Andreas Dorschel, Dr. phil.
Professor für Ästhetik
Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
Geboren 1962 in Wiesbaden, Deutschland
Studium der Philosophie, Musikwissenschaft und Germanistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Wien
Arbeitsvorhaben
Die Zeit des Tragikomischen. Eine philosophische Untersuchung
In dem eher bescheidenen Schrifttum über Tragikomik gibt die Literaturwissenschaft den Ton an. Ihr Interesse hat sich darauf konzentriert, die Tragikomödie als eigenes Genre zu etablieren. Gegenüber jedem solchen Versuch, in eine Gattung zu fassen, was schon vom Namen her die Grenzen solcher überschreitet, gibt es vielleicht einen aufschlussreicheren Zugang: "Das Tragikomische" ist keine Sondersparte dramatischer Literatur - es begegnet wie in der Kunst so auch im außerkünstlerischen "Leben". Für Letzteres könnte die Psychologie zuständig sein; sie indes stipuliert einfach, Tragikomisches müsse eine Mischung aus Tragischem und Komischem sein. Doch diese Vorstellung weicht der Schwierigkeit aus, dass Tragisches und Komisches ja nicht einfach nur verschieden voneinander sind, sondern einen Gegensatz bilden. Was die Wissenschaften als selbstverständlich voraussetzen, muss die Philosophie eigens zum Gegenstand einer Frage (oder auch vieler) machen: Solche philosophische Aufmerksamkeit hat die Kategorie des Tragikomischen gerade sehr nötig. Sie wird an dessen Zeitstruktur ansetzen müssen. Zwei Verhältnisse lassen sich zunächst idealtypisch einander gegenüberstellen. Die eine Vorstellung des Tragikomischen - historisch wohl die ältere - ist die sukzessive. Komisches wechselt sich mit Tragischem ab, sodass jenes Erleichterung - "comic relief" - von diesem verschafft, oder Tragisches wendet sich ins Komische, in finale Erleichterung eines "happy end". Die andere - wohl historisch spätere - Vorstellung fasst es simultan: Es gilt, das Komische am oder im Tragischen zu entdecken. Und dieses Komische kann, statt Erleichterung ("relief") vom Tragischen zu verschaffen, dieses vielmehr schärfen, schmerzhaft zuspitzen. Doch solche Entgegensetzung - ein Pol, ein Gegenpol - ist nur ein erster Ausgangspunkt, von dem her der Gedanke sich auf unabsehbare Komplikationen einlassen muss.Lektüreempfehlung
Dorschel, Andreas. Rethinking Prejudice. London, New York: Routledge, 2019.
-. "Music and Pain." In The Oxford Handbook of the New Cultural History of Music, herausgegeben von Jane Fulcher, 68-79. New York: Oxford University Press, 2011.
-. Verwandlung: Mythologische Ansichten, technologische Absichten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009.
Kolloquium, 15.12.2020
N.s Malheur, oder: Ist das tragikomisch?
Die Ausdrücke 'tragisch' und 'komisch' bildeten sich im klassischen Griechenland heraus. Sie standen im Zusammenhang mit Religion, Theater, menschlichem Selbstverständnis. Auch nach 2500 Jahren sind diese Ausdrücke noch bedeutsam. Und merkwürdig ist, dass sie auch kombiniert wurden. Ich vermute, dass 'tragikomisch' ein Etikett ist, das sehr verschiedenen Arten von Dingen aufgeklebt wurde und wird. Wenn wir die Unterschiede besser verstehen, die dabei ins Spiel kamen, verstehen wir vielleicht auch die Dinge besser, die als 'tragikomisch' bezeichnet wurden. Da ich selber keinen Überblick über mein Projekt im Ganzen habe - es entwickelt sich im Schreiben -, präsentiere ich hier keine Tour d'Horizon, sondern das Fragment eines Kapitels. In diesem nehme ich eine kleine Skizze zu einer Geschichte von Anton Tschechow als Ausgangspunkt für eine derartige Unterscheidung. Das bisher Geschriebene ist noch unfertig, enthält gedankliche Versuchsballons und sicher auch Fehler. - Da die Zeit knapp ist, überspringe ich die
6-9; für eventuelle Diskussion sind die Inhalte (nämlich: Bewusstsein; Gattung; Deutung) aber unten im Analytischen Inhaltsverzeichnis angedeutet.
Analytisches Inhaltsverzeichnis
1 Die Frage nach dem Tragikomischen. Ein mögliches Beispiel.
2 Tragikomisches: Tragisches und Komisches nicht nebeneinandergestellt, sondern ineinander verschlungen.
3 Sonst schwächen gegensätzliche Qualitäten einander. Warum soll es sich in diesem Fall anders verhalten?
4 Lösung: Das Paradox verschwindet, wenn man Innenperspektive und Außenperspektive unterscheidet.
5 Kritik der Lösung (
4): Auch aus der Außenperspektive können Tragisches und Komisches einander stärken, statt, wie zu erwarten wäre, einander zu schwächen.
[ÜBERSPRINGEN 6 Einwand: Tragisches und Komisches hat nie zugleich in einem Bewusstsein Platz.]
[ÜBERSPRINGEN 7 Von dem Einwand (
6) ist die Frage abzutrennen, ob es eine Gattung Tragikomödie gibt.]
[ÜBERSPRINGEN 8 Antwort auf den Einwand (
6): Er muss, um plausibel zu scheinen, das Bewusstsein verzerren.]
[ÜBERSPRINGEN 9 Gegeneinwand: Tragikomisches gibt es nur unter einer Deutung. Antwort: Das ist nichts Ungewöhnliches.]
10 Tragisches und Komisches im Verhältnis zu Fühlen und Denken.
11 Welche Deutung (
9) kommt hier für das 'Tragische' in Frage? Traurigkomisches vs. Tragikomisches.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Dorschel, Andreas (Stuttgart, 2023)
Dorschel, Andreas (Hamburg, 2022)
Mit Entsetzen Scherz : die Zeit des Tragikomischen
Dorschel, Andreas (Hamburg, 2021)
Wortwechsel : zehn philosophische Dialoge
Dorschel, Andreas (New York, 2020)
Dorschel, Andreas (Stuttgart, 2016)
Abhängige : von Gnaden einer Person, von Gnaden einer Sache
Dorschel, Andreas (Cambridge [u.a.]Cambridge University Press, 2015)
Passions of the intellect : a study of polemics
Dorschel, Andreas (München, 2014)
Wunderglaube und Mißtonleiter : Aufsätze und Vorträge
Dorschel, Andreas (Paris, 2013)
Aesthetics of conducting : expression and gesture