Oliver Lepsius, Dr. iur., LL.M. (Chicago)
Professor für Öffentliches Recht, Allgemeine und Vergleichende Staatslehre
Universität Bayreuth
Geboren 1964 in München
Studium der Rechtswissenschaft an den Universitäten Bonn, München und an der University of Chicago
Arbeitsvorhaben
Demokratietheorie und Legitimationsstrukturen
"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", postuliert das Grundgesetz. Wie aber lässt sich die Legitimationsbedürftigkeit hoheitlicher Gewalt im Angesicht neuer Herrschaftsverhältnisse sicherstellen? Man denke an funktionale Selbstverwaltungskörperschaften, die Verlagerung von Hoheitsbefugnissen auf Private, europäische Rechtsetzung ohne europäisches Staatsvolk, Standardsetzung durch internationale Organisationen, quasi-hoheitliche Machtstellungen von privaten Organisationen auf nationaler und internationaler Ebene. Ich möchte Elemente einer juristischen Demokratietheorie für den modernen Verfassungsstaat formulieren.Legitimation kann vom Demos (Volk) und vom Einzelnen ausgehen. Auch unabhängig von seiner Zugehörigkeit zum Demos verfügt der Einzelne über eine individuelle Legitimationskraft, denn Mehrheitsentscheidungen finden
an Minderheitenrechten ihre Grenzen. Grundrechte begründen Mitspracherechte und unterbrechen den Herrschaftsanspruch der demokratischen Mehr. Man kann daher zwei Legitimationsquellen unterscheiden, die zwar beide
auf das Individuum zurückgehen, dieses aber in anderen Rechtspositionen erfassen: als Teil eines Kollektivs "Volk", das über allgemeine Gleichheitskriterien (Bürger-/Wahlrecht) konstituiert wird, sowie als individueller Grundrechtsträger, dessen Rechtssphäre über Freiheitsrechte gesichert wird. Gleichheit und Freiheit markieren demzufolge zwei unterschiedliche legitimationstheoretische Ausgangspunkte.
Auf ihnen aufbauend möchte ich ein "Zwei-Säulen-Modell" entwickeln. Beide Säulen sind, auch wenn sie im Individuum wurzeln, nicht personenidentisch. Daran schließt sich die Frage an, ob sich mit dieser dualistischen Legitimationsstruktur neue Legitimationssubjekte konstruieren lassen, etwa territorial radizierte "Teilvölker" (als Ausschnitt des Demos) oder sachlich begrenzte "Kreise von Betroffenen" (als Kollektive von Grundrechtsträgern). Dies ist eine juristisch besonders drängende Fragestellung, die durch neue supra- und internationale Herrschaftsformen genauso ausgelöst wird wie durch die Herrschaftsausübung durch neue Verwaltungsorganisationen oder durch eine privatisierte Expertokratie.
Lektüreempfehlung
Lepsius, Oliver. "Themen einer Rechtswissenschaftstheorie." In Rechtswissenschaftstheorie, herausgegeben von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius, 1-49. Tübingen: Mohr Siebeck, 2008.
-. "Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?" In Staatsrechtslehre als Wissenschaft, herausgegeben von Helmuth Schulze-Fielitz, 319-366. Berlin: Duncker & Humblot, 2007.
-. "Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus." In Demokratie und Freiheit, herausgegeben von Martin Bertschi u. a., 123-180. Stuttgart: Boorberg, 1999.
Kolloquium, 09.11.2010
Legitimationsstrukturen: Probleme und Perspektiven
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, verkünden zahlreiche Verfassungen. Der Verfassungsstaat westlicher Prägung beruht auf der Idee seiner demokratischen Legitimation. Was einfach klingt, birgt erhebliche Rechtsprobleme. Im Kolloquium möchte ich zuerst einen Überblick über einige Rechtsfragen der demokratischen Legitimation geben, verschiedene Probleme ansprechen und Ansätze einer eigenen Legitimationstheorie vorstellen, die hoffentlich eines Tages ein besseres normatives Zurechnungsmodell bereitstellen kann.
Die Idee demokratischer Legitimation, auch Volkssouveränität genannt, scheint alle Staatsgewalt im Volkswillen zu gründen. Dort fangen die Probleme gleich an: Wer gehört zum Volk: Staatsangehörige oder Einwohner? Jeder oder nur Volljährige? Zählen Staatsbürger, die im Ausland leben, zum Inlandsvolk? Und selbst wenn wir die Zusammensetzung des Volkes bestimmen könnten, wie wollten wir seinen Willen erheben? In Deutschland wird seit nunmehr 20 Jahren die Legitimationskettentheorie des Bundesverfassungsgerichts diskutiert. Sie verlangt eine doppelte Zurechnung der öffentlichen Gewalt an das Volk, zum einen in personell-organisatorischer Hinsicht (Legitimation des Amtsträgers), zum anderen in sachlich-inhaltlicher Hinsicht (Legitimation des Herrschaftsakts). Hierin lag zweifelsohne ein erheblicher theoretischer Fortschritt, der sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die Rechtswissenschaft befähigte, aus dem Demokratieprinzip einen sanktionsfähigen rechtlichen Prüfungsmaßstab zu machen, an dem die Ausübung von Staatsgewalt scheitern kann. Gleichwohl bedarf die Theorie der Legitimationsketten Weiterentwicklungen und Ergänzungen.
Meine Vorschläge basieren auf zwei Überlegungen: Zum einen kann man die Legitimationskette zu einem Legitimationsdreieck mit einer relationalen anstelle einer substantiell-linearen Zurechnung modifizieren. Anders ausgedrückt: Der Satz "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" enthält drei Komponenten, Legitimationssubjekt, Legitimationsobjekt und Legitimationsverhältnis, die in unterschiedlichen Relationen konstruktiv aufeinander bezogen werden können. Auf diese Weise erhalten wir eine präzisere und zugleich dynamischere Legitimationstheorie, die nicht auf einen substantiellen Volksbegriff rekurrieren muss. Wer die Legitimationskraft des Subjekts in Abhängigkeit vom zu legitimierenden Objekt bestimmt, kann je nach der konkreten Herrschaftsgewalt verschiedene Legitimationssubjekte denken. Zum anderen möchte ich die legitimationsstiftende Kraft des Individuums hervorheben. Auch hier bestehen Probleme und Grenzen: Kann das Individuum hoheitliche Gewalt außerhalb seines eigenen, etwa grundrechtlich bestimmten, Rechtskreises legitimieren? Lassen sich aus einer Zusammenballung von Individuen neue Legitimationskörper als Kollektive von Grundrechtsträgern (Kreise von Betroffenen) konstruieren? Darf der Gesetzgeber solche Legitimationskörper ("Teilvölker") schaffen oder gelingt dies nur auf dem Weg der Selbstorganisation?
Schließlich hoffe ich zu zeigen, dass beide Argumentationsstränge nur aufeinander bezogen überzeugen: An den Grenzen des am Demos orientierten Legitimationsdreiecks setzt die legitimationsstiftende Kraft des Individuums an; an den Grenzen der individuellen Rechtsbetroffenheit hingegen die Zurechnung zum Demos. Mit anderen Worten: Das Legitimationssubjekt hat eine individualitische Bezugsgröße, das Legitimationsobjekt hingegen besitzt einen egalitären, kollektiven Bezug. Momentan scheint dies noch umgekehrt gesehen zu werden.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Lepsius, Oliver (Tübingen, 2023)
Des Lebens Überfluß : Erinnerungen eines ausgewanderten Juristen
Lepsius, Oliver (Oxford, UK, 2020)
Dieter Grimm : advocate of the constitution Ich bin ein Freund der Verfassung
Lepsius, Oliver (Oxford, United Kingdom, 2020)
The German Federal Constitutional Court : the court without limits Das entgrenzte Gericht
Lepsius, Oliver (Tübingen, 2017)
Soziologie und Soziologen : Aufsätze zur Institutionalisierung der Soziologie in Deutschland
Lepsius, Oliver (Tübingen, 2017)
"Ich bin ein Freund der Verfassung"
Lepsius, Oliver (Tübingen, 2016)
Relationen: Plädoyer für eine bessere Rechtswissenschaft Fundamenta juris publici ; 5
Lepsius, Oliver (Tübingen, 2016)
Max Weber und seine Kreise : Essays
Lepsius, Oliver (Tübingen, 2015)
Soziale Schichtung in der industriellen Gesellschaft
Lepsius, Oliver (Tübingen, 2015)
Lepsius, Oliver (Berlin, 2011)
Das entgrenzte Gericht : eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht Edition Suhrkamp ; 2638