Thomas Bauer, Dr. phil.
Professor für Arabistik und Islamwissenschaft
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Geboren 1961 in Nürnberg
Studium der Semitischen Philologie, Islamwissenschaft und Germanistischen Linguistik an der Universität Erlangen-Nürnberg
Arbeitsvorhaben
Die Kultur der Ambiguität
Die vormoderne arabisch-islamische Kultur (8.-19. Jahrhundert) zeichnet sich gegenüber dem Abendland durch eine weit größere Ambiguitätstoleranz aus. Dies zeigt sich in vielen Bereichen der islamischen Wissenschaften (etwa in der Koranexegese, im Islamischen Recht und in den Sprachwissenschaften, wo man, besonders in der Rhetorik, maßgebliche Resultate erzielte), in zahlreichen Gattungen der Literatur, aber auch in der Mentalität der Menschen und in den sozialen Verhältnissen (Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten; Wahrnehmung von Fremdheit; hohe soziale Mobilität). Bezeichnend ist auch die weitgehend konfliktfreie Koexistenz religiöser und säkularer Diskurse in der klassischen islamischen Kultur, die in auffälligem Kontrast zur heute postulierten Untrennbarkeit von Islam und weltlicher Sphäre steht. Unter diesen spezifischen Voraussetzungen blieben dem Islam viele der Krisen des Abendlandes erspart, doch liegt hierin auch eine wichtige Ursache für die aktuellen Konflikte zwischen Islam und westlicher Moderne. Der Zusammenstoß des Islams mit einer Kultur, die eine solche Ambiguitätstoleranz kaum kannte und tendenziell ablehnte, musste zu einer Neuformulierung der Grundlagen des Islams in Form modernitätskonformer Ideologien führen, die sich sowohl in ihrer liberalen pro-westlichen Ausprägung als auch in ihrer aggressiven islamistischen Variante gleichermaßen durch die weitgehende Ablehnung der eigenen kulturellen Tradition auszeichnet. Die Erforschung kultureller Ambiguität verspricht nicht nur Einsichten in andere Kulturen, sondern auch ein besseres Verständnis der eigenenkulturellen Grundlagen, deren Relativität anders als kulturvergleichend nicht erkannt werden kann.
Lektüreempfehlung
Bauer, Thomas. Vom Sinn der Zeit: Aus der Geschichte des arabischen Chronogramms. Arabica 50
(2003): 501-531.
Bauer, Thomas. Rhetorik: Arabische Kultur. In Rhetorik: Begriff Geschichte Internationalität, herausgegeben von
Gert Ueding, 283-300. Tübingen: Niemeyer, 2005.
Bauer, Thomas und Angelika Neuwirth, Hrsg. Ghazal as World Literature: Transformations of a Literary
Genre. Beirut: Orient-Institut, 2005 (Beiruter Texte und Studien, Bd. 89, darin S. 9-55).
Kolloquium, 24.04.2007
Die Varianten Gottes. Der Koran im Zeitalter der Ambiguität
1. Individuen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Toleranz gegenüber Phänomenen der Nichteindeutigkeit. In der Psychologie wurde der Begriff der "Ambiguitäts(in)toleranz" 1949 durch Else Frenkel-Brunswik eingeführt (Intolerance of ambiguity as an emotional and perceptual personality variable, Journal of Personality 18, 108-143). Aber auch soziale Gruppen unterscheiden sich in ihrem Umgang mit Ambiguität. Es erscheint deshalb sinnvoll, kulturelle Ambiguität als Forschungsrichtung der Kulturwissenschaften, etwa der Historischen Anthropologie, zu etablieren.
Definition: Ein Phänomen kultureller Ambiguität liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder zwei konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen und Sinnzuweisungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskursen bezieht, oder wenn gleichzeitig innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen ausschließliche Geltung beanspruchen kann.
2. Die nachformative, vormoderne islamische Kultur (hier untersucht am Beispiel Ägypten/Syrien im Zeitraum von ca. 1000 bis 1500) zeichnet sich durch eine hohe Ambiguitätstoleranz aus, während Zygmunt Bauman für die westliche Moderne feststellt: "Die typisch moderne Praxis, die Substanz ... des modernen Intellekts, des modernen Lebens ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen ... und alles zu unterdrücken und zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte." (Moderne und Ambivalenz, Hamburg 2005, S. 22).
3. So wird etwa die arabisch-islamische Gelehrtenkultur durch zwei durchaus widersprüchliche Ideale beherrscht: Der Gelehrte soll sich einerseits durch Frömmigkeit und religiöse Gelehrsamkeit auszeichnen, andererseits ein eleganter gentiluomo sein, wobei letzteres etwa auch das Verfertigen von Liebes- und Weingedichten einschloß. Während die Vormoderne nicht unter diesem Widerspruch litt, lösen solche Gedichte in der modernen arabischen Welt Verwirrung und Abscheu aus. Ein sehr gespanntes Verhältnis der arabischen Welt zur eigenen literarischen Tradition ist die Folge.
4. Ein besonders aufschlußreiches und für die islamische Kultur fundamentales Beispiel dafür, daß die klassische islamische Kultur nicht bestrebt war, Ambiguität auszumerzen, sondern zu zähmen, bietet die Herangehensweise an den Text des Korans. Die traditionelle Konzeption des Korantexts, hier exemplifiziert an einem Werk des Damaszener Gelehrten Ibn al-Dschazari (1350-1429), betont die primär mündliche Überlieferung des Korans und geht davon aus, daß der Koran, Gottes unerschaffenes Wort, mitsamt zahlreicher, in ihrer Fülle unerschöpflichen Textvarianten offenbart wurde, die dem Menschen die Rezeption des Texts erleichtern, ihn aber gleichzeitig vor die Aufgabe stellen, die überbordende Ambiguität zu "zähmen", d.h. den Wahrscheinlichkeitsgrad divergierender Überlieferungen zu ermitteln. Um für den kultischen Gebrauch keine Risiken einzugehen, werden zehn verschiedene "Koranlesarten" (qira'a, Plural qira'at) allgemein akzeptiert, doch sind weitere Varianten, deren Authentizität weniger wahrscheinlich ist, Gegenstand der Koranwissenschaft. Infolge der gleichzeitigen Gültigkeit mehrerer Lesarten ist der Koran kein linearer, sondern ein mehrdimensionaler Text mit offenen Rändern. Die Gesamtheit aller Varianten des göttlichen Textes sind dem Menschen ebensowenig bekannt wie die unausschöpfliche Fülle seiner Bedeutungen des Textes. Dieses ihrem Wesen nach "postmoderne" Textverständnis wird weder von der westlichen Orientalistik ernstgenommen noch von Muslimen verschiedenster Strömungen akzeptiert. Sowohl pro-westliche Liberale als auch Fundamentalisten und Salafiten verleugnen oder verschweigen die Existenz von Textvarianten des Korans. Christliche Missionare und muslimische Apologeten streiten sich darum, wessen heiliges Buch weniger Varianten hat. Die Pflege der qira'at ist zur Domäne einer kleinen Gruppe von im traditionellen Islam verhafteten Muslimen geworden (darunter viele Sufis), während das traditionelle, ambiguitätstolerante "postmoderne" Textverständnis heute weitgehend unbekannt ist.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Bauer, Thomas (Berlin, 2011)
Die Kultur der Ambiguität : eine andere Geschichte des Islams
Bauer, Thomas (Chicago, Ill., 2007)
In search of "post-classical literature" : a review article
Bauer, Thomas (2006)
Die Badīʿiyya des Nāṣīf Al-Yāziğī und das Problem der spätromantischen arabischen Literatur
Bauer, Thomas (2005)
Bauer, Thomas (2005)
Vertraute Fremde : das Bild des Beduinen in der arabischen Literatur des 10. Jahrhunderts
Bauer, Thomas (2005)
Mamluk literature : misunderstandings and new approaches
Bauer, Thomas (Würzburg, 2005)
Ghazal as world literature Beiruter Texte und Studien ; ...
Bauer, Thomas (2003)
Literarische Anthologien der Mamlūkenzeit
Bauer, Thomas (2003)
Vom Sinn der Zeit : aus der Geschichte des arabischen Chronogramms
Bauer, Thomas (2003)
Communication and emotion : the case of Ibn Nubātah's Kindertotenlieder