Hans Ulrich Gumbrecht, Dr. Dr. h.c. mult.
Albert Guérard Professor in Literature
Stanford University
Born in 1948 in Würzburg
Studied Romance and German Philology at the University of Constance
Arbeitsvorhaben
Denis Diderot - eine neue Biografie
A conventional way of describing this project would start out with the still-existing canon of the French and European Enlightenment. Without a doubt, Voltaire, Diderot, and Rousseau are the three most frequently mentioned protagonists of the French Enlightenment - and the importance of the work that each of them produced is considered to be such that European Enlightenment is hard to imagine without all three of them. Now, within this canon crystallization, the most central, most typical, and therefore perhaps least provocative character is Voltaire, whose thought and writing stand for "rationality", and who participated in all kinds of movements and projects that we associate with that foundational historical period. Rousseau, by contrast, is much less "representative", much more critical of his own time (and of certain dynamics of the Enlightenment) - which is why Rousseau is today often considered to be the most "profound" of the Enlightenment philosophers. Clearly, Diderot's position in this canon is "in between", but an in-between that could never be associated with "mediation" (for example, a "mediation" between the positions of Voltaire and Rousseau). Diderot, for his part, is of course "central" in a different, almost institutional way - as the mastermind behind the project of the 18th-century "Encyclopédie" (and as the one protagonist who had the stamina to finish that gigantic project). But the Diderot that will interest me - and for whose characterization and understanding I believe that the discursive form of biography is particularly promising - is the Diderot who was so impressed with the (from our perspective: productive) shortcomings, excesses, and explosions of the Enlightenment (and here I quote the title of a compact seminar that I will teach at Weimar/Jena in June 2011). Diderot, for example, was intellectually obsessed with the question whether and how the human organs of perception might (or might not) be able to provide us with an adequate representation of the material world surrounding us. More than anyone in his time, perhaps, Diderot resisted the general flow of "modernity", in the sense of a growing spiritualization and a growing abstraction in human relationship to the world of objects. How this fascination could turn, almost literally, into an "explosion of Enlightenment", can be seen in Diderot's fabulous (but not widely-read) text on the "Rêve d'Alembert", a fictional narrative in which he explodes the boundary between abstract world-description, on the one hand, and, on the other, an exclusively sensual ("erotic" and "material") relationship to the world. This "materialistic" and "erotic" relationship to the things of the world seems to circumscribe what is most interesting in Diderot's work and in Diderot's life for us in the early 21st century. At the same time, I believe that this "relationship to things of the world" is not only largely motivated by Diderot's reaction to his contemporary epistemology; it is also a productive obsession that we understand best if we approach it biographically - for example (and this is a stage of my work to which I am particularly looking forward), through the months of Diderot's visit to St. Petersburg, under the protection of Catherine the Great.Recommended Reading
Gumbrecht, Hans Ulrich. Stimmungen lessen: über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. Munich: Hanser, 2011.
-. Diesseits der Hermeneutik: Die Produktion von Präsenz. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2004.
-. 1926: Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003.
Kolloquium, 29.05.2012
Wer war Denis Diderot - und was kann er für uns sein?
Das Buch über Denis Diderot, das in meinem Kopf langsam Form annimmt, bezieht sich und reagiert auf eine Kritik an der Aufklärung (hauptsächlich) des 18. Jahrhunderts, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Standardkonfiguration herausgebildet hat. Aus offenbar guten Gründen wird in dieser Konfiguration die normative Selbstreferenz angeklagt, die wir aus der Aufklärung ererbt haben; man wirft ihr einen Mangel an Konkretheit, an Sinnlichkeit und an Offenheit für die Welt der Gegenstände vor. Dadurch tritt die Frage in den Vordergrund, ob der "Prozess der Moderne" als Prozess der "Entzauberung" nicht ein paar Schritte zu weit gegangen ist (sodass eine "rationale Wiederverzauberung" eine entscheidende kulturelle und sogar politische Herausforderung unserer Gegenwart sein könnte). Ich glaube (und ich möchte auch versuchen, dies darzulegen), dass (a) diese Anliegen weniger eine Kritik an bestimmten Defiziten sind, sondern das Ergebnis einer grundlegenden Verschiebung der Perspektive, von der aus wir die "Aufklärung" betrachtet haben; und dass (b) diese Verschiebung der Perspektive auf die Entstehung einer neuen "Konstruktion der Zeit" ("Chronotop") zurückgeht, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts jene Zeitkonstruktion ersetzt, die wir früher für gewöhnlich "historisch" nannten.
In unserer eigenen neuen kulturellen und intellektuellen Gegenwart, in der Gegenwart eines veränderten Chronotops, geht es weniger darum, die Werte der Aufklärung zu kritisieren oder zu ersetzen; vielmehr sehnen wir uns nach einer anderen Aufklärung, nach einer weniger deduktiven und (unter anderem) stärker obsessiven Aufklärung, nach einer kulturellen Dimension, auf die ich mich (metaphorisch) als "Explosionen und Exzesse" der Aufklärung beziehe. Auf diese Weise öffnet sich unser Blick für eine Aufklärung, für die - mehr als je zuvor - Denis Diderot und sein Werk die faszinierendste Verkörperung und Entfaltung sind - nach Voltaire für das 19. Jahrhundert und Rousseau für das 20. Jahrhundert. Es ist dieser Diderot der Weltoffenheit und des Materialismus, des ästhetischen Enthusiasmus, der Sinnlichkeit und des gelegentlich (in unseren Augen) schlechten Geschmacks, den ich verstehen, festhalten und feiern will.
In meinem Vortrag möchte ich die Frage - als diskursives oder vielmehr "schriftstellerisches" Problem - erörtern, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann. Genauer gesagt: Wenn die Biographie anscheinend ein angemessener Rahmen ist, um die vielfältigen Dimensionen von Diderots Zeiten und Texten zusammenzubringen (obwohl es im Vergleich zu Voltaire und Rousseau in Diderots Leben vielleicht nicht sehr viele dramatische Momente und Wendepunkte gab), liegt auf der einen Seite eine offenkundige Spannung zwischen dem Subgenre der Gelehrtenbiographie, die Personen aus der Vergangenheit als Allegorien normativer Rollen darstellt (was Diderot für uns sein kann), und der Konkretheit auf der anderen Seite, dem Leben-in-der-Präsenz, das Diderot fast unvermittelt für uns (oder zumindest für mich) so faszinierend macht. Wie kann ich mich zum Beispiel mit Diderots Obsession in Bezug auf die Frage befassen, wie ein perfekter Tag auszusehen hat, wie kann ich auf eine verblassende erotische Spannung anspielen, die man - spät in ihrer beider Leben - in den Gesprächen zwischen Katharina der Großen und Diderot spüren kann, wie kann ich meinem Wunsch nachgeben und herausfinden, wer Denis Diderot war - und dennoch ein Buch schreiben, das mehr intellektuellen Biss hat als die typische ("niedliche") neo-historistische Monographie?
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Gumbrecht, Hans Ulrich (Berlin, 2012)
Nach 1945 : Latenz als Ursprung der Gegenwart After 1945 <dt.>
Gumbrecht, Hans Ulrich (Berlin, 2012)
Präsenz Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft ; 1942
Gumbrecht, Hans Ulrich (Stanford, Calif., 2011)
What is life? : the intellectual pertinence of Erwin Schrödinger Geist und Materie <engl.>
Gumbrecht, Hans Ulrich (2011)
Introduction : the sustainability of Erwin Schrödinger's Thought
Gumbrecht, Hans Ulrich (München, 2011)
Stimmungen lesen : über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur Edition Akzente
Gumbrecht, Hans Ulrich (2010)
Verstimmte Freiheit : zehn Bilder aus der sozialdemokratisierten Universität
Gumbrecht, Hans Ulrich (2010)
Gumbrecht, Hans Ulrich (Göttingen, 2010)
Warum soll man die Geisteswissenschaften reformieren? : eine etwas amerikanische Frage Osnabrücker Universitätsreden ; [4]
Gumbrecht, Hans Ulrich (Berlin, 2010)
Unsere breite Gegenwart Edition Suhrkamp ; 2627