Rudolf Stichweh, Dr. rer. soc.
Professor der Soziologie
Universität Luzern
Geboren 1951 in Lemgo/Lippe
Studium der Soziologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin
und der Universität Bielefeld
Arbeitsvorhaben
Theorie der Weltgesellschaft
Die Arbeit im Wissenschaftskolleg ist einem Buchprojekt mit dem Titel "Theorie der Weltgesellschaft" gewidmet. Dieses Projekt soll langjährige Forschungen zum Thema der Weltgesellschaft, die u. a. in zwei Aufsatzsammlungen des Autors (Die Weltgesellschaft, Suhrkamp 2000; Inklusion und Exklusion, transcript 2005) publiziert worden sind, zu einem vorläufigen Abschluss bringen. Die Leitthemen dieses Buches werden sein: 1. Eine umfassende Historisierung des Konzepts der Weltgesellschaft, die in der doppelten Form einer Strukturgeschichte des Systems und einer semantischen Rekonstruktion der Geschichte seiner Selbstbeschreibungen durchgeführt werden soll. 2. Eine kommunikationstheoretische Fassung des Gesellschaftsbegriffs, die sichtbar zu machen versucht, wie dieser zwangsläufig auf das Konzept der Weltgesellschaft hinführt. 3. Eine Rekonstruktion der "Eigenstrukturen" der Weltgesellschaft, auf deren Durchsetzung der Prozess der Ausdifferenzierung dieses Systems wesentlich aufruht. Zu den zu untersuchenden Eigenstrukturen der Weltgesellschaft rechne ich insbesondere das Moment der funktionalen Differenzierung, die Organisation als transnationale Organisation; das Netzwerk und seine globale Extension als "small world"; die professionellen und die szientifischen epistemischen Communities und die temporal und räumlich konzentrierte Form des "Weltereignisses". 4. Die Untersuchung jener Medien der Kommunikation und der Techniken des Transports, die man für Diskontinuitäten und Beschleunigungen in der Geschichte der Weltgesellschaft verantwortlich machen kann. 5. Das Herausarbeiten der Mechanismen, die die Ausdifferenzierung von Weltgesellschaft prozessual tragen. Als solche Mechanismen unterscheide ich globale Selektivität, globale Interrelation und globale Kategorienbildung. 6. Die verschiedenen Stränge der Untersuchung werden am Ende auf eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Unifikation und Diversität in der Entwicklungsdynamik von Weltgesellschaft hingeführt.Lektüreempfehlung
Stichweh, Rudolf. Die Weltgesellschaft: soziologische Analysen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2000.
-. Wissenschaft, Universität, Professionen: soziologische Analysen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994.
-. Der frühmoderne Staat und die europäische Universität: zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1991.
Kolloquium, 13.12.2005
Strukturbildung in der Weltgesellschaft: Die Eigenstrukturen der Weltgesellschaft und die Regionalkulturen der Welt
In meinem Jahr am Wissenschaftskolleg werde ich ein theoretisches Buch über das System der Weltgesellschaft schreiben. In einer Hinsicht geht es bei diesem Unterfangen um eine selbstreflexive oder selbstkritische Wendung der Disziplin Soziologie, die herauszufinden versuchen muß, wie sie ihre Leitbegriffe so reformuliert, dass sie die gegenwärtige globale soziale Kondition zu verstehen imstande ist. Aber natürlich zielt das Hauptinteresse meiner Arbeit darauf, das reformulierte Vokabular für ein Verständnis der Geschichte, der Selbstbeschreibungen, der Strukturen und der Dynamik der Weltgesellschaft zu benutzen, also für die Analyse jenes Systems, das sich spätestens mit der globalen Expansion des europäisch-atlantischen Gesellschaftssystems im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert herauszubilden begonnen hat.
Mein Vortrag am Dienstag konzentriert sich auf einen spezifischen, aber zentralen Ausschnitt aus dem Gesamtvorhaben. In einer Hinsicht kritisiert der Vortrag Theorien der Weltgesellschaft, die dieses System aus dem Blickwinkel einer sozialen und kulturellen Vereinheitlichung der Welt analysieren. Er kritisiert auch jene alternative Position, die die globale Modernität auf den Gesichtspunkt der "multiplen Modernen" zurückführt. Beide dieser im übrigen extrem verschiedenen Theorien unterstellen für den Prozeß der Entstehung der Weltgesellschaft zu viel an Kontinuität.
Statt dessen analysiert mein Vortrag Strukturmuster, die der Weltgesellschaft eigentümlich sind.
Ich werde sechs dieser Strukturmuster diskutieren, die ich "Eigenstrukturen" nenne: Funktionssysteme; formale Organisationen; Netzwerke, insb. Small World-Netzwerke; epistemische Gemeinschaften; Weltereignisse und schliesslich Märkte. Aus diesen Überlegungen leite ich im nächsten Schritt die Hypothese ab, dass die Weltgesellschaft eine Art Hyperstruktur ist, die auf der Basis der Dominanz oder der Überlagerung dieser globalen strukturellen Muster entsteht. Eine solche Hyperstruktur verdrängt oder eliminiert traditionelle und historische Strukturen nicht, insbesondere nicht die traditionellen Regionalkulturen der Welt. Aber sie legt sich über diese und reduziert auf diese Weise deren informationelle Relevanz in Prozessen der sozialen Interaktion und der Kommunikation. Und ein letzter und für das Argument entscheidender Gesichtspunkt wird darin bestehen, dass die Diversität in der Weltgesellschaft nicht eine residuale Diversität ist, die sich der Persistenz der Regionalkulturen verdankt. Vielmehr handelt es sich um eine neu entstehende Diversität, die aus den Eigenstrukturen der Weltgesellschaft hervorgeht, die sich in dieser Hinsicht gewissermaßen als Produktionsmaschinen von Diversität erweisen.
Abendkolloquium , 13.12.2005
Structure Formation in World Society The Eigenstructures of World Society and the Regional Cultures of the World
Strukturbildung in der Weltgesellschaft
Die Eigenstrukturen der Weltgesellschaft und die Regionalkulturen der Welt
In meinem Jahr am Wissenschaftskolleg werde ich ein theoretisches Buch über das
System der Weltgesellschaft schreiben. In einer Hinsicht geht es bei diesem Unterfan
gen um eine selbstreflexive oder selbstkritische Wendung der Disziplin Soziologie,
die herauszufinden versuchen muß, wie sie ihre Leitbegriffe so reformuliert, dass sie
die gegenwärtige globale soziale Kondition zu verstehen imstande ist. Aber natürlich
zielt das Hauptinteresse meiner Arbeit darauf, das reformulierte Vokabular für ein
Verständnis der Geschichte, der Selbstbeschreibungen, der Strukturen und der Dyna
mik der Weltgesellschaft zu benutzen, also für die Analyse jenes Systems, das sich
spätestens mit der globalen Expansion des europäisch-atlantischen Gesellschaftssys
tems im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert herauszubilden begonnen hat.
Mein Vortrag am Dienstag konzentriert sich auf einen spezifischen, aber zentralen
Ausschnitt aus dem Gesamtvorhaben. In einer Hinsicht kritisiert der Vortrag Theorien
der Weltgesellschaft, die dieses System aus dem Blickwinkel einer sozialen und kul
turellen Vereinheitlichung der Welt analysieren. Er kritisiert auch jene alternative
Position, die die globale Modernität auf den Gesichtspunkt der žmultiplen Modernenœ
zurückführt. Beide dieser im übrigen extrem verschiedenen Theorien unterstellen für
den Prozeß der Entstehung der Weltgesellschaft zu viel an Kontinuität. Statt dessen
analysiert mein Vortrag Strukturmuster, die der Weltgesellschaft eigentümlich sind.
Ich werde sechs dieser Strukturmuster diskutieren, die ich Eigenstrukturen nenne:
Funktionssysteme; formale Organisationen; Netzwerke, insb. Small World-Netz
werke; epistemische Gemeinschaften; Weltereignisse und schliesslich Märkte. Aus
diesen Überlegungen leite ich im nächsten Schritt die Hypothese ab, dass die Weltge
sellschaft eine Art Hyperstruktur ist, die auf der Basis der Dominanz oder der Überla
gerung dieser globalen strukturellen Muster entsteht. Eine solche Hyperstruktur ver
drängt oder eliminiert traditionelle und historische Strukturen nicht, insbesondere
nicht die traditionellen Regionalkulturen der Welt. Aber sie legt sich über diese und
reduziert auf diese Weise deren informationelle Relevanz in Prozessen der sozialen
Interaktion und der Kommunikation. Und ein letzter und für das Argument entschei
dender Gesichtspunkt wird darin bestehen, dass die Diversität in der Weltgesellschaft
nicht eine residuale Diversität ist, die sich der Persistenz der Regionalkulturen ver
dankt. Vielmehr handelt es sich um eine neu entstehende Diversität, die aus den Ei
genstrukturen der Weltgesellschaft hervorgeht, die sich in dieser Hinsicht gewisser
maßen als Produktionsmaschinen von Diversität erweisen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Stichweh, Rudolf (Bielefeld, 2021)
Democratic and authoritarian ... ; volume 1 ; Differentiation, inclusion, responsiveness Democratic and authoritarian political systems in 21st century world society ; volume 1
Stichweh, Rudolf (Bonn, 2017)
The bipolarity of democracy and authoritarianism : value patterns, inclusion roles and forms of internal differentiation of political systems FIW working paper
Stichweh, Rudolf (Luzern, 2010)
Universität nach Bologna : zur sozialen Form der Massenuniversität ; [Vortrag anlässlich des Dies Academicus 2008, Bamberg] Luzerner Universitätsreden ; 19
Stichweh, Rudolf (Berlin, 2010)
Der Fremde : Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 1924
Stichweh, Rudolf (2009)
Autonomie der Universitäten in Europa und Nordamerika : Historische und systematische Überlegungen
Stichweh, Rudolf (Luzern, 2009)
Das Konzept der Weltgesellschaft : Genese und Strukturbildung eines globalen Gesellschaftssystems Workingpaper des Soziologischen Seminars ; 09,01
Stichweh, Rudolf (Wiesbaden, 2009)
Inklusion und Exklusion : Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit
Stichweh, Rudolf (2007)
Dimensionen des Weltstaats im System der Weltpolitik
Stichweh, Rudolf (2007)
Inklusion und Exklusion in der Weltgesellschaft : am Beispiel der Schule und des Erzeihungssystems
Stichweh, Rudolf (Wiesbaden, 2007)
Weltstaat und Weltstaatlichkeit : Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung