Petra Gehring, Dr. phil.
Professorin der Philosophie
Technische Universität Darmstadt
Geboren 1961 in Düsseldorf
Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaften
an den Universitäten Gießen, Marburg und Bochum
Arbeitsvorhaben
"Leben": Bausteine zur Geschichte und Metaphysik eines schillernden Begriffs
Angestrebt wird eine Rekonstruktion der historischen Diskurse von "Leben", welche die natur- und sozialwissenschaftlichen Dimensionen des Konzeptes und die philosophische Begriffsgeschichte zueinander ins Verhältnis setzt. Dabei werden neben der Zeit um 1800 - unstreitig die take off-Phase desjenigen quasi-stofflichen Lebensbegriffs, der die Modellierung biologischer, anthropologischer und biomedizinischer Sachverhalte grundiert - vor allem auch die Epochenschwelle um 1900 und aktuelle Biopolitik-Diskussionen von Interesse sein. Hier richten sich Arbeitsfragen (a) auf die juridischen Fassungen von "Leben" und "Lebenswert" in der (rechts)politischen Reformliteratur vor und um 1900, (b) auf "Leben" und "Lebensqualität" in deutschsprachigen Diskursen in der Sozialethik und Sozialpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, (c) auf angelsächsisch-deutsche Wechselwirkungen der Begriffe life/Leben und auf die interdisziplinäre Entstehungsgeschichte der Programmatik von Life Sciences bzw. Lebenswissenschaft(en) und (d) auf ausgewählte Aspekte einer Metapherngeschichte des Lebens.Lektüreempfehlung
Gehring, Petra. Theorien des Todes: zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag, 2010.
-. Traum und Wirklichkeit: Zur Geschichte einer Unterscheidung. Frankfurt/ Main und New York: Campus, 2008.
-. Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens. Frankfurt/Main und New York: Campus, 2006.
Kolloquium, 07.01.2011
Leben: Geschichte und Metaphysik eines schillernden Begriffs
Leben ist ein großes Wort: oft verwendet, selten definiert, in äußerst verschiedenen Gegenstandsfeldern zuhause. Auch für die Wissenschaftstheorie und die Ideengeschichte (history of ideas) oder die Be-griffsgeschichte (history of concepts) ist "Leben" ein schwieriger Fall. Teils meint der Begriff einen empirischen Sachverhalt, dann stehen hinter dem Ausdruck naturwissenschaftliche Modelle oder auch Formen der sozialwissenschaftlichen Beobachtung oder Evaluation. Teils meint der Begriff aber auch etwas, das sich der messenden Bobachtung entzieht - vom einen und unverwechselbaren Leben, das ein Individuum führt (und wir als "unser" Leben erleben), über die Lebendigkeit eines Kunstwerkes bis hin zum "guten Leben" der Ethik (also dem Leben, wie es sein könnte oder sollte). Vertraut ist uns überdies, dass man "Wissenschaft" und "Leben" einander entgegensetzen kann: Leben fungiert dann als Inbegriff des Neuen, des Wilden, dessen, was feste Verstandesordnungen sprengt. Wir assoziieren es mit Handeln, Entscheiden und ganz generell mit Wandel: Leben ist die Wirklichkeit, in der immer alles noch anders kommen kann, als Wissenschaft denkt.
Meine Untersuchung setzt um 1800 ein, in dieser Zeit entstehen nicht nur Chemie und Biologie, sondern auch ein neuer, naturstofflicher Begriff von Leben, der dem - viel älteren - alltagsnahen Erzählbegriff des Lebens zur Seite tritt und (mit Physiologie, Populationsforschung, Zell- und Evolutionsbiologie, Genetik usw.) zum eigentlich "wissenschaftlichen" Modellfall des Lebens wird.
Im Vortrag möchte ich anreißen, wie sich im 19. und 20. Jahrhundert und bis heute, die Geschichte des wissenschaftlichen Lebensbegriffs gleichwohl nicht als Geschichte eines primär "biologischen" Lebens auffassen lässt, sondern Konzepte des sittlichen, des sozialen, des in Handlung, Wille und anderen Formen sich manifestierenden Lebens durchgehend mit der im engeren Sinne naturwissenschaftlichen Linie des Lebensdenkens parallel gehen und für Interferenzen sorgen.
Eine wichtige Zäsur stellt aus dieser Perspektive die Diskurslage "um 1900" dar. Spätestens hier löst ein - eng an die Termini "Wirklichkeit" und "Wert" gebundener - Kontinuumsbegriff des Lebens die Reste der romantischen Leitdifferenz von "Natur" und "Geist" bzw. "Kultur" ab. Mein Projekt geht vor diesem Hintergrund auf die Formation der Lebenswissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein und untersucht die Frage, wie sich die Lebensbegrifflichkeit "um 2000" charakterisieren lässt. Der Vortrag beschränkt sich hierzu auf wenige Überlegungen. Er endet mit Spekulationen zu der Frage, was dem Begriff "Leben" so wandlungsfähig und den Diskurs des Lebens so stabil macht.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Gehring, Petra (2016)
Archivprobleme : Petra Gehring
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Wozu braucht Public Health Ethik - und umgekehrt?
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Parrhesia : Foucault und der Mut zur Wahrheit [Thesen]
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Die Kränkung der Venus : Astronomie zwischen Wissenschaftsgeschichte und Astronoetik
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Ort und Orientierung - zur Einleitung
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