Daniel Boyarin, Ph.D.
Taubman Professor für Talmudische Kultur
University of California, Berkeley
Born in 1946 in New Jersey, USA
Studied Semitic Languages at Columbia University and Talmud at the Jewish Theological Seminary of America, New York
Arbeitsvorhaben
Heimat auf Reisen: der Babylonische Talmud als Voraussetzung für eine Diaspora
During my year's tenure at the Wissenschaftskolleg, I plan, Deo Volente, to produce a manuscript with the above title. It will be an interrogation into the structure of diaspora itself as a cultural phenomenon and a case study based on the theoretical position thus developed. The underlying hypothesis is that, indeed, diaspora is best described as a synchronic cultural phenomenon and not as a diachronic historical development. The condition of diaspora is generated by people/a "people" having a doubled cultural location, one local and one translocal. The location of culture here is precisely generated, not infrequently it involves the production/consumption of culture in more than one language, one closely related (if not identical) to the local language where a given community lives and one in a language shared by other communities belonging to the diasporic structure but not necessarily the locale of the given community. An excellent example of such a diaspora is the Jewish Community of late antiquity and through the Middle Ages in which cultural production was oriented toward local cultures/languages, viz Arabic, Spanish, Germanic, French, and Italian (among others), while there was also highly significant cultural production in Hebrew, which was thus shared among other Jews who did not speak or write the same local vernaculars.The thesis of this monograph is that the Babylonian Talmud, studied in two ways, manifests this structure and even is originary for it.
After a first chapter laying out and exemplifying the theoretical claims above, I plan two more sections (whether each will be a chapter or more than a chapter remains to be seen). The first of these sections will deal with the Talmud as a text, seeking to explore its cultural location in such a diasporic condition, one plane of the language (or one language within the text to use Bakhtinian talk) is produced in deep interaction with the local culture of Sasanian Iran, while the other plane within the text involves a Hebrew/Aramaic cultural location of production and impact and consumption that is oriented toward the other great rabbinic center of late antiquity, Greco-Roman Palestine. An attempt will be made in this chapter to describe this condition more exactly than has been done until now, perhaps furthering an ongoing vital discourse within Talmudic studies at the present moment. The latter of the two sections belongs to the project "Zukunftsphilologie: Revisiting the Canons of Textual Scholarship" organized by the Forum Transregionale Studien. It is a study of the reception and interpretation of the Talmud in early modern Spain and the Sefardic diaspora of the 16th century, the argument being that the doubled location of Talmudic studies in 14th-century Spain between the cultures of transnational rabbinism and Latin/Arabic culture in Iberia is a productive way of thinking about what is going on there as well.
In a conclusion, I hope to argue that the text seen this way constitutes this Jewish diaspora as much as it is constituted by it - or even more.
Recommended Reading
Boyarin, Daniel. Socrates and the Fat Rabbis. Chicago: University of Chicago Press, 2009.
Boyarin, Daniel. Border Lines: The Partition of Judaeo-Christianity. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2004.
Boyarin, Daniel and Jonathan Boyarin. Powers of Diaspora: two Essays on the Relevance of Jewish Culture. Minneapolis: University of Minnesota Press, 2002.
Kolloquium, 13.11.2012
Die Verstreuung der Diaspora
"Bis jetzt ist noch nicht hinreichend bewiesen, dass die Bewahrung des Volkscharakters der Juden außerhalb ihres Landes mit dem Land der Juden zusammenhängt. Im Gegenteil erscheint in den alten Quellen ein klarer Widerhall eines starken Gefühls von geistiger und religiöser Nichtabhängigkeit und Unabhängigkeit, die unter den babylonischen Juden vorherrschte. Das war die Situation zur Zeit des Talmud, das versteht sich von selbst, in der Zeit der Geonim."
Haim Zalman Dimitrovsky
Eine berühmte Geschichte, die in einer mittelalterlichen Chronik, dem Buch der Tradition von Abraham Ibn Daud [1110 - ca. 1180], überliefert ist, erzählt die Ursprünge einer jüdischen Diaspora in der westlichen muslimischen Welt als Geschichte eines Schiffes, das vier bedeutende Talmudgelehrte an Bord hat und durch Piraten gekapert wird. Seit ihr jüngster Herausgeber und gelehrter Kommentator, der verstorbene Gerson D. Cohen beinahe zweifelsfrei gezeigt hat, dass die Geschichte gänzlich erfunden ist, können wir sehr viel Wahrheit aus ihr lernen. Cohen fragt danach, warum Ibn Daud die Anzahl von Schiffbrüchigen von drei - wie in seinen Quellen - auf vier erhöht hat, und bemerkt: "Ibn Daud konnte die Glaubensunterweisung sehr logisch ausdehnen, indem er auf die vier Gelehrten verwies, die die Rettung und Verbreitung der Tora unter den Juden in der muslimischen Welt anstießen, nach dem Niedergang der jüdischen Gelehrsamkeit in Babylonien. Mit anderen Worten: Vier ist die Zahl, die die göttliche Fürsorge für Israel symbolisiert und die vier Gefangenen sind in Wahrheit die neuen Versprengten, die von Gott in die vier Ecken der Welt entsandt wurden, um das Wort der Tora in die neue und letzte Phase des vierten Königreichs zu bringen." Ohne Cohens apokalyptische Interpretation unbedingt zu akzeptieren (aber auch ohne sie notwendig abzulehnen), stimme ich entschieden seiner These zu, dass die Umgestaltung der Erzählung zu einer Geschichte über vier Gelehrte, die an vier Orte versprengt werden (wobei ein Gelehrter und sein Ort vom Autor als ihm vollkommen unbekannt beschrieben wird), dies zu einer Geschichte einer neuen Verstreuung macht, einer neuen Diaspora und daher von Belang für meine Untersuchungen hier über die Bedeutung der jüdischen Diaspora(s) und ihrer Relevanz für die Erforschung der Diaspora im Allgemeinen ist.
Der Begriff der Diaspora wird generell entweder in einem gewissermaßen zeitlosen geographischen Sinn verwendet, so etwa bezeichnete man die blühenden jüdischen Gemeinschaften überall im Osmanischen Reich und darüber hinaus als Diaspora - im Gegensatz zu einer kleinen (wenn auch bedeutenden) Gemeinschaft von geflohenen Juden aus Spanien, die im 16. Jahrhundert in Palästina landeten; das war nur dem geographischen Ort geschuldet. Oder man verwendet den Begriff in einem chronologischen Sinn, bei dem Diaspora als ein einmaliges Ereignis der Versprengung aus dem "Heimatland" verstanden wird; oder im larmoyanten Sinn - nämlich dem Zustand, eine unterdrückte Minderheit zu sein, die sich danach sehnt, in die "Heimat" zu kommen. Ich möchte mich der Frage der Diaspora - eigentlich der Frage, was Diaspora ist - ganz anders nähern. Für einen Diskurs über die Diaspora möchte ich folgende Thesen verteidigen: 1. In erster Linie ist Diaspora ein synchroner Zustand, in dem Gruppen von Menschen im Raum miteinander verbunden sind; sie können einen diachronen Ursprung haben (das ist häufig der Fall), jedoch nicht notwendigerweise. 2. Wenn dies einmal festgehalten ist, ist ein Heimatland (ein wirkliches oder imaginiertes) keine notwendige oder hinreichende Bedingung für die Existenz einer Diaspora. 3. In der Geschichte eines Volkes kann es mehrere Diasporas geben, wechselnde Heimatländer und sogar - und es ist die Aufgabe dieses Vortrages, diese These aufzustellen - eine Diaspora, in der eine Heimat gänzlich fehlt und die vollkommen durch einen kulturellen Zusammenhang ersetzt wird, in diesem Fall durch ein Buch. Die Diaspora ist eine Situation, in der ein bestimmtes menschliches Kollektiv eine doppelte kulturelle und soziale Verortung hat, zunächst einmal an dem Ort, an dem es vorgefunden wird, und dann zumindest in einem anderen Kollektiv, das an einem anderen Ort ist. Meine Hauptbeispiele sind bestimmte Teile der jüdischen Geschichte. Das Wort "Diaspora", das in einer ursprünglichen Bedeutung auf ein griechisches Wort zurück geht und das "Verstreuen der Saat" bedeutet - und damit anders als "Exil" einen Ursprungspunkt impliziert - konzentriert sich auf das Auskeimen der Saat auf neuen Böden, auf die Schaffung neuer Heimaten, und nicht darauf, nicht zuhause zu sein. Obwohl es sicherlich ein etymologischer Fehlschluss wäre, ist der Hinweis jedoch heuristisch lehrreich, dass die frühesten Gebrauchsweisen des Ausdrucks im Griechischen - sowohl in der antiken als auch der jüdischen Koine - nichts implizieren, das auf ein erzwungenes Exil hinweist, sondern nur auf eine produktive Kolonisierung. Tatsächlich verwendet die Septuaginta den Ausdruck "Kolonie" für das hebräische Wort, das für gewöhnlich mit "Exil" übersetzt wird. Daher können wir die jüdische Diaspora nicht als erzwungenes und repressives Exil betrachten, wie sie immer und überall verstanden wird. Wie wir sehen werden, schaffen es die Juden immer wieder, sich neue Heimatländer für sich vorzustellen, Heimat außerhalb der Heimat. Was die Diaspora zusammenhält - was sie nach meiner Definition zur Diaspora macht -, das ist die kulturelle Praxis des Talmudstudiums.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Boyarin, Daniel (Yerushalayim, 5771)
Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar ; 5 ; Masekhet Ḥulin Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar ; 5
Boyarin, Daniel (Yerushalayim, 5771)
Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar ; 4 ; Masekhet Sanhedrin Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar ; 4
Boyarin, Daniel (Yerushalayim, 5771)
Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar ; 3 ; Masekhet Nazir Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar ; 3
Boyarin, Daniel (Yerushalayim, 5771)
Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar ; 2 ; Masekhet Rosh ha-Shanah Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar ; 2
Boyarin, Daniel (Yerushalayim, 5771)
Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar ; 1 ; Masekhet Berakhot Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar ; 1
Boyarin, Daniel (Montrouge, 2016)
Une vie dans le Talmud : entretiens avec Clémence Boulouque
Boyarin, Daniel (New York, 2016)
Imagine no religion : how modern abstractions hide ancient realities
Boyarin, Daniel (Philadelphia, 2015)
A traveling homeland : the Babylonian Talmud as diaspora Divinations: rereading late ancient religion
Boyarin, Daniel (New York, NY, 2012)
The Jewish Gospels : the story of the Jewish Christ
Boyarin, Daniel (Yerushalayim, 2010)
Talmud Bavli ʿOz ṿe-hadar : ha-Gemara ṿe-khol ha-mefarshim mesudarim me-ḥadash, revavot hagahot ṿe-tsiyunim ʿa.p. kitve yad u-defusim yeshanim, u-marʾe meḳomot ḥadashim ʿal ha-daf, ṿe-ʿod harbeh hosafot ḥashuvot Talmud Bavli : Mahadurat Friedman ; ʿOz ṿe-hadar