Baber Johansen, Ph.D.
Professor for Islamic Religious Studies
Harvard University
Born in 1936 in Berlin
Studied Islamic Studies, Sociology and Law at the Freie Universität Berlin
Arbeitsvorhaben
A Muslim Debate on Human Nature
Muslim grammarians and theologians discuss - from the 9th century on - whether God instituted human language or whether humans had to develop their own language in order to be able to receive God's revelation. The first position underlines God's authority over thought and language, the second one defends human creativity. This debate continued for many centuries, establishing a licit framework for the recognition of humans' capacity to shape their history.Ibn 'Aqil (d. 1119) - the leading Hanbali scholar in Baghdad - transferred this debate into the analysis of law and history. He accepted God's role in instituting human language but pointed out that words get their meaning in communication between speakers who share common experiences. Communication being the essential purpose of language and the conditio sine qua non for human cooperation is necessary for human survival. As this cooperation constantly produces new tools, new forms of goods, new forms of their use, new forms of urban life, of music and esthetics, and new legal norms for life in a changing environment, the historical process has to be understood as a constant process of innovation (tajdid). Language has to express the innovations brought about by the historical process, and words acquire multiple meanings based on experiences in a changing human environment. Communication requires new levels of abstraction, such as metaphors. The human development driven by need constantly brings about the coinage of new words and the assignment of new meanings to old expressions. Therefore - Ibn 'Aqil concludes - speculative reasoning (nazar) is a legal obligation for those capable of it whenever they face situations brought about by the process of innovation that cannot satisfactorily be resolved within the available forms of knowledge. A religiously justified notion of progress is clearly implied in Ibn 'Aqil's reasoning.
During my stay at the Wissenschaftskolleg I intend to translate the most important texts of Ibn 'Aqil on these questions and to establish the intellectual genealogy through which elements of Classical Antiquity's discussion of human nature (e.g. Aristotle and Cicero on Natural Law) were integrated in and adapted to the Muslim debate. The results will be part of a book on human nature and innovation in Islamic Law that I hope to finish during my sabbatical year (2013-14).
Recommended Reading
Johansen, Baber. The Changing Limits of Contingency in the History of Muslim Law. The Nehemia Levtzion Center for Islamic Studies, The Hebrew University of Jerusalem, 2013.
-. Introduction: "The Muslim Fiqh as a Sacred Law: Religion, Law and Ethics in a Normative System." In Contingency in a Sacred Law: Legal and Ethical Norms in the Muslim Fiqh. Leiden: Brill, 1999, 1-77. (Studies in Islamic Law and Society, 7.)
-. "Wahrheit und Geltungsanspruch: zur Begründung und Begrenzung der Autorität des Qadi-Urteils im islamischen Recht." La giustizia nell'Alto Medioevo (secoli IX-XI). Spoleto: Centro Italiano di Studi sull'Alto Medioevo, 1997, 975-1074 [English translation available on request].
Kolloquium, 01.07.2014
Das Recht, anderer Meinung zu sein: Ein grundlegendes Konstruktionsprinzip der islamischen Rechtsprechung
In meinem Vortrag gehe ich von drei (Hypo)thesen aus:
1. Das Recht, anderer Meinung zu sein, ist eine unverzichtbare (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung für jede rationale Debatte, die verschiedene Erfahrungen und Standpunkte in einem Rechtsdiskurs miteinbeziehen will.
2. Wenn Meinungsverschiedenheiten in einer Debatte über Rechtsnormen auftreten, die das gute Leben derjenigen gewährleisten sollen, die sich diesen Normen unterwerfen, bedarf sie eines normativen Fundaments, mit dem die widerstreitenden Parteien ihre abweichenden Positionen rechtfertigen können, ohne die gemeinsame Basis mit ihrer Gemeinschaft zu verlassen.
3. Abweichende Meinungen werden daher ein Teil einer größeren Einheit - nämlich des Gesetzes; man hält sie für konstitutive Teile des Gesetzes bzw. für andere Interpretationen einer gemeinsamen Basis des Gesetzes. Das Gesetz, das sich auf diese Weise konstituiert, ist ein pluralistisches normatives System, in dem die Geschichte der Meinungsverschiedenheiten als Entfaltung des Rechts verstanden wird.
In meinem Vortrag möchte ich mich auf das Verhältnis der vier sunnitischen Rechtsschulen zueinander konzen-trieren, die das 13. Jahrhundert überlebt haben. Ich folge der historischen Entwicklung der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh).
Im 8. und 9. Jahrhundert wurde das Recht von privaten Gelehrten entwickelt und nicht von religiösen Institutionen oder Regierungen. Ihre Schüler fanden sich zu Rechtsschulen zusammen; die Unterschiede zwischen den Schulen beruhten auf Dissens hinsichtlich der Lehre - sogar über die Frage, welches die Hauptquellen des Rechts sein sollten. Die Rechtsliteratur des 10. und 11. Jahrhunderts gewährt der Diskussion dieser Lehrunterschiede breiten Raum. Öffentliche Streitgespräche (munazarat) der Gelehrten machten die Meinungsverschiedenheiten zu einer Praxis, die dem gelehrten intellektuellen Ringen eine konkrete Form verlieh. Seit dem 10. Jahrhundert kam eine neue Disziplin auf, die "Wurzeln der Rechtswissenschaft" (usul al al-fiqh); sie sorgte für rationale Analysen der verschiedenen Meinungen als einem erlaubten Ergebnis der Bemühungen von unabhängigen und hochqualifizierten Gelehrten. Ich möchte die Tragweite des Dissens über individuelle und kollektive Rechte, die sich in der Literatur zur islamischen Rechtswissenschaft entwickelt hat, etwas detaillierter erörtern.
Am Ende des 11. und zu Beginn des 12. Jahrhunderts versuchten Theologen wie al-Ghazali, eine Epistemologie des angewandten Rechts zu entwickeln; dabei wird das Recht von der Theologie unterschieden und die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Juristen werden als notwendiges Ergebnis der Tatsache gerechtfertigt, dass das Recht keine Disziplin ist, die auf rationalen Beweisen basiert, und dass viele seiner Normen nicht auf Offenbarung beruhen, sondern auf Entscheidungen von Juristen, die ihrem eigenen Naturell folgen. Ghazali entwickelt ein neues und pluralistisches Konzept, das er "die Ziele des Gesetzes [shari’a]" nennt, ein apriorisches System von fünf Zielen. Sie rechtfertigen alle rechtlichen Lösungen, die dazu beitragen, diese Ziele zu verwirklichen. Der Gedanke von den "Zielen der Scharia" hat das Werk von einzelnen Gelehrten in der Zeit zwischen dem 12. und 19. Jahrhundert beeinflusst. Im 20. und 21. Jahrhundert hat dieser Gedanke eine Renaissance in der Jurisprudenz bedeutender Gerichte und der Reformliteratur modern orientierter Autoren in der gesamten muslimischen Welt erlebt.
Ich schließe mit einigen wenigen Bemerkungen zu den Gründen für diese Entwicklung in der Moderne.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Johansen, Baber (2018)
Johansen, Baber (Leipzig, 2015)
Invisibility and power in Islamic religion and culture : the ambiguity of veiling
Johansen, Baber (2013)
The changing limits of contingency in the history of Muslim law
Johansen, Baber (Leiden, 1999)
Contingency in a sacred law : legal and ethical norms in the Muslim fiqh Studies in Islamic law and society ; 7