Kirsten Scheiwe, Dr. iur.
Professorin für Recht
Stiftung Universität Hildesheim
Geboren 1956 in Hamburg, Deutschland
Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Bochum, Köln und München und der Philosophie und Geschichte an der Universität München
Arbeitsvorhaben
„Klatschen allein genügt nicht“ – ein Plädoyer für ein sorgsames Recht
Alle Menschen benötigen im Lauf ihres Lebens Sorge, Pflege und Unterstützung durch andere (care), und fast jeder Mensch sorgt mehr oder weniger für andere. Dies ist universell und existenziell notwendig. Es zu unterstützen ist eine gesellschaftliche Aufgabe und Gegenstand rechtlicher Regulierung im Sozialstaat. Viele Sorgetätigkeiten werden jedoch unzureichend anerkannt, zu gering bezahlt, unterschätzt oder von der Politik in die „Privatsphäre“ abgeschoben. Die Covid-19-Krise hat die gesellschaftliche Bedeutung von Care wie in einem Brennglas gezeigt. Der neue Ansatz des sorgsamen Rechts untersucht verschiedene Rechtsbereiche in Deutschland (Familien-, Sozial- und Arbeitsrecht, Pflegerecht, Verfassungs- und Europarecht, internationales Recht). Die Regulierung von bezahlten und unbezahlten Sorgetätigkeiten durch Recht und Sozialpolitik zwischen öffentlicher und privater Verantwortung sowie Fragen der Verteilungsgerechtigkeit stehen im Mittelpunkt. Untersucht werden die Gestaltung und Interpretation von Rechten und Pflichten, Prinzipien und Begriffen (Schutz der Menschenwürde, Sozialstaatsprinzip, Solidarität, soziale Rechte). Schwerpunkte sind die Sorge für Kinder und junge Menschen sowie für pflegebedürftige Personen. Ausgehend von einem relationalen Verständnis von Autonomie und Teilhabe sind care/caring angesiedelt in asymmetrischen Beziehungen und Machtverhältnissen zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit.Das sorgsame Recht ist Teil des interdisziplinären Forschungsfeldes caring and the law und der legal gender studies. Anschlüsse bestehen zu Sozialethik, Rechtsphilosophie, Sozialwissenschaften, Rechtssoziologie, Sozialpolitik und Care-Ökonomie. Im Fokus steht die Frage, wie ein sorgsames Recht zu gestalten ist, das zu einer Aufwertung und angemessenen Anerkennung von Care beiträgt, und welche sozial- und rechtspolitischen Schritte dies erfordert.
Lektüreempfehlung
Scheiwe, Kirsten. Kinderkosten und Sorgearbeit im Recht: Eine rechtsvergleichende Studie. Frankfurt/Main: Klostermann, 1999.
—. „Caring rights and obligations in German family law and social policy: How far have we come?“ In Family Matters: Essays in Honour of John Eekelaar, herausgegeben von Jens M. Scherpe und Stephen Gilmore, 263–281. Cambridge: Intersentia, 2022. Deutsch: „Sorgetätigkeiten und care im Familien- und Familiensozialrecht – Wie weit sind wir in Deutschland gekommen auf dem Weg zu einem ‚sorgsamen Recht‘?“ NZFam Neue Zeitschrift für Familienrecht, Nr. 2 (2022): 45–54.
—. „It’s about Time – Gender, Justice and Working Time Regulation in Employment and Care Work.“ In Social Justice and the World of Work: Possible Global Futures, herausgegeben von Brian Langille und Anne Trebilcock, 315–326. London: Bloomsbury / Hart, 2023.
Kolloquium, 21.11.2023
Time to care – Wie und warum Recht und Sozialpolitik die Anerkennung von Sorgetätigkeiten und -beziehungen aufwerten und zu einem Kernthema machen sollten
Eine „Care-Perspektive“ auf das Recht ist dringend erforderlich. Mit Care gemeint sind Sorgearbeit, Ressourcen und Sorgebeziehungen sowie die Unterstützung und Assistenz für die Personen, die sie benötigen. Aber Care ist oft unterbewertet oder unsichtbar, die rechtliche Regulierung ist fragmentiert und häufig ambivalent; es fehlt ein übergreifender rechtlicher Ansatz, der Care als zentrale gesellschaftliche Aufgabe benennt. Der Ansatz eines „sorgsamen Rechts“ beruht auf einem relationalen Begriff von Autonomie und Partizipation in asymmetrischen Machtverhältnissen; Care sollte dabei im Zentrum der Begründung und Interpretation von Rechten und Pflichten und von Rechtsbegriffen wie Menschenwürde, sozialer Gerechtigkeit oder Solidarität stehen.
Die globale Care-Krise und die Covid-Pandemie werfen Schlaglichter auf den dringenden Bedarf an Care-Politiken mit dem Ziel der verbesserten Anerkennung und Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Care-Arbeit; einige internationale Organisationen widmen dem Thema zunehmend Aufmerksamkeit. Dies erfordert einen koordinierten Ansatz über fragmentierte Politiken und Rechtsbereiche hinweg – eine „care first“-Strategie auch im Arbeit-, Sozial- und Familienrecht, im Verfassungsrecht und internationalen Blick und mit Blick auf die sozialstaatliche Gewährung von Dienstleistungen, Infrastrukturen und sozialer Sicherung. Wie weit sind wir damit gekommen? Was sollten die nächsten Schritte sein, um eine integrierte Perspektive auf ein „sorgsames Recht“ in Forschung und Sozialpolitik zu entwickeln?
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Scheiwe, Kirsten (Oxford, 2024)
Caring, law, and solidarity—on the need for reorientation
Scheiwe, Kirsten (Leiden, 2022)
Commentary on federal labour court decision 5 AZR 505/20
Scheiwe, Kirsten (München, 2022)
Scheiwe, Kirsten (San Domenico di Fiesole, 2021)
Domestic workers, EU Working Time Law and implementation deficits in national law : change in sight? EUI working papers
Scheiwe, Kirsten (Hildesheim, 2020)
Scheiwe, Kirsten (Göttingen, 2019)
Motherhood and the Law Göttinger juristische Schriften ; Band 24
Scheiwe, Kirsten (Göttingen, 2018)
Gemeinsame Elternverantwortung : eine rechtsvergleichende Studie zu Grundfragen und Problemen beim Elternkonflikt getrennt lebender Eltern Göttinger juristische Schriften ; Band 21
Scheiwe, Kirsten (Berlin, 2017)
(K)Eine Arbeit wie jede andere? : die Regulierung von Arbeit im Privathaushalt Juristische Zeitgeschichte
Scheiwe, Kirsten (Baden-Baden, 2015)
100 Jahre Witwen- und Witwerrenten - (k)ein Auslaufmodell? Hundert Jahre Witwen- und Witwerrenten - (k)ein Auslaufmodell?
Scheiwe, Kirsten (Basingstoke, Hampshire, 2009)
Child care and preschool development in Europe : institutional perspectives