Karl Schlögel, Dr. phil.
Professor für Osteuropäische Geschichte
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Geboren 1948 in Hawangen b. Ottobeuren, Bayern
Studium der Philosophie, Soziologie, Osteuropäischen Geschichte und Slavistik an der Freien Universität Berlin und an der Staatlichen Lomonosow-Universität Moskau
Arbeitsvorhaben
Auf der Wolga - eine russländische Geschichte
Anders als Rhein, Donau oder Themse führt die Wolga, der längste Fluss Europas, in der Geschichtsschreibung eher eine Randexistenz. Dies war nicht immer so. Um 1900 kann man von einem wahren Boom der Wolga-Literatur sprechen. Dieser stand im Kontext der wirtschaftlichen Dynamik des späten Russischen Reiches und der Entdeckung der Provinz, also des Russlands jenseits der Hauptstädte. Die extreme Zentralisierung zuzeiten der Sowjetunion hat die Regionen und die Provinzen, darunter auch den Wolgaraum, erneut marginalisiert. Mit dem Ende der Sowjetunion scheint eine erneute Verschiebung der Relation von Zentrum und Peripherie, von Hauptstädten und Regionen in Gange gekommen zu sein - mit Folgen für die russländische Geschichtsschreibung. Im Wolga-Raum lassen sich fast alle wesentlichen Elemente russischer Geschichte und Identitätsbildung ausmachen - und zwar vor Ort und in einem beschreibbaren Raum: geographische und hydrographische Bedingungen, Staats- und Gesellschaftsbildung, Industrialisierung, Revolutionen und Bürgerkrieg, Ausbau der Infrastruktur usf. Ausgehend vom Wolgaraum als einem zentralen Schauplatz russländischer Geschichte ist das Verfahren der Erschließung und Darstellung nicht nur chronologisch, sondern räumlich-topographisch definiert. Es folgt dem Lauf des Stromes, seinem hydrographischen System, dem Netzwerk der an ihm liegenden Städte, den Handelswegen, Staustufen usf. und will so einen Blick auf die Produktion bzw. den Zerfall und die Transformationen des Wolgaraumes lenken. Im Zentrum der Explorationen stehen dabei die Prozesse, die den Wolgaraum am nachhaltigsten betroffen haben, jene des 20. Jahrhunderts. Der Modus der Erkundung ist die Bewegung im Raum, d. h. die Reise, und die ihr am meisten angemessenen Darstellungsformen sind Karten, Bildmaterial, die Semiotik der Landschaften, museale Repräsentationen. Die "Lesbarkeit der Welt" (Hans Blumenberg) soll hier an einem Großraum, der die Qualitäten des "pars pro toto" besitzt und doch überschaubar bleibt, durchgespielt werden.Lektüreempfehlung
Schlögel, Karl. Terror und Traum: Moskau 1937. München: Hanser, 2008.
-. Das Russische Berlin: Ostbahnhof Europas: München: Hanser, 2007.
-. Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München: Hanser, 2003.
Kolloquium, 01.02.2011
Die Wolga oder wie man die Geschichte eines Kulturraums erzählt
Trotz der Tatsache, dass die Wolga der längste Fluss Europas ist und das Kernland des europäischen Russland darstellt, gibt es derzeit keine Forschung zur Wolga, die mit den Arbeiten zu den anderen großen Strömen wie der Donau, dem Rhein oder der Themse vergleichbar wäre. Allerdings war das nicht immer so. Nach dem Krieg war Westeuropa im Wesentlichen abgeschnitten von der Sowjetunion, und die sowjetischen Wissenschaftler konzentrierten sich auf die Hauptstädte und schenkten der Kulturgeschichte der Provinzen nur wenig Aufmerksamkeit. Diese Situation hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der UdSSR dramatisch verändert.
Ich habe vor, eine "Geschichte der Wolga" zu schreiben und habe schon die ersten Schritte gemacht - einschließlich einiger Reisen in den letzten Jahren. Während meiner Zeit am Wissenschaftskolleg möchte ich den Prozess der "ursprünglichen Akkumulation" von Geschichtswissen abschließen und mich mit den narrativen Problemen auseinandersetzen, die diese Geschichte mit sich bringt. Meines Erachtens haben diejenigen, die in den 1970ern das Ende der großen Erzählungen verkündet haben, nicht Recht. Vielmehr glaube ich an die Erneuerung und Wiederbelebung der Geschichtserzählung.
In meinem Vortrag geht es mir in erster Linie nicht darum, eine kurze Geschichte der Wolga als Repräsentantin des russischen Kernlandes zu schreiben. Vielmehr möchte ich theoretische und methodische Probleme erörtern. Zunächst möchte ich für die Relevanz der alten Idee einer histoire totale plädieren, für die Erkenntnisse, die man mit dieser Herangehensweise gewinnen kann, aber ich will auch über die Risiken dieses Ansatzes sprechen. Flüsse zeigen zwar die Auswirkungen menschlichen Handelns, aber sie sind nicht menschengemacht, sie sind ein Teil der Natur. Ich möchte Ihnen eine allgemeine Vorstellung von der Komplexität von Landschaften, Stadtlandschaften oder in diesem Fall von Flusslandschaften vermitteln. Auch möchte ich kurz darauf eingehen, warum man die Wolga als ein Zusammentreffen vieler Schichten der russischen (und eurasischen) Geschichte analysieren kann. Aber wenn ich die Wolga nicht enzyklopädisch und vornehmlich in ihrer Chronologie beschreiben möchte, wie kann ich ihre Geschichte dann erzählen? Wie schon in früheren Arbeiten will ich etwas versuchen, das ich "die Zeit im Raum lesen" nenne - eine Formel, die ich aus Richard Wagners Parsifal entnommen habe: "Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit". Das heißt, Geschichte hat nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Dimension: die "Verräumlichung" von Geschichte eröffnet neue Möglichkeiten, die Vergangenheit zu erzählen und sie sogar auch anders zu verstehen. Ort und Raum stehen für die Simultaneität und Koexistenz von Dingen und Ereignissen, die in einer ausschließlich zeitlichen, unilinearen Erzählung für gewöhnlich getrennt und isoliert aufeinander folgen. Liest man die Zeit im Raum, rücken die natürlichen und menschengemachten Umwelten, Landschaften, Stadtlandschaften, Oberflächen und öffentliche Räume gleichermaßen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese Betrachtungsweise erschließt uns neue Quellengattungen und erteilt dem Visuellen offenkundig gewisse Privilegien. In der Vergangenheit hat mich Walter Benjamins flânerie als Modus der Bewegung wie der Erkenntnis inspiriert. Auch fand ich Mikhail Bakhtins Begriff des Chronotopos in der Erforschung der Literatur hilfreich. In diesem Projekt versuche ich, das Verhältnis von Zeit und Raum noch einmal neu zu überdenken.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Schlögel, Karl (Paris, 20142014)
Le Berlin russe Das Russische Berlin, Ostbahnhof Europas <franz.>
Schlögel, Karl (Princeton, 2023)
The Soviet century : archaeology of a lost world Das sowjetische Jahrhundert
Schlögel, Karl (München, 2022)
Entscheidung in Kiew : ukrainische Lektionen Entscheidung in Kiew
Schlögel, Karl (München, 2017)
Das sowjetische Jahrhundert : Archäologie einer untergegangenen Welt Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung
Schlögel, Karl (München, 2014)
Archäologie des Kommunismus oder Russland im 20. Jahrhundert : ein Bild neu zusammensetzen ; [erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten in der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung am 8. Mai 2013] Themen ; Bd. 99
Schlögel, Karl (2012)
Niz̆nij Novogorod 1896 : Weltausstellung an der Wolga oder Russlands Aufbruch ins 20. Jahrhundert
Schlögel, Karl (Stuttgart, 2011)
Narrative der Gleichzeitigkeit oder Die Grenzen der Erzählbarkeit von Geschichte
Schlögel, Karl (Moskva, 2011)
Terror i mecta : Moskva 1937 Terror und Traum