Hans Zender
Komponist und Dirigent, Professor (em.) für Komposition
Freiburg/Breisgau
Geboren 1936 in Wiesbaden; verstorben 2019 in Meersburg.
Studierte Komposition, Klavier und Dirigieren in Frankfurt/Main und Freiburg/Breisgau
Arbeitsvorhaben
Kompositionsarbeit an einem Werk für Orchester und Stimmen
Ich möchte ein etwa halbstündiges Stück für große Orchesterbesetzung schreiben, bei dem außer einem Sopran Solo auch noch eine Gruppe stimmungsveränderter Instrumente hinzutritt. In meinen Stücken seit Beginn der neunziger Jahre arbeite ich anstatt mit 12 Tönen pro Oktave mit 72 Tönen, d. h. mit Zwölfteltönen statt mit Halbtönen. Der Vorteil dieser sehr zeit- und arbeitsaufwändigen Technik ist die genaue Kontrolle des mikrotonalen Klangraums, der von der durchschnittlichen Kompositionsweise meist al fresco behandelt wird. Ich habe Wege zur Kontrolle entwickelt, die auf einer Interaktion von technischen Neuerungen und neu geweckter Sensibilität des Komponisten und Musikhörers für diese kleinsten Tonschritte und ihre gleichzeitige Erscheinung im Klang beruhen: eine neue Harmonik ist entstanden.Das oben genannte "Concertino" von Spezialinstrumenten hat u. a. auch die Funktion eines Vorreiters für das große Orchester (das auf normal gestimmten Instrumenten mikrotonal spielen soll): Für das Ohr der Musiker soll möglichst permanent ein Feedback zwischen den Mikrotönen der Spezialinstrumente wie den eigenen Mikrotönen stattfinden; sinnliche Wahrnehmung und technische Arbeit sollen sich ergänzen, um die Herausforderung des Stückes zu bewältigen.
Formal soll das neue Stück einen ganz ungewöhnlichen Zug haben: es soll sich zusammensetzen aus mehreren (3-4) ineinander übergehenden Stücken, die verschiedene Besetzung, Dauer und Charakteristik haben. Das Stück könnte auch in einem nächsten Stück "weitergehen" auf eine ähnliche Weise; das Band, das die verschiedenen Stücke verknüpft, soll die Partie des Soprans sein, welche eine Silbe-für-Silbe-Vertonung eines Gedichtes von Juan de la Cruz enthält. Eine ganze Reihe solcher diskontinuierlich zusammengesetzter Stücke könnten entstehen.
Lektüre- und Hörempfehlung
Zender, Hans. Happy New Ears. Freiburg/Breisgau: Herder, 1991.
Zender, Hans. Wir steigen niemals in denselben Fluss. Freiburg/Breisgau: Herder, 1996.
Jörn Peter Hiekel, Hrsg. Die Sinne denken: Texte zur Musik 1975-2004: Hans Zender. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2004.
Zahlreiche CD-Aufnahmen von eigenen und fremden Werken, u. a.:
(17 CDs) bei CPO mit von Hans Zender dirigierten Werken von der Klassik bis zur Moderne.
Hans Zender: Music to Hear u. a. (Kairos); Schuberts Winterreise: eine komponierte Interpretation (Kairos, BMG); Stephen Climax (Oper) (Edel); Hölderlin lesen I(III (Auvidis).
Franz Schubert: The Complete Symphonies (Hänssler).
Kolloquium, 20.12.2005
Einführung in das kompositorische Denken
Um einen Einblick in kompositorisches Denken zu ermöglichen, möchte ich die formalen Ordnungen des ersten Satzes meines (in 16 Sätze aufgeteilten, mehr als zweistündigen) "Shir hashirim" (Lied der Lieder) zeigen, und zwar zunächst die Art der zeitlichen Entfaltung und dann die Struktur der Klänge. Es geht aber nicht etwa um eine Einführung in dieses Werk - dann würde ich anders vorgehen -, sondern um eine Einführung in kompositorische Denkprozesse; der Ausschnitt aus dem Werk dient der Exemplifizierung dieser Prozesse.
Kompositorisches Denken ist ein strategisches Denken, das der Komponist entwickeln muss, um für ein bestimmtes Werk eine adäquate Ordnung seiner Zeichen zu finden - adäquat den spezifischen geistigen Energien, die er in seinem Werk auf den Hörer übertragen will. Diese Energien sind ausschliesslich mit den Zeichen seines Metiers beschreibbar, d.h. mit Klängen und Zeitabständen. Eine "Übersetzung" dieser Zeichen (bzw. ihrer Anordnung) in Worte oder Bilder hat immer metaphorischen Chararakter.
Alle klanglichen und rhythmischen Vorgänge können restlos in Zahlen ausgedrückt werden - als Frequenzen bzw. als Abstände auf einer Zeitachse, die vom ersten zum letzten Klang des Werkes läuft. Notenschrift ist die chiffrierte Darstellung dieser Zahlenbeziehungen.
Trotzdem ist das Verstehen formaler Zusammenhänge nicht mit dem Verstehen von Musik im vollen Sinn des Wortes gleichzusetzen. Dieses ist vielmehr gebunden an die sinnliche Wahrnehmung "in real time", an den konzentrativen Akt des bewussten Hörens. Musik hörend zu verstehen, würde heissen, den Zusammenhang aller Einzelmomente eines Werkes während der andauernden performance mitzuvollziehen. Der Hörer empfängt mit den Klängen die (den kompositorischen Strategien einbeschriebenen) Intentionen des Komponisten und dechiffriert sie durch einen (eher unbewussten) individuellen Abtastprozess. Er wirkt so an der Konstitution von musikalischem Sinn mit. Hier können - und das manchmal mit grosser Gewalt - auch affektive Reaktionen auftreten. Kenntnis formaler Prozesse aber sowie mehrfaches Hören des betreffenden Werkes sollten hier zu der richtigen Balance im Hörprozess führen und die Warnung Nietzsches vor einer Überbetonung der Gefühle nicht vergessen werden: "....die Musik kann mit ihnen auf direktem Wege gar nichts mehr anfangen, so erfüllt ist jedes dieser Gefühle mit Vorstellungen. Dagegen können diese Gefühle dazu dienen, die Musik zu symbolisieren."
Genau hier zeigt sich die Möglichkeit, Musik und sprachliche Formen zu einer neuen komplexen Einheit zu verbinden - eine besondere Herausforderung für den Komponisten, wenn es sich, wie in diesem Fall, um die Verarbeitung des kompletten Textmaterials des "schönsten Liebesliedes der Weltliteratur" handelt. Sprachliche Zeichen können die rein zahlenmässig definierte Zeichenordnung der Musik intensivieren und verdeutlichen; die Musik wiederum verhilft der Sprachgestalt zu voller sinnlicher und zeitlicher Präsenz. An diesem Punkt mündet das "strategische Denken" des Komponisten in Hermeneutik - und so soll am Ende die Möglichkeit angedeutet werden, nicht (nur) durch affektive Charakterisierung sondern (auch) durch Entscheidungen auf formaler Ebene Musik und Sprache in Beziehung zu setzen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Zender, Hans (Hofheim, 2008)
Hans Zender : vielstimmig in sich Archive zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ; 12
Zender, Hans (Holzgerlingen, 2006)
Schumann-Phantasie : for large orchestra ; (1997) Schumann-Phantasie
Zender, Hans (2006)
Mnemosyne - Hölderlin lesen IV für Frauenstimme, Streichquartett und Zuspielbänder : (2000)
Zender, Hans (Wien, 2006)
Cabaret Voltaire für Stimme und acht Instrumente : (2001/02) Cabaret Voltaire
Zender, Hans (Berlin, 2006)
Symphony V für großes Orchester mit Bariton solo nach Gedichten von Nelly Sachs ; (1987) Sinfonien
Zender, Hans (Berlin, 2005)
Chief Joseph : musikalisches Theater in drei Akten von Hans Zender ; Uraufführung in der Staatsoper Unter den Linden am 23. Juni 2005 Staatsoper Unter den Linden ; 86
Zender, Hans (Baden-Baden, 2004)
The complete symphonies no. 1-8 Sinfonien
Zender, Hans (Wiesbaden, 2004)
Die Sinne denken : Texte zur Musik 1975 - 2003
Zender, Hans (2003)
Zender, Hans (Georgsmarienhütte, 2002)
A survivor from Warsaw : op. 46 ; for speaker, male voices, and orchestra A survivor from Warsaw