Dirk von Petersdorff, Dr. phil.
Professor für Neuere Deutsche Literatur
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Geboren 1966 in Kiel
Studium der Germanistik und Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität Kiel
Arbeitsvorhaben
Die Ironiker
Quintilian sagt über Sokrates, dass hier ein gesamtes Leben Ironie zu enthalten scheine -"cum etiam vita universa ironiam habere videatur"). Um die Ironie als Form der Weltwahrnehmung und Lebensgestaltung geht es in meinem Arbeitsvorhaben. Dabei nehme ich die Zeit von der Frühromantik bis zur Gegenwart in den Blick, weil die Ironie seit dem späten 18. Jahrhundert eine neue Virulenz erhält. Das hat mit der Entwicklung einer Kultur ohne Zentrum und mit der Erkenntnisunsicherheit der Moderne zu tun. Die Ironie reagiert darauf, indem sie Äußerungen, Behauptungen und Ansprüche unter Vorbehalt stellt. Damit ist allerdings keine Wahrheitsnegation verbunden; die ironischen Dementis ergeben sich gerade aus dem Postulat einer zwar nicht fixierbaren, aber doch vorhandenen Wahrheit.Das Arbeitsvorhaben stellt nicht die Theoriearbeit, sondern die ironische Praxis ins Zentrum. Untersucht werden ästhetische, mediale und alltagspraktische Formen der Ironie: Von der Wahrheitssuche Clemens Brentanos, über die "ernsten Scherze", mit denen Goethe seinen Faust erlöst, über Heines spöttische Lieder, Nietzsches "Menschliches, Allzumenschliches" bis hin zu Thomas Manns Kämpfen von Reflexivität und Vitalität sowie Hans Magnus Enzensbergers und Richard Rortys Wiedergewinnung der Ironie. Um das Zentrum der Literatur und Philosophie gruppieren sich andere Wissenschaften und Künste wie Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie, Bob Dylans Gesänge vom Vorläufigen und vom Absoluten oder Frank Gehrys "sense of movement".
Die scheinbare Heterogenität der Untersuchungsgegenstände ergibt sich aus dem Vorhaben, Ironie als eine Weltzuwendung darzustellen, die medial und ästhetisch verschiedene Formen annehmen, esoterisch und populär ausfallen kann. Mir geht es darum, einen bestimmten Umgang mit der Wahrheitsfrage darzustellen, der in der Moderne niemals dominant war, aber doch eine bemerkenswerte Gruppe von Künstlern, Philosophen und Wissenschaftlern miteinander verbindet und sich gegenüber anderen Formen moderner Theorie und Praxis durch eine gewisse Friedfertigkeit auszeichnet.
Lektüreempfehlung
von Petersdorff, Dirk. Nimm den langen Weg nach Haus. Gedichte. München: C. H. Beck, 2010.
-. Geschichte der deutschen Lyrik. München: C. H. Beck, 2008.
-. Fliehkräfte der Moderne: Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer, 2005.
Kolloquium, 19.06.2012
Überlegungen zur Situation der Kunst nach 1989
Der Epocheneinschnitt 1989 hat auch für das Denken über Kunst (Literatur, Musik, Bildkunst) eine Bedeutung. Denn die Vorstellungen von der Entwicklung der Kunst waren im europäischen Denken in den letzten 200 Jahren an Vorstellungen von einer zielgerichteten Entwicklung der Geschichte gebunden, an Ideen von einer idealen Gesellschaft oder einem zu formierenden zukünftigen Menschen, die spätestens 1989 ihre Bedeutung verloren haben. Im ersten Teil des Vortrags soll am Beispiel des Kunsttheoretikers Theodor W. Adorno (1903 - 1969) gezeigt werden, wie aus weitreichenden Geschichtsdiagnosen heraus festgelegt wurde, welche Haltung Kunst der Welt gegenüber einnehmen sollte, welche Formen in der Literatur, der Musik oder Malerei allein angemessen waren und welche nicht.
Der Gegenwart fehlt eine solche Vorstellung von einer notwendigen Entwicklung der Künste. Gegenwärtige ästhetische Urteile neigen dazu, das Nebeneinander ganz verschiedener Konzepte zu akzeptieren. Dies soll an Beispielen aus der Architektur, Musik und Malerei plausibel gemacht werden - und in diesem Teil des Vortrags gibt es etwas zu sehen und zu hören.
In dieser Situation bietet es sich an, auf Theorien auszuweichen, die Kunst nicht mehr auf Inhalte und Formen festlegen wollen, sondern sehr viel allgemeiner operieren und so der Heterogenität der Gegenwart besser gerecht werden. Hier wird die schon etwas ältere Institutionentheorie kurz vorgestellt, die Stärken, aber auch Schwächen besitzt, dann neuere Ansätze einer evolutionären Ästhetik, die in den Geisteswissenschaften gegenwärtig Aufmerksamkeit finden.
Im letzten Teil des Vortrags wird dafür plädiert, doch wieder über Leistungen zu reden, die die Kunst für einzelne Menschen erbringt, und über konkrete ästhetische Erfahrungen. Am Beispiel des Romans" A Visit from the Goon Squad" der amerikanischen Autorin Jennifer Egan (2010, dt. 2012, "Der größere Teil der Welt") soll es darum gehen, wie Kunst in einer fragmentierten Welt Erfahrungen von Zugehörigkeit, von einem (vorläufigen) Zu-Hause-Sein vermitteln kann.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Petersdorff, Dirk (München, 2014)
Petersdorff, Dirk (Ditzingen, 2013)
Wie schreibe ich ein Gedicht? : kreatives Schreiben: Lyrik ; mit 50 Schreibaufgaben Reclam-Taschenbuch ; Nr. 20294
Petersdorff, Dirk (Stuttgart, 2012)
Ein Gedicht von mir : Lyrikerinnen und Lyriker der Gegenwart stellen sich vor
Petersdorff, Dirk (Stuttgart, 2011)
Der Kuss der Erkenntnis : Gedichte Reclams Universal-Bibliothek ; Nr. 18739
Petersdorff, Dirk (München, 2011)
Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland : von 1945 bis zur Gegenwart Beck'sche Reihe ; 2733
Petersdorff, Dirk (München, 2010)
Nimm den langen Weg nach Haus : Gedichte
Petersdorff, Dirk (Mainz, 2009)
Wie Lieder entstehen : vom "Wunderhorn" zu den "Fantastischen Vier" ; [vorgetragen in der Plenarsitzung am 23. Februar 2007] Abhandlungen der Klasse der Literatur ; Jg. 2009, H. 1
Petersdorff, Dirk (München, 2008)
Geschichte der deutschen Lyrik Beck'sche Reihe ; 2434
Petersdorff, Dirk (München, 2007)
Lebensanfang : eine wahre Geschichte