Günther Wassilowsky, Dr. theol.
Professor für Kirchengeschichte
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Geboren 1968 in Hechingen, Deutschland
Studium der Theologie, Germanistik und Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, der Pontificia Università Gregoriana (Rom) und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Arbeitsvorhaben
Stadt der Gnade: Theologie und Kultur im frühneuzeitlichen Rom
An der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kurie des Papstes stellte der Erweis von Gnade eine sozial strukturbildende "Basisaktivität" (Marcel Mauss) dar. In einer sich immer stärker ausdifferenzierenden Gnadenbürokratie wurde mittels regelgeleiteter Verfahren über massenhaft aus aller Welt eingehende Suppliken entschieden, in denen der Papst um die Gnade gebeten wurde, eine geltende Rechtsnorm für den Einzelfall nicht anzuwenden. Solche vormodernen Begnadigungspraktiken hatten eine herrschaftsfunktionale Seite, insofern sie die Hoheit des über dem Recht stehenden Souveräns darstellen und weltweite Bindungen der Dankbarkeit gegenüber dem gnädigen Papst herstellen sollten. Auf der anderen Seite wirkte die Gewährung römischer Gnade individualitätsgenerierend, insofern sie die unvollkommene Allgemeinheit des Rechtes im Blick auf die Besonderheit des Einzelnen und seiner konkreten Situation korrigieren konnte. Aber nicht nur das Rechts- und Verwaltungssystem Roms wurde durch das Prinzip von Gnade und Gunst bestimmt, vielmehr wurden sämtliche Bereiche sozialer Interaktion am römischen Hof von einer Logik erfasst, die eine Logik des Austausches von Gabe und Gegengabe war.In der geplanten Monografie sollen diese administrativen und sozialen Gnadenpraktiken und Gnadenlogiken erstmalig in Beziehung gesetzt werden zu den theologischen Konzeptionen von Gnade, wie sie im Jahrhundert der Reformation auch im päpstlichen Rom insbesondere im Blick auf die Bedeutung des menschlichen Werkes und menschlicher Freiheit kontrovers debattiert wurden. Gefragt wird nach den komplexen reziproken Austauschprozessen zwischen der zeitgenössischen Gnadentheologie und der sozio-politischen Kultur Roms. Inwiefern haben sich die beiden Vorstellungs- und Handlungssphären gegenseitig beeinflusst oder gar bedingt? Am Ende soll eine Kulturgeschichte Roms im 16. und 17. Jahrhundert entstehen, in der mittels der analytischen Kategorie von Gnade verschiedene zentrale kulturelle Felder untersucht und aufeinander bezogen werden. Es soll gezeigt werden, wie sich die auf dem Konzil von Trient definierte Gnadentheologie in der stadtrömischen Frömmigkeit, in Zeremoniell, Architektur und Urbanistik, aber auch in der in Rom entstandenen bildenden Kunst und Musik niedergeschlagen hat. Letztlich geht es darum, die frühneuzeitliche Stadt Rom insgesamt als ein planmäßig konstruiertes, global ausstrahlendes Symbol einer spezifischen theologischen Anthropologie zu entziffern.
Lektüreempfehlung
Wassilowsky, Günther. "Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur. Zur Einführung." In Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur (1563-2013), herausgegeben von Peter Walter und Günther Wassilowsky, 1-29. Münster: Aschendorff, 2016. (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 163.)
-. "Wo die Messe fellet, so ligt das Bapstum: Zur Kultur päpstlicher Repräsentation in der Frühen Neuzeit." In Kulturgeschichte des frühneuzeitlichen Papsttums, herausgegeben von Birgit Emich und Christian Wieland, 219-247. Berlin: Duncker & Humblot, 2013. (= Zeitschrift für historische Forschung 48.)
-. Die Konklavereform Gregors XV. (1621/22): Wertekonflikte, symbolische Inszenierung und Verfahrenswandel im posttridentinischen Papsttum. Stuttgart: Hiersemann, 2010. (= Päpste und Papsttum 38).
Kolloquium, 26.02.2019
Stadt der Gnade. Theologie und Kultur im frühneuzeitlichen Rom
Das Wort "Gnade" ist ein altes, in der Gegenwart weitgehend außer Gebrauch geratenes, fremd gewordenes Wort. Es mag heute insbesondere im Modus des Vermissens etwa bei der Klage über "gnadenlose" Systeme oder "gnadenlose" Täter immer wieder einmal verwendet werden oder beim "Begnadigungsrecht" von Präsidenten auch in modernen Rechtsstaaten als Relikt vergangener Zeiten auftauchen. Aber insgesamt ist "Gnade" in der Moderne keine zentrale Kategorie mehr.
Das war in der Vormoderne ganz anders. Dort hat die Gnadenthematik sämtliche Bereiche des individuellen wie kollektiven Lebens erfasst und geprägt. "Gratia" kommt sowohl als Terminus als auch als Thema in sämtlichen kulturellen Segmenten vor. Gnade ist längst nicht nur in Theologie und Religion ein Zentralbegriff, sondern ebenso in Recht und Verwaltung. "Gratia" ist ein Begriff der Ästhetik, der Erkenntnistheorie, der bildenden Kunst, der Literatur, sogar des musikalischen Dramas, vom weiten Feld der Frömmigkeit ganz zu schweigen. Und nicht zuletzt stellen Gnadenpraktiken zentrale Instrumente politischer Herrschaft dar und sie begründen Muster gesellschaftlicher Ordnung und der sozialen Interaktion.
Eine solche genuine und umfassende Kultur der Gnade will ich am Beispiel der frühneuzeitlichen Stadt Rom und des "Systems" der päpstlichen Kurie in all ihrer Unterschiedlichkeit zu unserer Gegenwart vorstellen und hinsichtlich ihrer sozio-kulturellen Logiken und ihrer Bedeutungen rekonstruieren.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Wassilowsky, Günther (Münster, 2023)
Gnade im Werk Michelangelos Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung ; 81
Wassilowsky, Günther (2019)
Heilsverwaltung und Rechtskultur an der vormodernen römischen Kurie : ein sprudelnder Brunnen
Wassilowsky, Günther (Münster, 2016)
Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur : zur Einführung
Wassilowsky, Günther (2013)
Wassilowsky, Günther (2010)
Wassilowsky, Günther (Stuttgart, 2010)
Die Konklavereform Gregors XV. (1621/22) : Wertekonflikte, symbolische Inszenierung und Verfahrenswandel im posttridentinischen Papsttum Inszenierung des Geheimen
Wassilowsky, Günther (Münster, 2005)
Werte und Symbole im frühneuzeitlichen Rom Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme ; 11