Hubertus Buchstein, Dr. phil.
Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Geboren 1959 in Eutin
Studium der Politikwissenschaft, Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin
Arbeitsvorhaben
Politik des Aleatorischen
Der Zufall hat in der Politischen Philosophie und den Sozialwissenschaften in der Regel keinen guten Leumund; Geistes- und Sozialwissenschaftler haben den kaum zu bändigenden Impuls, das Phänomen Zufall unter ihre Kontrolle zu bekommen. Dies gilt auch für die Politik: Die Basismodule des modernen Politikverständnisses sind "Vernunft" und/oder "Interesse" und damit das genaue Gegenteil vom blinden Spiel mit dem Zufall.Demgegenüber möchte ich in meinem Projekt am Wissenschaftskolleg mit dem Titel "Politik des Aleatorischen" dazu beitragen, das Moment des Zufalls auf produktive Weise als Instrument der aktiven Gestaltung von Gesellschaft und Politik zu betrachten. Mit diesem Vorhaben möchte ich meine bisherigen Überlegungen zu Losverfahren und Demokratie in drei Richtungen weiterführen. Erstens ist beabsichtigt, das Phänomen "Zufall" in seinen philosophischen, historischen und konzeptionellen Dimensionen genauer in den Blick zu nehmen und von hier aus nach Verbindungen zu aktuellen Debatten über "Kontingenz" in der Politik zu suchen. Zweitens ist vorgesehen, Vorschläge zu erarbeiten, wie sich mithilfe von zufallsgenerierten Entscheidungen bei der Besetzung von Ämtern die viel beklagten Repräsentations-, Transparenz- und Effizienzdefizite in supranationalen politischen Gremien abbauen lassen. Und drittens möchte ich diese Überlegungen schließlich in ein Vorhaben einmünden lassen, das den provisorischen Titel "Eine allgemeine Theorie politischer Verfahren" trägt.
Lektüreempfehlung
Buchstein, Hubertus. Demokratie und Lotterie: Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU. Frankfurt/Main, New York: Campus, 2009.
- (zusammen mit Michael Hein). "Randomizing Europe. The Lottery as a Decision-Making Procedure for Policy Creation in the EU." Critical Policy Studies 3, 1 (2009): 29-57.
- "Reviving Randomness for Political Rationality: Elements of a Theory of Aleatory Democracy." Constellations 17, 3 (2010): 435-454.
Kolloquium, 11.12.2012
Zufall mit Absichten: Politische Aleatorik
Der Zufall hat schon in einigen der vorherigen Vorträge von Fellows unseres Jahrgangs eine nicht unwichtige Rolle gespielt - erinnert sei nur die Überlegungen von Atac Imamoglu (Physik) und von Ulrich Steiner (Biologie). Ich möchte mit meinen Arbeiten zur politischen Aleatorik an ihre durchaus wohlwollenden Worte über den Faktor Zufall anschließen und danach fragen, ob und inwieweit sich bei politischen Entscheidungen vom bewussten Einsatz des Zufalls profitieren lässt. Im Zentrum meines politikwissenschaftlichen Interesses am Thema Zufall steht also die Frage nach dem Rationalitätspotential und nach den praktischen Vorteilen von zufallsgeleiteten Entscheidungsverfahren im Bereich der Politik.
Technisch lässt sich das absichtliche Herbeiführen einer Zufallsentscheidung durch Losverfahren realisieren. Nun wäre es allerdings müßig und würde in einen infiniten Regress führen, wenn wir den Einsatz von Losverfahren in der Politik per Losverfahren entscheiden wollten. Wir kommen nicht darum herum, nach guten Gründen für Losverfahren zu fragen. Insgesamt lassen sich fünf verschiedene Argumentationsfiguren für den Einsatz von Losverfahren in Anschlag bringen, die ich zunächst kurz skizzieren und diskutieren möchte.
Noch wenig ist darüber in Erfahrung gebracht worden, ob und wie sich der Einsatz von Losverfahren in modernen Demokratien bislang bewährt hat und welche Erkenntnisse sich daraus für zukünftige Reformdebatten gewinnen lassen. An diesem Punkt setzen die Überlegungen und Forschungsvorhaben ein, mit denen ich mich in den kommenden Monaten am Wissenschaftskolleg weiter intensiv beschäftigen möchte.
Erstens beabsichtige ich, mehr über die geeigneten gesellschaftspolitischen Randbedingungen für den sinnvollen Einsatz von Losgremien in modernen Demokratien in Erfahrung zu bringen. Meine Hypothese lautet, dass politische Gremien, die sich aus ausgelosten Bürgern zusammensetzen, in modernen Demokratien primär in der Rolle von "demokratisch-deliberativen pouvoir neutre" sinnvoll sein können (also z. B. bei Wahlgesetzreformen, bei Verfassungsreformen, bei der Festsetzung von Diäten, bei der Regulierung der Wahlkampffinanzierung).
Zweitens interessiere ich mich für das in der Forschung bislang wenig untersuchte Problem der mentalen Akzeptanz von Entscheidungen per Losverfahren seitens der davon Betroffenen. Geeignete Analysefälle bieten Verteilungen von knappen Gütern per Los (z. B. die Vergabe von Studien- und Schulplätzen durch einfache, gewichtete oder quotierte Lotterien) und die darüber geführten Debatten in der politischen Öffentlichkeit.
In einer dritten Facette meiner bisherigen Arbeit am Wissenschaftskolleg beschäftige ich mich mit einer Art von Empirie, die sich als "virtuelle Empirie" bezeichnen lässt. Was ich dabei vorhabe, lässt sich am besten am Beispiel eines Reformvorschlages erläutern, der den Titel "EU-Kommissions-Lotterie" trägt. Gemeint ist der Vorschlag, im Interesse einer höheren Effizienz der Arbeit der EU-Kommission die Kommissariate wieder auf die (im Lissabon-Vertrag auch vorgesehene) Zahl von 15 zu reduzieren und zur Ermittlung der Länder, die einen Kommissar stellen können, turnusmäßig einen gewichtete Lotterie (zu den Details siehe Handout) unter den Mitgliedsstaaten der EU abzuhalten. Aktuell hat die EU genügend andere Sorgen und daher ist dieser Vorschlag eine akademische Fingerübung ohne Realisierungschance; doch dies kann sich im Zuge künftiger Debatten über eine Reform des Politischen Systems der EU vielleicht einmal ändern. Mit Hilfe verschiedener Computersimulationen möchte ich herausfinden, welche "Ergebnisse" von der EU-Kommissions-Lotterie unter wechselnden Rahmenbedingungen erzeugt werden und an welchem Punkten sich der Vorschlag verfahrenstechnisch optimieren lässt.
In einer späteren Phase meiner Arbeit am Wissenschaftskolleg sollen die erwähnten Untersuchungen und Überlegungen zu zufallsbasierten Entscheidungen in ein Vorhaben einmünden, das den ebenso provisorischen (wie über-ambitionierten) Titel trägt: "Towards A General Theory of Political Procedures" und bei dem neben der Lotterie auch Wahlen, Abstimmungen oder Auktionen etc. im Hinblick auf ihre spezifischen Verfahrenseigenschaften betrachtet werden sollen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Buchstein, Hubertus (Wiesbaden, 2018)
Auf dem Weg zur Postwachstumsgesellschaft – Von der Resonanztheorie zur aleatorischen Demokratie
Buchstein, Hubertus (Manchester, 2017)
The Eschenburg Controversy in German political science
Buchstein, Hubertus (New York, NY, 2015)
Buchstein, Hubertus (Frankfurt, New York, 2015)
Buchstein, Hubertus (2015)
Elective and aleatory parliamentarism
Buchstein, Hubertus (Wiesbaden, 2014)
Deliberative und aleatorische Demokratietheorie
Buchstein, Hubertus (Bonn, 2013)
Braucht die repräsentative Demokratie ein Update? - Wege aus der Legitimationskrise