Ausgabe 10 / Mai 2015
Ganz Ohr (und Auge)
von Ina Hartwig
Michel Chion erforscht das Verhältnis von Bild, Stimme und Klang im Kino von den Anfängen bis in unsere Gegenwart. Er ist ein passionierter Hörer, Filmdeuter, Komponist, Theoretiker, Zeitdiagnostiker. Und er spart nicht mit Polemik gegen berühmte Kollegen.
Eine Eigenart, ein Talent, eine Gabe der Franzosen ist es, den Gestus der Aufklärung mit dem der Poesie verknüpfen zu können. Michel Chion beherrscht diese Mischung perfekt. Seit Jahrzehnten erforscht er Klänge, Töne und Geräusche im Verhältnis zu ihrer Umgebung; „Acoulogie“ heißt die Wissenschaft von den „Tonobjekten“, die er in der Tradition seines inzwischen verstorbenen Lehrers Pierre Schaeffer fortführt. Ja, ganz richtig: Töne sind „Objekte“, und es kommt darauf an, sie zu „beschreiben“. Wer sich in Michel Chions Universum begibt, wird sich der Faszination seiner leidenschaftlichen Wahrnehmungsgenauigkeit nicht entziehen können. Man taumelt von einem Aha-Erlebnis zum nächsten.
Dass Michel Chion auf Rousseau anspielt, wenn er dessen „einsamen Wanderer“ („promeneur solitaire“) in einen „lauschenden Wanderer“ umwandelt, ist gewiss kein Zufall. Schließlich war Rousseau unter den französischen Aufklärern der musikalischste. Le Promeneur écoutant – unter diesem schönen Titel sind Michel Chions Essays über Alltagsgeräusche gebündelt. Diese klingen in seinen Ohren keineswegs profan. Es fällt das Stichwort der „urbanen Symphonie“, und so lautet die erste Frage an diesem hellen Februartag im Wissenschaftskolleg: Wie klingt Berlin?
Dass ein Ton-Forscher, der normalerweise mitten im Bauch von Paris wohnt, von akustischen Unterschieden berichten würde, damit war zu rechnen gewesen. Aber nein! Michel Chion besteht darauf, Berlin habe „keinen speziellen Klang“. Es sei „ein Mythos“, dass jede Stadt ihr eigenes Klangbild erzeuge, wenngleich die Architektur – breite Straßen, schmale Straßen, hohe oder niedrige Häuser – natürlich die Akustik beeinflusse. Trotzdem verändern die Stadtgeräusche sich. Rollkoffer zum Beispiel und der allgegenwärtige Sound der mobilen Telefonsucht produzierten „neue Geräusche“, und zwar im globalen Maßstab. Verschmitzt fügt der lauschende Spaziergänger hinzu: „Und Gesetze machen Töne. Nehmen Sie das Rauchverbot.“ Die Trauben von Menschen, die mit ihrer Zigarette vor die Tür flüchten, erkennt man an ihrem ganz eigenen Schnattern.
Damit berühren wir eine entscheidende Frage seiner Arbeit: Wie die Töne, Geräusche, den Krach, Lärm etc. benennen, wie sie beschreiben? Le Son heißt ein weiteres, in seiner Systematik überaus beeindruckendes Buch, ein Grundlagenwerk aus dem Jahr 1998. Es gebe für „son“ keine Übersetzung, sagt der Autor. Zu seinen persönlichen Langzeitprojekten gehört daher eine Vokabelsammlung jener Wörter und Begriffe, die Klang bezeichnen: „Le livre des sons.“ Da Michel Chion, neben dem Französischen, Italienisch, Deutsch, Englisch, Latein und Altgriechisch liest, umfasst seine „semantische und historische Arbeit“ exakt diese sechs Sprachen. Das schöne deutsche Wort „Rauschen“ gehört natürlich in die Sammlung. Und Schnattern, nicht zu vergessen. Achthundert Seiten sind bereits zusammengetragen.
Die zehn Monate am Wissenschaftskolleg gelten aber einer anderen seiner vielen Passionen, nämlich der Geschichte des Films. Es handelt sich um eine selbstbewusste Uminterpretation, indem das Verhältnis von Bild, Ton und Stimme neu justiert wird. „Chronologie du cinéma verbal et sonore de 1895 à nos jours: pour une nouvelle périodisation du cinéma ,audio-logo-visuel?“ lautet das umfangreiche Forschungsvorhaben. Nun muss man wissen, dass Michel Chion als Sprössling einer Wissenschaftlerfamilie – sein Vater war Ingenieur, sein Bruder ist es auch – sich zwar zu dieser Tradition bekennt, doch persönlich einen anderen, ja vielleicht interessanteren Weg gegangen ist.
1947 in Creil geboren, einer Industriestadt im Norden, die von der Anmutung her noch im 19. Jahrhundert verharrte, hat Michel Chion an den Konservatorien in Versailles und Paris Musik studiert. Er begann mit Leidenschaft zu komponieren; seine musikalischen Werke, darunter das „Requiem“ von 1973, gehören in den Umkreis der musique concrète, die sich von der Notation vollkommen gelöst hat: Die „konkrete“ Aufnahme ist das Werk. Diese Kompositionen „brachten nichts ein“; und die Kompromisse der Filmmusik wollte er nicht eingehen. Als er gerade grübelte, wie er sein Geld verdienen könne, schlug ihm Pierre Schaeffer vor, „Son“ (also Ton) an einer Filmhochschule zu unterrichten. Ein folgenschwerer Antrag! Das war Ende der Siebzigerjahre. Ab den Achtzigerjahren, als die Videokassetten auf den Markt kamen, war es möglich, Film systematisch zu studieren. Vorher musste man immer wieder ins Kino rennen; vor- oder zurückzuspulen oder den Film anzuhalten, das ging noch nicht. Die Forschung begann also; doch führte sie Michel Chion noch lange nicht an die Universität.
Er war, von 1980 bis 1986, sogar Redakteur und Kritiker der legendären Cahiers du Cinéma, wo Truffaut und Godard ebenfalls gearbeitet hatten (sie zählen nicht zu seinen Favoriten). Es war der Zenit der Filmkritik, und Michel Chion erinnert sich begeistert. Allein die vielen Filme, die man beim Festival de Cannes „umsonst“ anschauen konnte: „C’était génial“. Von ihm selbst existieren mehrere Kurzfilme und ein sehr langer Film des Titels Messe de terre; diese „Video-Liturgie“, wie Regisseur Chion sie nennt, dauert zweieinhalb Stunden und ist auf DVD zu haben. Vielleicht darf man sagen, dass der Kritiker Chion ebenfalls weitermacht. Unter www.michelchion.com führt er ein Blog, das Filmkritik und „lauschendes Flanieren“ originell kombiniert.
Interessant: Obwohl Chion sich zum Werk als einem zusammenhängenden Ganzen bekennt, fühlt er sich frei, aus dem Werkkontext einzelne Filme herauszulösen, durchaus als Fan – die populären Filme nicht ausgenommen. Doch so weit, seine Lieblingsfilme aufzulisten, sind wir an diesem Nachmittag noch nicht. Das Erkerzimmer der Gründerzeitvilla entfaltet die Aura einer strengen Studierstube. Michel Chion, den man sich als erfüllten Menschen vorstellen muss, beginnt sich zu lockern. Sein Französisch nimmt Fahrt auf, bis zu einer Höchstgeschwindigkeit, die schwindlig macht. Die deutsche Besucherin bittet höflich um eine Drosselung des Tempos, hoffend, die Begeisterung für die Sache würde nicht mit ausgebremst. Doch davon kann keine Rede sein.
Im Umfeld der Arbeit von Pierre Schaeffer, dessen Assistent Chion war, kam es nicht nur darauf an, Töne als Objekte greifbar zu machen, sondern auch deren klangliche Qualitäten zu beschreiben, unabhängig davon, ob sie Musik sind oder nicht. Das Problem heute sei keineswegs, dass wir von Eindrücken überschwemmt würden durch die Fülle an Klängen (durch Medien, Videospiele), das Problem bestünde darin, dass die Leute Klänge und Emotionen „nicht mehr beschreiben können“. Als Lehrender greift Chion hier gern auf die Literatur zurück, insbesondere auf Romane, die geeignet seien, „Gefühle wieder zu beleben“. Ein wunderbares Beispiel ist Marcel Prousts Recherche. In Le Son interpretiert Chion das Glöckchen („le grelot“) an der Eingangstür von Tante Léonies Haus in Combray. Durch seine verschiedenartigen Klänge – gewohnheitsmäßig schwungvoll oder zögerlich – kündigt es an, wer eintritt. Das Türglöckchen beschreibt also einen familiären Binnenklangraum. Dem steht die Bedeutung eines anderen, öffentlichen Klangraums gegenüber: das Läuten der Kirchturmglocke („la cloche“) im Dorf.
Im Film wiederum ist der Rahmen („cadre“), nicht zu verwechseln mit der Leinwand („écran“), eine wichtige Größe. Ob der Klang „außerhalb“ des Rahmens zu lokalisieren ist, wie etwa die Stimme der (toten) Mutter in Hitchcocks Psycho, oder innerhalb, sei absolut entscheidend für das, was sie bewirke. Die Stimme der abwesenden Mutter/Schwiegermutter sei ein Charakteristikum in Hitchcocks Filmen. Weil der Regisseur sich von seiner Frau Alma Reville beraten ließ, sei die weibliche Perspektive sehr stark bei Hitchcock. Die Vögel im gleichnamigen Film etwa seien ein phantasmatischer Ausdruck der Aggression der Schwiegermutter. Sie repräsentierten deren „Allmacht“; ihren „archaischen Terror“.
Es ist die feste Überzeugung Michel Chions, dass sich Ton und Bild nicht direkt aufeinander beziehen, wie es etwa Gilles Deleuze in seinen Kino-Büchern behaupte. So ist Deleuze denn auch eine jener Berühmtheiten, die Chions Polemik trifft. Ton und Bild, „son et image“, passten keineswegs auf natürliche Weise zusammen, führt Chion aus, seien vielmehr „immer eine Überraschung“. Auch Jacques Derridas Philosophie der Stimme kann vor Chions sezierendem Geist nicht bestehen: Es sei Unsinn, dass die Stimme eine positive Präsenzerfahrung bedeute. Im Gegenteil, erläutert Chion, die eigene Stimme zu hören sei nur für Medienprofis ein mitunter narzisstisches Vergnügen. Alle anderen würden die eigene Stimme, wenn sie sie beispielsweise auf Tonband aufgenommen hörten, als eher unangenehm empfinden.
Die eigenen Großeltern, um 1880 geboren, hätten noch die Anfänge des Kinos erlebt, ist Michel Chion fasziniert, in diesem „Jahrhundert der Aufnahmetechnik“; Grammofon, Telefon, Kino, alles wurde mehr oder weniger gleichzeitig erfunden. Es ist frappant zu sehen, wie Michel Chion die gelegentlich zum Technokratischen neigende deutsche Medientheorie gewissermaßen französisch einfärbt. Dabei fällt ein schöner Ernst auf, Emotionen als eigene Größe zu betrachten, oder anders gesagt, als zwar gebunden an Medien, aber ihnen nicht vollständig unterworfen. Eine suchende, dem Detail gewidmete Sinnlichkeit durchzieht Michel Chions Arbeit. Nicht umsonst hält er die Phänomenologie der Wahrnehmung von Maurice Merleau-Ponty für zu Unrecht vergessen.
Ja, diese Spannung scheint essentiell zu sein für diesen Forscher, der zugleich Künstler ist, Musiker, Komponist und Filmemacher: Spannung zwischen Humanität und Technik. Michel Chion – ein kreativer Ingenieur, ganz Auge, ganz Ohr. Über den Bungalow – die ehemalige Remise einer Gründerzeitvilla –, den er derzeit in Grunewald mit seiner Frau Anne-Marie Marsaguet bewohnt, möchte er einen Kurzfilm drehen; Räume ziehen ihn magisch an. Die Stimme übrigens begreift er mit Jacques Lacan (der es in Deutschland immer schwer hatte) als „Objekt a“. Die psychoanalytische Schulung Chions ist deutlich zu spüren. Neben Lacan, dem er die Treue hält, war es die großartige Kinderanalytikerin Françoise Dolto, die ihn, persönlich wie intellektuell, stark inspiriert habe. Und an eigener Erfahrung kann er auf eine Analyse zurückblicken.
Er selbst erinnert sich an eine eher schwierige Kindheit. Die Eltern waren ein zerstrittenes Paar und ihre Scheidung – es wurden damals noch Schuldprozesse geführt – war für Michel und seinen Bruder eine Katastrophe. Die bedrückenden Jahre im Internat verbrachte er vor allem lesend. Längst hat er so viel Abstand gewonnen, dass er sogar einen Albtraum als amüsante Schaueranekdote zum Besten gibt: So habe er einmal geträumt, mit seiner Mutter in einem leeren Kinosaal eingeschlossen zu sein. Sie sitzen in einer Reihe, doch jeweils am äußeren Ende. Langsam rückt die Mutter auf, bewegt sich auf ihn zu. Je näher sie kommt, desto mehr sieht sie aus wie eine Tote. „Eindeutig eine Hitchcock-Variation!“ freut sich Michel Chion, während draußen der Abend in den winterlichen Garten sinkt.
Und die Lieblingsfilme? Ach ja, hier sind sie:
Blade Runner (Ridley Scott, 1982)
Kiss me deadly (Robert Aldrich, 1955)
Playtime (Jacques Tati, 1967)
L’homme de Rio (Philippe de Broca, 1964)
Casanova (Federico Fellini, 1976)
2001 - A Space Odyssey (Stanley Kubrick, 1968)
North by Northwest (Alfred Hitchcock, 1958)
West Side Story (Robert Wise, Jerome Robbins, 1961)
Sen to Chihiro no kamikakushi (Hayao Miyazaki, 2001)
Tree of Life (Terrence Malick, 2011)
Selbstverständlich erhebt die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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Fotos: © Maurice Weiss