsensprinzip in unterschiedlichen Kulturen funktioniert; dieses Inventar hilft mir, diejenige Variante zu finden, welche zum Mehrheitsprinzip führt.20
Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten:
a) Die Gesamtgruppe erreicht den Konsens, weil sie diejenige Option annimmt, die mit der höchsten Intensität vertreten wird; die gesamte Gruppe verläßt sich auf das Prinzip der vertagten Gegenleistung. Alle befürworten den Beschluß und sind willens ihn durchzusetzen. In diesem Falle ist das politische Optimum erreicht.
b) Der Konsens verbirgt einen Kompromiß. Folglich ist kein Konsens auf der Basis einer der Optionen zustande gekommen, sondern höchstens ein Ausgleich zwischen den Optionen. Keine Seite hat die Option der anderen angenommen, sondern mehrere Gruppierungen haben ein bißchen nachgegeben und sind ein bißchen stur geblieben. Drei Nachteile: 1. Meistens sind das die sachlich schlechtesten Lösungen; 2. Da die Gruppe der Entscheidungsteilnehmer sich nicht darauf einigen kann, die intensiv vertretene Präferenz einer Fraktion anzunehmen, einigt sie sich auf eine Option, die mit den eigenen Präferenzen noch irgendwie vereinbar scheint; folglich vertritt keine Seite diese Option intensiv, denn keine hat sie eigentlich gewollt; 3. das Prinzip der vertagten Gegenleistung versagt, denn die Gegenleistung erfolgte ad hoc, nicht vertagt. Daraus ist zu ersehen, daß das Konsensprinzip nicht mehr oder nur noch bedingt funktioniert. Eine solche Gemeinschaft ist weniger handlungsfähig als die erste.21
c) Der Konsens kommt zustande, weil der geringere Teil sich dem größeren anschließt. Wie sieht das aus? Nach langer Diskussion ergibt sich ein Übergewicht eines Teils. Wird das Übergewicht deutlicher, dann kommt der Moment, wo der kleinere Teil der Gruppe zeremoniell erklärt, daß er sich nun dem größeren Teil anschließt (in japanischen Dorfversammlungen liegt die Schwelle bei 70%).22 Die ‚Minderheit' tritt also nachträglich in die Reihen der ‚Mehrheit' ein. Wird dieses Verhalten der ‚Minderheit' regelmäßig erwartet, dann ergibt sich eine regelrechte ‚Folgepflicht'. Diese Folgepflicht kann zur expliziten Norm werden; das ist sie spätestens dann, wenn sie verschriftlicht wird. Die Folgepflicht wird in Texten des europäischen Mittelalters oft erwähnt, aber selten begründet (im 13. Jh. im ‚Schwabenspiegel'). Hingegen begründen manche Ordensstatute buddhistischer Klöster (nachweisbar in Indien und Japan) die Folgepflicht mit ethischen und politischen Argumenten (z.B. mit einer größeren Weisheit der Mehrheit); damit wurde individuelles Charisma radikal aus der ‚politischen' Sphäre im Kloster ausgeschlossen.23 ang nicht nur als verbindliche Norm vorgeschrieben, sondern auch ethisch begründet. In Japan breitete sich die Folgepflicht im Spätmittelalter geographisch und sozial aus: Kriegerbünde, Stadtbezirke, Dörfer, Berufsverbände verlangten, daß auf den Versammlungen die Minderheit der Mehrheit zu folgen habe.24 (Von allen außereuropäischen Kulturen hat die japanische am schnellsten auf die Herausforderung des Westens reagiert. Lag das an ihrer Fähigkeit, ihre politische Organisationskompetenz schnell zu steigern?)
Die dritte Variante (c) ist historisch die interessanteste. Denn in dieser Variante wird das Prinzip der Intensität aufgegeben - und zwar in dem Augenblick, wo es anfängt, kontraproduktiv zu werden, weil beide Intensitäten gleich stark sind. In diesem Augenblick ergeben sich 2 Wege. Diese Alternative ist von zentraler Wichtigkeit in der Politischen Anthropologie; und es ist von welthistorischer Bedeutung, welcher Weg nun eingeschlagen wird:
1) Die Gruppe trifft einfach keine Entscheidung; sie geht unbefriedigt auseinander; weil das Nicht-Entscheiden eine Situation ist, die keiner gewollt hat. Wiederholt sich das mehrmals, dann führt das dazu, daß diese Gruppe über brisante Themen nicht mehr politisch beschließt. Sie verliert ihre politische Handlungsfähigkeit; tendenziell hört sie auf, eine polititische Gemeinschaft zu sein - sie verliert die Fähigkeit, Krieg zu führen (denn ihre Teile handeln ja auf eigene Faust).
2) Die gesamte Gruppe wechselt ab einem bestimmten Augenblick den Maßstab. Nicht mehr die Intensität des Willens gilt, denn die ist hüben wie drüben gleich stark, weshalb sie keine Differenz anzeigt. Stattdessen gilt ein anderes quantitatives Kriterium (qualitative Kriterien scheiden hier a priori aus), nämlich die Stärke der jeweiligen Gruppierung. Der Wille, gemeinsam handlungsfähig zu bleiben, ist in diesem Falle größer als der Wille, den anderen nicht nachzugeben. Anders gesagt: kollektive Werte und Normen, die auf die Gemeinschaft bezogen sind, sind hier erheblich stärker als oben. Eine solche Gruppe kann ihre Handlungsfähigkeit - unter Umständen enorm - steigern.
In welcher Beziehung steht nun die Variante c) zur Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung? Prinzipiell läßt sich sagen: Wenn die schwächere Seite nachgibt, weil die stärkere Seite numerisch stärker ist, dann befindet man sich auf der Schwelle zur Mehrheitsentscheidung. Aber was geschieht, wenn ein Teil der Minderheit einfach nicht Folge leisten will? Dann kollidieren Normen, weil sich die Konzeptionen des Politischen widersprechen: Die Minderheit klammert sich an das Prinzip, daß für sie nur gilt wozu sie selber zustimmt; die Mehrheit pocht auf die Pflicht zu folgen. Tatsächlich kam es deswegen - in unterschiedlichsten Kulturen und zu unterschiedlichsten Epochen - bisweilen zu Auseinandersetzungen, wobei Gewalt angewandt wurde: Sowohl bei mitteleuropäischen Adelsversammlungen als auch bei den Volksversammlungen von Schweizer Kantonen nötigte man dissentierende einzelne mit physischer Gewalt dazu, in den Konsens aller einzustimmen. Die Folgepflicht schlug in Folgezwang um.
Solche Konfrontationen verleiteten manche Soziologen dazu, die Mehrheitsentscheidung aus dem Konflikt herzuleiten. In klassischer Weise hat das Georg Simmel behauptet: für ihn ist die Abstimmung mit den Händen eine simulierte Konfrontation - die erhobenen Hände zeigen, hinter welcher Meinung die größere physische Macht steht: "Die Abstimmung dient dem Zwecke, es zu jenem unmittelbaren Messen der Kräfte nicht kommen zu lassen, sondern dessen eventuelles Resultat durch die Stimmzählung zu ermitteln, damit sich die Minorität von der Zwecklosigkeit eines realen Widerstandes überzeugt". Diese Theorie fand Anklang besonders in der französischen Geschichtsforschung. Gustave Glotz erklärte 1928 damit die Entstehung des griechischen "Stadtstaates" (Cité grecque).
Doch das heißt die Ursache mit der Wirkung vertauschen. Die Konfrontation ergab sich ja allererst daraus, daß die Folgepflicht nicht erfüllt wurde; die Nichterfüllung provozierte den Zwang. Es ist aber historisch richtiger und einfacher, die Mehrheitsentscheidung aus dem Folgezwang herzuleiten.25 Hier berühren wir den Kern der demokratischen Legitimität überhaupt, d.h. des politischen Gehorsams in einer Demokratie. Wenn dieser Zwang nicht legitim ist, dann ist die Demokratie eine illegitime Herrschaftsform. Es darf daher nicht verwundern, daß in mehrere Kulturen die Folgepflicht in schriftlicher Form verankerten und sie so zu einer förmlichen und institutionalisierten Folgepflicht machten. Bei dieser Verschriftlichung hat Japan sogar einen zeitlichen Vorsprung vor Mitteleuropa. Freilich passierte es in Europa, daß ganze politische Einheiten diese Entscheidungsregel in ihre Statuten aufnahmen: Die Volksversammlung des Kantons Glarus in der Schweiz beschloß am 11. März 1387, daß die Minderheit der Mehrheit folgen mußte, außer bei bestimmten Themen.26
Solange eine Folgepflicht gilt, wird die Option der stärkeren Seite erst dann zum gültigen Beschluß, wenn die Minderheit sich explizit anschließt. Trotzdem nennen manche Autoren den Folgezwang eine "verdeckte Mehrheitsentscheidung".27 Und das ist großenteils richtig.
Zur puren Mehrheitsregel gelangt man, wenn eine Gemeinschaft auf den feierlichen Beitritt der Minderheit in die Reihen der Mehrheit verzichtet. Vielleicht, weil er dermaßen erwartbar geworden ist, daß man ihn als eine überflüssige Formalität empfindet. In diesem Fall ist die Option der Mehrheit verbindlich, obwohl die Minderheit nicht zustimmt. Der Beschluß gilt einfach dann, wenn festgestellt wird, wo die Mehrheit liegt. Damit entfällt ein Teil des Verfahrens. Aber damit ist der Konsens kein Ziel mehr. Und dann verändert sich das Verfahren selber. Wenn die Minderheit sich daran gewöhnt hat, einem Beschluß zu folgen, obwohl sie nicht zugestimmt hat, verändert sich die Modalität des politischen Gehorsams. Die Redner müssen dann gar keine Rücksicht mehr nehmen auf die gute Stimmung innerhalb der Versammlung; denn sie können blind davon ausgehen, daß die Minderheit den Beschluß mitträgt, obwohl sie dagegen gestimmt hat. Das taktische Verhalten der Redner kann sich nun erheblich ändern. Denn nun wird es zum unverhüllten Ziel, so schnell wie möglich eine Mehrheit für den eigenen Antrag zu erreichen.
5. Schnelligkeit des Entscheidens und Ausweitung des Politischen
Wenn eine Gemeinschaft einen Beschluß fassen kann ohne einen Konsens erreicht zu haben, dann gewinnt sie viel Zeit. Die Mehrheitsregel erlaubt demnach, das Entscheiden außerordentlich zu beschleunigen. Dieser Aspekt ist in der historischen Forschung nicht beachtet worden. Diese akzelerierte Willensbildung kann aber nicht ohne Rückwirkung auf die Politik in den griechischen Poleis geblieben sein:
- das bedeutet, daß die Handlungsfähigkeit der Bürgerschaft deutlich zunimmt: sie vermag schneller auf Situationen zu reagieren als politische Systeme, in denen die schnelle Abstimmung vermieden wird;
- ferner steigt die Organisationskompetenz generell: die Versammlung kann schneller entscheiden, daher vermag sie in derselben Zeit über weit mehr Themen debattieren und beschließen (je nach dem Funktionieren der Versammlung kann sie 6 bis 8 mal mehr Beschlüsse fassen). Auf diese Weise weitet sich der Raum des politisch Verfügbaren unweigerlich aus;
- die Versuchung wächst, die politische und selbst soziale Ordnung selber zu verändern und umzugestalten; geschieht das, dann entsteht eine besondere Dynamik: der politischen Raum selber wird verfügbar. Hier entstehen beträchtliche Risiken: diese Dynamik beeinträchtigt den Grundkonsens zwischen den diversen sozialen Schichten der Bürgerschaft (dazu unten: 6)
6. Risiken:
a) Niederlagen' und Polarisierungen
In einer Versammlungsdemokratie können ‚Niederlagen' sehr schwer wiegen. Wenn eine große Gruppe inmitten einer Versammlung eine Abstimmung verliert, dann ist das soziologisch ein fundamental anderer Vorgang als eine moderne Wahlniederlage an den Urnen. Denn die Minderheit steht auf engem Raum einer siegenden Mehrheit gegenüber, face-to-face, Auge in Auge. Jeder hatte seinen Arm gehoben vor aller Augen. Der Grad der persönlichen Ausgesetztheit ist also unvergleichlich höher. Die Niederlage ist dementsprechend intensiver. Daher ist eine Abstimmung in der Versammlungsdemokratie weitaus risikohaltiger. Dieses Risiko aktiviert sich augenblicklich, wenn Parteiungen auftauchen. Die Versammlungsdemokratie verträgt darum überhaupt keine organisierten Parteien.
Riskant sind Mehrheitsabstimmungen, weil sie naturgemäß auf eine kontroverse Debatte folgen:
a) Kontroversen bergen Risiken; sie beinhalten, daß ein Redner die Position des anderen frontal angreift; das ist - wenn es coram publico geschieht - nicht angenehm, führt schnell zu einem Wettstreit vor aller Augen. Zwischen den Rednern ergeben sich schnell Feindschaften.
b) Kontroversen schaffen nicht nur Spannungen zwischen den Rednern; sondern sie können auch die Bürgerschaft spalten.28 Es ist die Frage, ob eine solche Spaltung rein momentan und okkasionell bleibt; oder ob bei der nächsten Debatte sich die Spaltung wiederholt. Wenn die Teilungslinien sich wiederholen, werden daraus Fronten; und das entzweit die Bürger. Die Entzweiungen vermögen zu regelrechten Bipolarisierungen auszuwachsen, welche die Polis lähmen oder gar zum Bürgerkrieg führen (daher sind Parteien für eine Versammlungsdemokratie tödlich).29
b) Dysfunktionalität 1: Schnelligkeit des Entscheidens beeinträchtigt Aktzeptanz des Beschlusses
Viele Entscheidungen dürften so schnell ergangen sein, daß eine intensive Minderheit anfing, solche Beschlüsse für nicht legitim zu halten.30 Im demokratischen Athen passierte es mindestens zweimal während des peloponnesischen Krieges, daß eine überstimmte Minderheit versuchte, den soeben gefaßten Beschluß rückgängig zu machen. Im Sommer 42731 hatte die Volksversammlung beschlossen, alle Männer einer abtrünnigen Stadt hinzurichten. Doch am folgenden Tag diskutierte die Volksversammlung die Angelegenheit erneut; danach faßte sie einen neuen, anderslautenden Beschluß - mit einer ganz dünnen Mehrheit. Im Sommer 415 v. Chr. faßte die Volksversammlung den fatalen Beschluß, eine Flotte nach Sizilien zu schicken. Vier Tage später versuchten Gegner dieses Unternehmens die Volksversammlung von dem Beschluß abzubringen. Tatsächlich entschied die Volksversammlung nochmals über den Feldzug; freilich bestätigte sie ihre erste Entscheidung.
Wie konnte das passieren? Warum duldete die Volksversammlung solche Versuche? Ist die Hypothese erlaubt, daß große Teile der Bürgerschaft vor der Schnelligkeit des Entscheidens Angst bekommen hatten? Die institutionelle Maschinerie der Demokratie ermöglichte schnelle Beschlüsse mit hochriskanten Folgen; doch die meisten Abstimmenden waren außerstande, inmitten einer Debatte die Folgen einer Option abzuschätzen. Darf man diesen Sachverhalt noch in das alte Schema "Elite gegen Masse" pressen? Ist es eine taugliche Erklärung, hier eine gruppendynamisch bedingte Entgleisung unter massenpsychologischen Bedingungen zu sehen? Oder brauchen wir nicht grundsätzlich andere Explikationsmuster? Dafür plädiere ich; denn die Argumente - pro und contra - in einer Debatte vor der Volksversammlung hagelten in hoher Geschwindigkeit auf alle Bürger gleichermaßen herunter. Falls man solche politischen Prozesse auf das ‚Dilemma des Zeitmangels bei der Verarbeitung von Informationen' reduziert,32 dann hat man das Problem nur verschoben: denn mit dieser Erklärung hat man eingestanden, daß ein Mißverhältnis bestand zwischen institutionell ermöglichter Geschwindigkeit des Entscheidens einerseits und der Abwägung der Folgen anderseits. Die Tragödie als politische Kunst vor dem versammelten Volk scheint dieses politische Dilemma zu thematisieren. Denn im sophokleischen Drama ‚Ödipus' sagt der Chor zu Ödipus, welcher immer zu schnell handelt und darum meistens irrt: "Denn es denken die Schnellen nicht sicher!"33
c) Dysfunktionalität 2: Rivalität über das Gemeinwohl hinaus
Im klassischen Athen trat gelegentlich die Situation ein, daß die beiden erfolgreichsten Redner in eine Rivalität hineingerieten, die das Funktionieren der Politik untergrub: Die Gegnerschaft erreichte ein solches Ausmaß, daß die Kontrahenten danach trachteten, Anträge des Gegners zu Fall zu bringen, obwohl diese Anträge im Interesse der gesamten Polis lagen und sie das genau wußten.34 Hier gelangte die politische Rivalität an einen Punkt, wo sie dysfunktional und kontraproduktiv wurde.
Rivalität in der Führungsschicht ist überall anzutreffen, gerade in Rom war sie nicht minder zu Hause als in Hellas.35 Aber sie bipolarisiert nicht notwendigerweise die politische Gemeinschaft. Das passiert erst, wenn der beste Politiker derjenige ist, der am häufigsten politisch ‚siegt' - und das heißt im Kontext vieler griechischer Poleis: der am häufigsten die Mehrheit der versammelten Politen für seine Anträge gewinnt.
Das bedeutet freilich, daß die Bipolarisierung der politischen Gemeinschaft überhaupt nicht ins Belieben böser einzelner gestellt, sondern systemimmanent war. Die Rivalität muß nicht jederzeit die Polis bipolarisieren; aber die Bipolarisierung ist als Konsequenz scharfer Zuspitzung politischer Konflikte unter Bedingungen der Mehrheitsentscheidung latent und permanent gegenwärtig.
d) Dysfunktionalität 3: Eingemauerte Minderheiten und Bürgerkrieg
Wenn die Dynamik der Bipolarisierung zu wirken begann und Frontlinien zwischen den Bürgern sich verfestigten, dann fand die Minderheit - unter gleichbleibenden Umständen - aus ihrer Situation nicht mehr heraus. Eingemauerte Minderheiten bildeten eine Gefahr für den Grundkonsens und den inneren Frieden.36 Die auffällig vielen Bürgerkriege in den griechischen Gemeinden sind vielleicht dem Umstand geschuldet, daß die Mehrheitsregel eine politische Minderheiten über längere Zeit einmauerte. Die Minderheit sah dann keinen anderen Ausweg als den gewaltsamen Umsturz der politischen Ordnung.
Ein künftiges Forschungsthema: wie den Konflikt entschärfen?
Wie läßt sich dann aber die bemerkenswerte Stabilität vieler griechischer Städte erklären, darunter auch Demokratien?
- Der Ostrakismos - jenes merkwürdige Scherbengericht, mittels welchem die Athener immer wieder berühmte Politiker für 10 Jahre verbannten - führte dazu, daß stets der zweitmächtigste Redner eliminiert wurde; also war dies ein Mittel, um die Bipolarisierungen immer wieder aufzubrechen. Doch warum blieb die athenische Demokratie auch dann sehr stabil, als man keinen Ostrakismos mehr durchführte (nach 403 v. Chr.)? Es muß Mechanismen gegeben haben, um drohende Bipolarisierungen zu verhindern. Welche?
- Helfen hier Vergleiche mit modernen Versammlungsdemokratien weiter? In den Schweizer Landsgemeinden sind Parteien strikt ausgeschlossen; es sprechen immer Individuen, niemals Parteien. Auf diese Weise vermeidet die Versammlungsdemokratie, daß sich dauerhafte Frontlinien innerhalb des Stimmkörpers bilden. Wahrscheinlich hängt damit auch die völlige Stille nach den Reden zusammen: jeder Beifall für die eine oder andere Option würde ja gruppendynamisch wirken und Eskalationen provozieren. Lassen sich für die athenische Demokratie (für die anderen griechischen Städte haben wir zu wenig Quellen) Mechanismen finden, die auf ähnliche Weise die Entzweiung dämpften?
7. Kulturelle Dynamiken:
These: Eine Gesellschaft, die ständig die Mehrheitsregel anwendet, muß damit kulturelle Dynamiken in Gang setzen. Bis heute gibt es keine Untersuchung darüber. Zu dieser These einige Hypothesen:
a) Das Politische als ein genuin eigener Raum
Praktiziert man ständig die Mehrheitsregel, dann verstärkt sich die Erfahrung der Gleichheit aller Bürger innerhalb eines spezifischen Raumes. Dieser Raum - das Politische - setzt sich damit in harter Distinktion ab vom Raum des Hauses, der Familie, der sozialen Beziehungen (Freundschaften, Agone) und der Ökonomie. In diesem Raum begegnen sich die Stimmberechtigte anders, weil sie eine andere Rolle spielen. Ähnlich wie in frühneuzeitlichen Gesellschaften sich die Menschen im religiösen Raum anders begegnen, weil sie dort andere sind als im Alltag.
b) Extremer Institutionalisierungsschub
Die Politische Anthropologie hat Demokratien auch bei ostafrikanischen Stämmen gefunden, d.h. politische Gleichheit aller erwachsenen Stammesangehörigen sowie Versammlungen, die über das Wichtige entscheiden. Aber die griechischen Demokratien waren beträchtlich handlungsfähiger, weil ihre Versammlungen über viel mehr Gegenstände entschieden. Die Mehrheitsregel beschleunigte - wie oben gezeigt - das Entscheiden und verlockte dazu, über immer mehr Sachverhalte zu entscheiden. Damit weitete sich der Raum des Politischen enorm aus. Nirgendwo hat sich eine solche Menge an institutionellen Regelungen und Verfahren gefunden wie in den griechischen Poleis. Die athenische Demokratie erreichte die höchste Dichte an verfahrensmäßiger Institutionalität, die uns aus vorindustrieller Zeit bekannt ist.
c) Adaptierte Verhaltensdispositionen:
Umformung der moralischen Ökonomie: Wenn unentwegt Anträge unterliegen und nicht zu Beschlüssen werden, dann kann das nur gutgehen, wenn diese unterlegenen Anträge nicht abqualifiziert werden - weder moralisch, noch intellektuell. Die Mehrheit darf der Minderheit weder vorwerfen, sich ‚geirrt' zu haben beim Feststellen des Gemeinwohls, noch darf sie diese beschuldigen, ‚niedrige Motive' verfolgt zu haben. All dies darf in der Debatte gesagt werden, aber nicht mehr nach der Abstimmung. Ferner darf die erfolgreiche Gruppierung ihren Erfolg nicht als Sieg feiern.
Und die Unterlegenen? a) Sie dürfen sich nicht als Unterlegene auffassen; b) Sie dürfen sich nicht in ihrer Ehre gekränkt fühlen; sie dürfen folglich auch nicht an Vergeltung denken; c) Sie müssen den erfolgten Beschluß als ihre eigene Option anerkennen, obwohl sie diese Option noch wenige Minuten zuvor abgelehnt haben; sie müssen ‚vergessen', daß sie anders optiert hatten (sie müssen ein ‚zivisches Vergessen' einüben).
Anders gesagt: das agonale Verhalten darf sich nur während der Debatte entfalten. Nach der Abstimmung gilt es, Eintracht zu simulieren und zu inszenieren.
d) Ein neuer intellektueller Habitus
Die allerorts stattfindende kontroverse Debatte erzieht zu einem völlig anderen intellektuellen Habitus als konsentische Verfahren. Konsentisches Verhalten heißt: Die Redner mühen sich ab, Gegensätze abzuschwächen. Dagegen fördert die kontroverse Debatte eine wettkampfmäßige (=agonale) Weise des Austausches; sie lockt einen Denkstil hervor, der tendenziell 'polemisch' ist, auf Angriff und Verteidigung angelegt. Kulturelle Konsequenz:
- Beiderlei Rhetorik divergiert: Konsensverfahren fördern blumige (metaphorische) Rhetorik; Kontroversen hingegen fördern trennscharfe (konzeptuelle) Rhetorik. Warum?
- In konsentischen Diskussionen werden die Differenzen meist nicht explizit; divergierende Axiomatiken werden verdeckt. Kontroverse Debatten dagegen bringen Gegensätze schnell auf den Punkt, klären die Vorannahmen, machen das Unausgesprochene explizit.
- Die Techniken des Überzeugens divergieren radikal. Konsentische Diskussionen erlauben kaum, den Gegner offen zu widerlegen. Für die Kontroverse ist hingegen die Widerlegung des Gegners ein kardinaler Bestandteil. Das hat Konsequenzen für die Entwicklung von Argumentationsregeln; denn der Konsens kommt ohne eigentliche Argumentation aus; die Kontroverse drängt auf eine explizite Technik der Argumentation. Die Sophistik muß hier ihren kulturellen Ort haben.
Dabei handelt es sich keineswegs um ein Phänomen, das sich auf die Elite (der Redner) begrenzen ließe. Denn die Bürger in der Volksversammlung übten permanent, entgegengesetzte Meinungen auszuhalten und erlernten Taktiken des Widerlegens und Begründens.37
e) Verfügung über die Ordnung
Wenn man über so viele Dinge entscheiden kann, dann wächst die Versuchung, die politische und sogar die soziale Ordnung selber zu verändern und umzugestalten. Das war politisch gefährlich, weil solche Entscheidungen den Grundkonsens zwischen den diversen sozialen Schichten der Bürgerschaft berühren und Bürgerkriege provozierten. Aber das war kulturell produktiv, weil auf diese Weise menschliche Gruppen sich als vollkommen souverän erfahren konnten und darauf intellektuell reagieren mußten. In der griechischen Kultur wurden daher die Paradoxien der Souveränität in aller Schärfe durchdacht, insbesondere die Zerstörung der Autorität von selbstgemachten Gesetzen durch den Souverän selber.
f) Theoretische Reflexion über das Politische
Damit stehen wir unversehens dem aktuellsten Vermächtnis dieser innovativen Kultur gegenüber: der politischen Theorie. Zwar begann das politische Denken nicht bei den Griechen. Die älteste uns überlieferte Verfassungsdebatte fand in Israel statt: die Jotham-Fabel ist eine glühende Absage an alle Monarchie - mindestens 8. Jh. v. Chr.. Dieses Denken blieb atheoretisch, ebenso wie die politische Reflexion in den Tragödien von Aischylos oder Sophokles, welche die extremsten Handlungsfolgen experimentell durchspielen. Doch im Laufe des 5. Jhs. v. Chr. kam systematisches Nachdenken über das Politische auf: mit reicher Begrifflichkeit, mit bündiger Argumentation, ohne Rücksicht auf Religion und Konvention, reflektierte man über Herrschaft und die Eigengesetzlichkeit der Machtphänomene; so entstand politische Philosophie als ausdifferenziertes Wissensgebiet.38 Diese Reflexion ist bemüht um Radikalität; und das hat diesen Texten bis heute eine beachtliche Brisanz gesichert.
g) Ausdifferenzierung von intellektuellen Feldern: Wissenschaft
Eliminierung von sozialer Autorität aus dem Bereich der Organisation des Wissens. Soziale Autorität behinderte den geistigen Austausch in weitaus geringerem Maße als etwa in Rom. Idealiter zählte nicht der soziale Rang des Sprechers, sondern die Stärke seines Arguments. Daher das pure Vergnügen an der logischen Sauberkeit einer Argumentation, an ihrem zwingenden Charakter, sogar dann, wenn die gedachten Konsequenzen erstaunliches ja schreckliches ergeben.
Die Griechen übernahmen sehr viel Wissen aus dem Orient, aber sie organisierten es neu. Die geringe Hierarchisierung machte den Wissensaustausch agonaler; Techniken des Widerlegens und Begründens entwickelten sich in Hellas stärker, weil man sie mehr gebrauchte als anderswo. Nur so können gattungsinterne Regeln der Auseinandersetzung - Disziplinarität - entstehen. In einem enormen Tempo differenzierten sich in der klassischen Zeit Wissensgebiete aus.39 Ausdifferenzierung von kulturellen Tätigkeiten begann in Griechenland zwar schon viel früher (Poesie, Skulptur). Aber die Ausdifferenzierung spezifischer Wissensgebiete bekam aus der Poesie und aus der Skulptur nicht unbedingt positive Impulse, im Gegenteil: es war z.B. ein disziplinärer Irrweg, daß Parmenides eine poetische Form suchte, um philosophische Inhalte auszudrücken. Die Philosophie mußte eine radikal apoetische Form des Ausdrucks finden (Platon, Aristoteles).
Wissenschaft bedeutet, Sachverhalte systematisch zu durchdenken, d.h. a) gemäß ihrer spezifischen Logik, b) innerhalb eines scharf abgegrenzten Gebietes (ohne Rücksicht auf die Regeln in anderen Wissensgebieten). Diese Wissenschaft ist in der griechischen Kultur entstanden (Mathematik, Philosophie, Grammatik, Rhetorik, Astronomie, Geographie, Historie).
Die kulturellen Konsequenzen des ständigen Praktizierens der Mehrheitsentscheidung waren dafür maßgeblich verantwortlich.40
8. Was ich vorhabe:
Die Frage nach den Entscheidungsverfahren aus der Rechtsgeschichte herauszuholen und in eine interdisziplinär angelegte Politische Anthropologie zu integrieren. Was ich zeigen wollte:
1. Es ist untunlich, Entscheidungsregeln allein auf der Ebene der Prozeduren zu untersuchen. Die Verfahren selber sind abhängig von der Gruppenstruktur, von den sozialen Normen, von den Habitusformen.
2. Die Entscheidungsverfahren sind ein kulturelles Syndrom und ein Indikator für kulturelle Zustände.
3. Die Entscheidungsverfahren können maßgebliche Faktoren sein für die Ingangsetzung kultureller Dynamiken, oder für die Blockierung von kulturellen Dynamiken.
4. Das ‚miraculo greco' läßt sich auflösen in soziale Komponenten, die zusammen eine definierbare kulturelle Resultante ergaben.
5. Die Reflexion über die Bedingungen der Mehrheitsentscheidung ist dringlich. Denn ein kultureller Holismus von Herder' scher Qualität und Fanon' schen Konsequenzen macht sich breit; er bestreitet die universelle Anwendbarkeit von moralischen Werten und von politischen und intellektuellen Regeln. Das Gute an ihm ist, daß er die Wissenschaft dazu nötigt, scheinbar Selbstverständliches neu zu begründen.
1 Der israelitischen Kultur, und sicherlich auch schon der kanaanitischen, war zumindest ein Folgezwang bekannt, der sich aus der Existenz einer Mehrheit ergab. Siehe ...
2 J.A.O.Larsen, The Origin of the Counting of Votes, in: Classical Philology 44 (1949), 164ff; G.Glotz, La Cité Grecque, Paris 1928 (ND 1953), 69; F.Ruzé, Plethos. Aux origines de la majorité politique, in: Aux Origines de l'Hellénisme - la Crète et la Grèce. Hommage à Henri van Effenterre (Centre Gustave Glotz), Paris 1984, 247ff.
3 Siehe:
4 Siehe:
5 wie es z.B. dazu kommen konnte, daß die politische Philosophie der Neuzeit sich niemals über die Einstimmigkeitsregel Gedanken machte, obwohl in kleinen Gremien (etwa der Universitäten) überwiegend diese Regel praktiziert worden ist,
6 Die Alternativen reduzierend auf die dichotomische Opposition von "Einstimmigkeitsregel" und "Mehrheitsregel", hat die rechtshistorische Forschung eine Vielfalt von soziologischen Varianten und historischen Besonderheiten ausgeschlossen. Eine Problemgeschichte muß kombiniert werden mit interkulturellen Vergleichen. Die Mehrheitsentscheidung erneut zu erforschen, macht nur Sinn, wenn man andere von konkreten Gruppen praktizierte Entscheidungsverfahren einbezieht, um den Zusammenhang von Gruppenzusammenhalt, Gruppenstruktur und Gruppendynamik typologisch zu ordnen.
7 Die entscheidenden Studien, die immer noch Referenzpunkte in den historischen Arbeiten darstellen (Starosolsky, Stawski), stammen aus dem Anfang des 20. Jhs.
8 Demnach waren sie also geistig gar nicht in der Lage, einen Dissens anzumelden - der Gruppendruck war so groß, daß alle zu einer einmütigen Entscheidung kamen. Nach dieser Auffassung spielt bei der Beschlußfassung meist ein charismatischer Führer die entscheidende Rolle, er "inspiriert" die Gruppe, und diese folgt willig. Erst als ein zunehmender "Individualismus" jene organische "Gemeinschaft" unterhöhlte, sei es überhaupt möglich geworden, daß sich Meinungen gegenüberstanden, zwischen denen man sich entscheiden mußte. Diese Sicht zementierte den Anspruch, daß Europa eine höhere Form der historischen Evolution erreicht habe. Denn in West- und Mitteleuropa wurde die Mehrheitsentscheidung fast überall angewandt; und das sollte beweisen, erstens daß die Auflösung der "primitiven" Gemeinschaft in eine individualisierte "Gesellschaft" in Europa abgeschlossen war, zweitens daß "Individualität" eine abendländische Errungenschaft war. Beide eurozentrischen Axiome stützen sich gegenseitig.
9 Daß überhaupt Einmütigkeit herstellbar ist trotz unterschiedlicher Interessen, war für die politische Philosophie seit Locke ein Problem, das sie nicht lösen konnte; und das obwohl die meisten Entscheidungen in kleinen Körperschaften - d.h. in Gremien - einmütig gefällt werden, und zwar seit Jahrhunderten und bis heute. Die politische Philosophie der Neuzeit konnte diesen alltäglich erfahrbaren Sachverhalt nicht einmal konzeptualisieren, da sie dazu tendierte, sowohl die Handlungsmotive als individualistische aus ihren interindividuellen Kontexten herauszureißen als auch die Entscheidung zu isolieren und von ihrer Einbettung in eine kontinuierliche Interaktion abzusehen. Wenn die Frage lautet "wie kann ich zustimmen, ohne davon überzeugt zu sein, daß die betreffende Option - von der Sachlage her! - die beste sei?", dann ist das Problem unlösbar. Denn die Gesichtspunkte außerhalb der Sachlage zählen dabei nicht oder nur negativ: das jeweilige Interesse ist als individuelles oder "partiales" ein zentrifugales Moment; folglich ist es dem (guten) Allgemeininteresse entgegengesetzt. Somit ist es ausgeschlossen, den Konsens vom - intertemporalen! - Interessenausgleich her zu konstruieren.
10 Das Konsensprinzip zielt idealiter darauf, Einmütigkeit unter den Entscheidungsteilnehmern herzustellen; es gehorcht also der Einmütigkeitsregel, dies sogar dann, wenn realiter die Einmütigkeit häufig nicht in eindeutig symbolisierter Form erfolgt und kaum gleiche Intensität bei allen aufweist. Allerdings umschließt die Einmütigkeitsregel auch Entscheidungsmodi, die nicht dem Konsensprinzip entsprechen: Einmütigkeit kann auch einen Kompromiß anzeigen. Doch ein Kompromiß ist materialiter etwas anderes als ein Konsens, wie noch zu sehen ist. Siehe dazu: A.Etzioni, The Active Society, NY 1968 (Teil 4); P.H.Partridge, Consent and Consensus, London 1971; G.Parry, Trust, Distrust and Consensus, in: British Journal of Political Science, April 1976; G.J.Graham, Consensus, in: G.Sartori (Hg), Social Science Concepts. A Systematic Analysis, Beverly Hills 1984; Sartori, 1984, 83ff; ders., The Theory of Democracy Revisited, New Jersey 1987, 214ff.
11 Sartori, 1984, 91.
12 jede agonale Sprache muß radikal ausgeschlossen sein
13 Damit diese Disposition auf Dauer gestellt werden kann, ist ein kontinuierlicher Entscheidungskontext vonnöten. Dazu müssen die Gegenstände der Entscheidungen - zumindest innerhalb eines gewissen Spielraums - gleichartig und annähernd gleichwertig sein. Die Mitglieder des entscheidungstragenden Organs können dann die Themen ihrer Entscheidungen so behandeln, als seien diese nicht vereinzelt, sondern als stünden sie in einem Zusammenhang, als könnten sie in einem "theoretisch endlosen Strom" aufeinanderfolgen (Sartori, 90).
14 Die Mitglieder eines Entscheidungsorgans dürfen nicht durch starke Loyalitäten gegenüber anderen Teilen der Gemeinschaft gebunden sein, sie dürfen sich nicht als Repräsentanten oder gar Mandatare auffassen; m.a.W. die Solidarität unter den Entscheidungsträgern muß die Loyalität gegenüber Dritten deutlich überwiegen. Falls die Gruppe größer ist, bedarf es eines außerordentlich hohen Grades an ethischer Homogenität. Hier scheint das Geheimnis des Funktionierens politischer Systeme ohne Herrschaft zu liegen. Siehe dazu die profunden Analyse von P.Clastres, La société contre l'Etat, Paris 1974 (5.Kapitel).
15 Politik überhaupt als Nullsummen-Spiel aufzufassen (so z.B. R.Aron, Macht, Power, Puissance, in: ders., Etudes Politiques, Paris 1972, 173ff; deshalb kann Aron Akzeptanz nicht konzeptualisieren, sondern muß die Fügungsbereitschaft der Beherrschten als Akkommodation auffassen), ist unhaltbar. Dagegen T.Parsons, Politics and Social Structure, NY 1969, 200 und stringent Sartori, 1987, 92. Nicht einmal die Mehrheitsregel muß aus der Politik in jedem Falle ein reines Nullsummen-Spiel machen: der dauerhaft unterliegende Teil des athenischen Adels partizipierte am Gewinn, den die Machtsteigerung der Polis allen Bürgern bescherte, er profitierte vom Glanz und von der Macht der Polis.
16 Sartori, 1984, 84ff verwendet die Begriffe anders: als Entscheidungskosten bezeichnet er den Aufwand für das Zustandekommen der Entscheidung, als Entscheidungsrisiken die Probleme der Durchsetzung einer Entscheidung, die von einer kleinen Gruppe getroffen wurde, gegenüber dem Rest der Gemeinschaft (den Entscheidungsbetroffenen). Diese Terminologie kann ich nicht übernehmen, weil sich in der griechischen Polis das Problem anders stellt: die Entscheidungsteilnehmer sind idealiter alle Bürger; d.h. die Durchsetzung der Entscheidung gegenüber den Entscheidungsbetroffenen ist kein politisches Problem (mit Frauen, Kindern, Sklaven und Metöken - alles Entscheidungsbetroffene - kommuniziert man nicht politisch). Ich habe also ein politisches Feld im Auge, auf dem nach Sartori lediglich Entscheidungskosten anfallen würden, keine Entscheidungsrisiken - weil sich der Entscheidungsvorgang innerhalb des ganzen politischen Körpers abspielt. Doch gerade deswegen verlagert sich die Problematik: was Sartori mit einem einzigen Terminus benennt, die Entscheidungskosten, zerfällt plötzlich in zwei differente Sachverhalte: ich muß den Aufwand für eine Entscheidung konzeptuell trennen von der Akzeptanz dieser Entscheidung. Also spalte ich Sartoris Terminus "Entscheidungskosten" auf: als Entscheidungskosten bezeichne ich lediglich den Aufwand an Rhetorik und kommunikativen Ritualen und an Zeit, als Entscheidungsrisiko dagegen die Gefahr, die durch den Entscheidungsmodus und den Entscheidungsinhalt für den Zusammenhalt des politischen Körpers (und vor allem für seine Führungsschicht) entstehen kann.
17 Das hat in aller Deutlichkeit Sartori, 1984... gezeigt.
18 In Gesellschaften ohne politische Herrschaft hingegen, also dort, wo die gesamte Gemeinschaft - oder zumindest alle Männer der höchsten Altersklasse - entscheiden, haben sich alle Individuen - zumindest alle männlichen Mitglieder der Gemeinschaft - einer solchen unnachsichtigen Homogenisierung zu unterziehen, andernfalls droht der politischen Willensbildung dauerhafte Lähmung (Colson; bisweilen spalten sich solche Gemeinschaften auch). Homogenität heißt hier ethische Homogenität der definierten Gruppe; die Minimierung ökonomischer und sozialer Differenzen, die Uniformierung der Lebensstile, die Vereinheitlichung der Lebensführung - dies alles dient letztlich der Herstellung ethischer Homogenität (Colson; Clastres; Beispiel der Maasai: Saitoto).
19 Um den Anstieg der Entscheidungskosten mit dem Risiko der Lähmung zu vermeiden, nehmen solche Kulturen - bzw. ihre herrschenden Gruppen - demnach einen höheren Sozialisationsaufwand und höhere kulturelle Kosten auf sich. Aber auch das politische Feld selber bleibt nicht unberührt, wenn in einer Gemeinschaft der Aufwand, um ethische Homogenität herzustellen, auf einem hohen Pegel verharrt. In einem solchen Fall kann durch die sozialen Normen schon dermaßen viel geregelt sein, daß für gemeinschaftliche Entscheidungen kaum noch Raum bleibt. Im Extremfall entscheidet man gemeinschaftlich nur noch bei inneren Zwisten oder über Krieg und Frieden. Die Themen der Politik sind dann aufs äußerste reduziert. Es muß also nicht immer ein Anzeichen für politische Unterorganisation sein, wenn eine solche Verengung des politisch Entscheidbaren auf ganz wenige Themen vorliegt. Das kann auch ein Indiz dafür sein, daß diese Gemeinschaft einen hohen Zusammenhalt durch ihr normatives Gefüge besitzt. Popitz, Normatives Gefüge. Normeninternalisierung erspart Organisation: Flaig, Usurpation,
20 An dieser Stelle ist also eine Differenzierung nötig: Konsentische Entscheidungen sind sehr schwierig zu untersuchen. Wenn der Ethnologe die Sprache der beschließenden Gruppe nicht sehr gut versteht, und wenn er nicht sehr präzise die Interaktionen beobachtet, dann kann er nur feststellen, daß ein Konsens erreicht wird; doch es entgeht ihm, wie dieser Konsens zustande kam. Aber gerade die Modalität ist entscheidend.
21 Nach Aristoteles wäre eine solche Gruppe eher ein Bündnis als eine politische Gemeinschaft (Politik ///). Die Beschlüsse ähneln eher Verträgen zwischen Gruppierungen als
22 "Wenn der Punkt erreicht ist, an dem sich etwa 70 % der Teilnehmer einig sind, ist dies ein Zeichen, daß der Konsens nahe ist. In der Schlußphase gibt die Minderheit nach, indem sie sagt: "Wir schließen uns euch an, da ihr alle zugestimmt habt. Obwohl wir in diesem einen Punkt anderer Meinung sind, sind wir doch gern bereit mit euch zusammenzuarbeiten, und jedenfalls haben wir alles sagen können, was wir sagen wollten" (Chie Nakane, Die Struktur der japanischen Gesellschaft, Frankfurt 1985, S. 195).
23 So nachweisbar im Vinay-Korpus des Tipitaka, IV. Teil Faszikel 23 (Buddha erklärt die 7 Modi der Streitschlichtung). Siehe dazu: Rüttermann, S. 31f.
24 Markus Rüttermann, Das Prinzip der Majorität (tabun) im japanischen Mittelalter, in: Saeculum 48 (1997), s. 21-71..
25 Gemeinschaften ertragen eine simulierte Konfrontation nur dann dauerhaft, wenn sie einen enorm starken Willen haben, auf jeden Fall zusammenzuhalten. Der Folgezwang erfordert hingegen bloß eine politische Haltung, in welcher der Wille zur Gemeinschaft zu gehören größer ist als das Festklammern an einer konkreten Option.
26 Verkauf von Allmende und Aufnahme von Neubürgern: Einstimmigkeit. Siehe: Kopp, S. 8.
27 Max Kopp, Die Geltung des Mehrheitsprinzips in eidgenössischen Angelegenheiten vom 13. Jh. bis 1848 in seiner Bedeutung für die alte Eidgenossenschaft, Winthertur 1959, S. 6.
28 Dysfunktionalität 1: Akzeptanz des Beschlusses abhängig von Grundkonsens
Damit die Minderheit sich als weiterhin zugehörig zur Polis begreifen kann, damit sie also am gemeinsamen Handeln der Polis teilnehmen kann, muß sie den Beschluß der Polis mittragen, d.h. sie muß den Beschluß der Mehrheit mittragen. Wie soll das gehen? Die Politische Anthropologie kennt Gemeinschaften, die sich trennen, wenn Konsens nicht erreicht wird. Warum bleibt die griechische Polis eine, obwohl sie sich soeben bei der Abstimmung entzweit hat? (die Hauptfrage von Nicole Loraux). Mit welchen außerpolitischen Mitteln erlangt die griechische Polis ihren hohen Grundkonsens? (Vernant, Detienne usw.).
29 Wenn die Materie der Entscheidung den Grundkonsens berührt; wenn also z.B. die politische Ordnung selber verändert wird; wenn ökonomische oder soziale Positionen ganzer Gruppen verändert werden; (wenn religiöse Themen - die unverhandelbar sind (warum sind sie das?) zu Gegenständen politischer Entscheidungen werden). C) Wenn Entscheidungen zu häufig revidiert werden (Verlust des Vertrauens in die Geltung des Verfahrens).
30 Diese mäßige Akzeptanz des Mehrheitsbeschlusses ist von Zeitgenossen erkannt worden. Die antidemokratische Polemik des alten Oligarchen, einer pseudo-xenophontischen Schrift aus dem letzten Drittel des 5.Jhdts., bemängelt an der Demokratie, daß auswärtige Verträge immer Gefahr laufen, gebrochen zu werden, weil Bürger, die in der Volksversammlung nicht für den Vertrag gestimmt haben, sich auch nicht an den Vertrag gebunden sähen. Siehe: Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener II 17. Daß diese antidemokratische Polemik keinesfalls auf sachlichen Gründen basierte, behauptet H.Wolf ( Die Opposition gegen die radikale Demokratie in Athen bis zum Jahre 411 v. Chr., in: ZPE 36 (1979), S. 292). In der Tat unterschlägt der alte Oligarch, daß dies nicht ein Problem der Demokratie ist, sondern ein Problem der Mehrheitsregel - und daß es sich in oligarchisch verfaßten Poleis grundsätzlich ebenfalls stellte. Wenn es dort nicht so akut auftrat, dann weil, wie dargelegt, in kleinen und homogen besetzten Gremien - z.B. in einem Adelsrat - Mehrheitsentscheidungen umgangen oder atmosphärisch entschärft werden
31 "Nach der Darlegung dieser beiden Meinungen, die einander so genau das Gleichgewicht hielten, stritten die Athener noch weiter mit Gründen und Gegengründen, und in der Abstimmung waren sie nahezu gleich; aber siegreich blieb der Antrag des Diodotos" (Thukydides III, 49.1).
32 Gersbach, Informationseffizienz
33 Die aufkommende politische Philosophie diffamiert dementsprechend die Mehrheitsentscheidung.
34 Das hat Stein-Hölkeskamp nicht beachtet.
35 Als Initiatoren von Beschlüssen gewannen diese Demagogen - im neutralen Sinne des Wortes - Prestige und eine spezifische, sehr prekäre Autorität. Adlige Agonalität auf dem Feld der Polis-Politik drückte sich also darin aus, das eigene Prestige zu erhöhen, indem der eigene Vorschlag von den Politen als der beste zum Wohle der Polis anerkannt und befürwortet wurde.
36 Hier können wir lernen. Je mehr unsere mühsam homogenisierten Bürgerschaften sich auflösen in Lebensstilgruppen und religiös definierte Gemeinschaften, desto schwieriger wird es, Entscheidungen zu treffen, in denen sich der Wille der Mehrheit der Bürger ausdrückt. Der Begriff des Gemeinwohls wird sinnlos, wo die Bürgergemeinschaft zerbröselt.
37 g) Explizitheit und außerordentliche ‚Lesbarkeit der Texte'. Die Nötigung zur Explizitheit wirkt sich auf die griechische Literatur aus. Die griechische Kultur entwickelte eine literarische Gattung, die in höchstem Maße auf polemischem Denken beruhte, nämlich die Tragödie. Eine Tragödie von Sophokles ist für uns viel durchsichtiger ein mittelalterliches Epos. Die hohe Explizitheit macht die Texte auf seltsame Weise 'lesbar'; sie scheinen geradezu für uns geschrieben. Das ist nicht nur ein Effekt der Memorialkultur (Rezeption seit der Renaissance), sondern rührt aus der Konflikt-Motorik und der intellektuellen Motorik der Texte selber.
38 Mißt man sie an der modernen politischen Soziologie, war ihr begrifflicher Reichtum (Monarchie, Aristokratie, Demokratie, ihre Verfallsformen und einige Zwischenformen) gewiß arm. Sie haben aber der politischen Philosophie Europas als ständiger Bezugspunkt gedient, um die eigene Wirklichkeit begrifflich zu begreifen.
39 Dazu bedurfte es besonderer kultureller Konstellationen: Eine städtische Kultur, großräumige Kommunikation, eine substantielle Quote von Menschen, die nicht arbeiteten, sondern Muße pflegten; keinerlei religiöse Bedenken, wenn ums Prüfen ging.
40 Hängt also wissenschaftliches Denken und Demokratie zusammen? Nicht unbedingt. Denn die Demokratie muß ihren Grundkonsens bewahren. Und dazu muß sie verhindern, daß mit Autorität ausgestattetes Wissen (wissenschaftliches Wissen) ihre Grundlagen unterminieren. (Wissenschaftlicher Rassismus z.B.).
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