Ulrich Herbert, Dr. phil.
Professor der Neueren und Neuesten Geschicht
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Geboren 1951 in Düsseldorf
Studium der Geschichte, Volkskunde und Germanistik an der Universität Freiburg
Arbeitsvorhaben
Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert
Geplant ist eine Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, im Kontext der Reihe Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, die im Beck-Verlag ab 2005 erscheinen wird. Der dabei verfolgte Ansatz geht von einer relativen Einheit der Jahrzehnte der Hochmoderne etwa zwischen 1900 und 1970 aus und versucht eine Interpretation der deutschen Geschichte, die sich einerseits dem europäischen Vergleich öffnet und die zum anderen die katastrophische Geschichte dieses Landes in der ersten Hälfte des Jahrhunderts und die Erfolgsgeschichte Westdeutschlands in der zweiten Hälfte konzeptionell aufeinander zu beziehen in der Lage ist.Lektüreempfehlung
Herbert, Ulrich. Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München: Beck, 2001. (Engl. Ausgabe der ersten Fassung: A History of Foreign Labor in Germany, 1880-1980. Ann Arbor: University of Michigan, 1990.)
-. Best: Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989. Bonn: Dietz, 1996.
-. Fremdarbeiter: Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin: Dietz, 1985, Neuausg. Bonn, 1999. (Engl. Ausgabe: Hitler's Foreign Workers: Enforced Foreign Labor in Germany Under the Third Reich. Cambridge: Cambridge University Press, 1997.)
Kolloquium, 30.03.2004
Europa in der Hochmoderne - ein historisches Periodisierungskonzept
Seit der Mitte der 1980er Jahre hat sich in Westdeutschland, aber auch international, eine Verlagerung des Schwerpunkts der Forschung zur Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands durchgesetzt. Nicht mehr die Fragen nach den Voraussetzungen für die Machtergreifung der Nazis oder nach der Struktur des politischen Systems der NS-Diktatur standen im Vordergrund, sondern die nationalsozialistischen Massenverbrechen - an den Juden, an der Zivilbevölkerung in Polen und der UdSSR, an den sowjetischen Kriegsgefangenen, um nur die größten Opfergruppen zu nennen. Zugleich stand das Verhalten der deutschen Bevölkerung in diesem Zusammenhang im Mittelpunkt des Interesses. Im Ergebnis erwies sich, daß die politische, ideologische und mentale Einwurzelung des NS-Regimes in der deutschen Gesellschaft sehr viel tiefgreifender war als bis dahin bekannt.
In den 1990er Jahren setzte zudem eine Intensivierung der Forschung zur Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik ein. Sie stellte zunächst den außerordentlich starken Kontrast zwischen den Ausgangsbedingungen nach 1945 und der Etablierung einer liberalen Demokratie heraus, die zu Beginn der 80er Jahre nahezu weltweit als stabil angesehen wurde. Wie aber war das mit den Ergebnissen der neueren NS-Forschung vereinbar? Wie hatte sich aus den Nazis von 1945 die liberalen Bundesbürger von 1980 entwickeln können? Noch dazu in so kurzer Zeit?
Die Antwort auf diese Frage lautete kurz gefaßt: In den 50er bis 70er Jahren, vor allem zwischen etwa 1959 und 1974, läßt sich in Westdeutschland ein Schub tiefgreifender Wandlungsprozesse feststellen, der sich auf die privaten Einstellungen in Bezug auf Lebensweisen, Normen und Wertesysteme ebenso bezog wie auf das Rechtssystem, die Akzeptanz fremder Kulturen, das politisch-kulturelle System und den öffentlichen Diskurs. In diesen Liberalisierungsprozessen, so die hieraus abgeleitete These, ist die (west-)deutsche Bevölkerung von der postdiktatorialen Volksgemeinschaft in die Gesellschaft der liberalen, westlich orientierten Bundesrepublik transformiert worden.
Diese These, in sich vielfältig differenziert, ist nach wie vor plausibel. Sie stand aber schnell vor zwei Problemen: Denn erstens bezogen sich diese Transformationen gar nicht oder nur in wenigen Bereichen auf spezifisch nationalsozialistische Überhänge, sondern vielmehr auf seit längerem virulente autoritäre, antipluralistische, antiliberale Traditionen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichten. Und zweitens, so diese Kritik, finden wir die hier beschriebenen Wandlungsprozesse der 1960er Jahre so und ähnlich auch in nahezu allen anderen entwickelten westlichen Industriestaaten - und zwar auch in solchen, die keineswegs eine diktatoriale Tradition besaßen. Wie sollte dann aber die NS-Vergangenheit der treibende Faktor der beschriebenen Liberalisierungsprozesse in Deutschland sein? Und wie kommt es, daß sich in den 1960er Jahren mentale und kulturelle Veränderungen solcher Intensität nahezu weltweit durchsetzten? Spielen hierbei nicht andere, längerfristige Entwicklungen eine Rolle, die jenseits der nationalgeschichtlich bedeutsamen politischen Periodisierungen liegen?
Um diese Fragen zu beantworten, entwickelten wir eine Reihe von Untersuchungen, die diachrone, langfristige Orientierungen und ihren Wandel in Deutschland betrachteten - etwa über Familienleitbilder, über sexuelle Devianz, über Erziehungsstile, über den juristischen Umgang mit sozialen Minderheiten und anderes. Darin bestätigte sich, daß wir deutliche Wandlungsintensivierungen in diesen Bereichen einerseits in den Jahren um die Jahrhundertwende, andererseits in den 1960er und 70er Jahren feststellen können. Daraus legten sich erste Überlegungen zur Periodisierung des 20. Jahrhunderts nahe: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Zeit um 1900 und den 1960er/70er Jahren? Markiert diese Zeitspanne eine eigene historische Phase? Aber durch was wird sie konstituiert?
Daraufhin war nun ein weiterer Schritt zu tun: Inwieweit trifft das sich hier andeutende Modell auch auf andere fortgeschrittene westliche Gesellschaften zu? Und wenn es hier offenbar weitreichende Parallelen gibt - welche Schlußfolgerungen ergeben sich daraus für eine (west-)europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt? Und was folgt daraus wiederum für die Spezifika der deutschen Geschichte?
Mein Vortrag versucht, diesen Fragen nachzugehen und ein Modell zu entwickeln, das diese Beobachtungen integriert. Zu fragen ist dann, wie plausibel und wie weitreichend ein solcher Ansatz ist, was er erklärt und wo seine Blindstellen sind.
Der Vortrag wird in deutscher Sprache gehalten. Eine englische Übersetzung des Textes geht Ihnen zu.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Herbert, Ulrich (2007)
Herbert, Ulrich (2007)
Jenseits der Katastrophen : Zum Stand der deutschen Zeitgeschichtsforschung
Herbert, Ulrich (Göttingen, 2003)
Wandlungsprozesse in Westdeutschland : Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 - 1980 Moderne Zeit ; 1
Herbert, Ulrich (2003)
Liberalisierung als Lernprozeß: die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte - eine Skizze
Herbert, Ulrich (München, 2001)
Herbert, Ulrich (2001)
Die deutsche Militärverwaltung in Paris und die Deportation der französischen Juden
Herbert, Ulrich (2001)
Vernichtungspolitik: neue Antworten und Fragen zur Geschichte des "Holocaust"
Herbert, Ulrich (Frankfurt am Main, 2001)
Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939 - 1945 : neue Forschungen und Kontroversen Fischer-Taschenbücher ; 13772
Herbert, Ulrich (New York [u.a.], 2000)
National socialist extermination policies : contemporary German perspectives and controversies Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939 - 1945 <engl.>