Ausgabe 10 / April 2015
Wir sind nicht allein!
Stefan Klein
Im Gespräch gibt der Evolutionsbiologe und Permanent Fellow Paul Schmid-Hempel Einblick in die bisweilen unheimlich anmutende Parallelwelt der Parasiten und ihren Einfluss auf uns.
Ein Einfluss, der selbst vor unserem Handeln nicht haltmacht!
Stefan Klein: Herr Schmid-Hempel, kennen sie den Horrorklassiker Alien?
Paul Schmid-Hempel: Der Film ist superb. Es gibt ja mehrere Teile, der erste ist der beste.
SK: Er kam 1979 in die Kinos, als ich Teenager war, und hat mir schlaflose Nächte bereitet. Erinnern Sie sich an diesen schrecklichen ersten Auftritt des Aliens? Ein krakenartiges Wesen von einem fernen Planeten hat einen unschuldigen Astronauten umschlungen, aber bald wieder von ihm abgelassen. Alles scheint in bester Ordnung zu sein. Und dann bricht das Alien plötzlich aus dem Brustkorb des Astronauten hervor! Der Mann stirbt natürlich und das Alien verschwindet in der Tiefe des Raumschiffs.
PSH: Bis zum Ende der 1970er-Jahre dachte man, nur milde Parasiten sind gute Parasiten. Der Parasit dürfe seinem Wirt, von dem er ja abhängt, nicht zu sehr schaden. Doch zu der Zeit, als der Film anlief, erkannte man, dass ein Parasit sehr viel virulenter sein kann. Denn sein Erfolg bemisst sich daran, wie viele Wirte er schlussendlich befällt. Solange er in der Lage ist, auf neue Wirte überzugehen, kann der Parasit seinen Wirt auch töten.
SK: Bei der Vorbereitung unseres Gesprächs hat es mich fasziniert zu sehen, wie realistisch Alien ist. Die südamerikanische Dasselfliege Dermatobia hominis zum Beispiel vermehrt sich genauso wie die unheimliche Kreatur aus dem All: Sie klebt ihre Eier auf den Bauch von Mücken; landet die Mücke auf einem Menschen, schlüpfen die Larven, bohren sich in den Wirtsorganismus hinein, wachsen dort und brechen ein paar Wochen später als Würmer durch die Haut.
PSH: Ein Kollege hat eine solche Infektion einmal als Souvenir aus den Tropen mitgebracht. Er wollte sie nicht behandeln, weil es ihn interessierte, wie sich das entwickelt.
SK: Was ist aus ihm geworden?
PSH: Plötzlich merkte er, wie sich etwas auf seiner Schulter bewegt. Das war die Larve der Fliege. Im Übrigen ging die Sache glimpflich aus. Er arbeitet noch immer als Parasitologe.
SK: Für viele Menschen gehören solche Szenen zum Ekelhaftesten, was sie sich vorstellen können. Was brachte Sie als Biologen dazu, sich ausgerechnet den Parasiten zu widmen?
PSH: Wir arbeiten ja überwiegend mit Einzellern, die sich in Hummeln und anderen sozialen Insekten einnisten. Die sind unter dem Mikroskop sehr schön anzuschauen und gar nicht eklig. Solche Parasiten haben unglaublich raffinierte Strategien erfunden, um ihren Wirt zu manipulieren und in ihm zu überleben. Beispielsweise verstecken sie sich in bestimmten Geweben, wo das Immunsystem sie nicht sieht. Bei Insekten ist das der Fettkörper, bei uns hausen vergleichbare Parasiten im Augapfel. Sie täuschen auch das Immunsystem mit gefälschten Molekülen. Ich finde es immer noch faszinierend, diesen Tricks auf die Schliche zu kommen. Als ich anfing, trieb mich wohl die Neugier auf das Unbekannte: Da draußen ist etwas, von dem man weiß, es existiert; aber niemand hat damals realisiert, wie bedeutsam Parasiten in der Natur sind.
SK: Man könnte sie als Randexistenzen im großen Reich der Biologie ansehen.
PSH: So dachte man lange. Heute wissen wir aber, dass Parasiten die Mehrzahl der Organismen auf der Erde ausmachen. Ihre genaue Zahl kennt keiner. Schon auf einem gewöhnlichen Flussbarsch leben ungefähr hundert Arten.
SK: Wie viele Arten von Schmarotzern leben auf und in mir?
PSH: Gewiss beherbergen Sie allerhand harmlose Flagellaten im Darm. Möglicherweise sitzt in Ihrer Muskulatur und in der Netzhaut Toxoplasma gondii. Mehr als die Hälfte aller Europäer ist mit diesem Einzeller durchseucht, der uns normalerweise ebenfalls keine Probleme bereitet. Und fast jeder trägt lebenslang den Herpes-Virus in sich. All diese sind Parasiten: Arten, die ihren Wirt ausnutzen, ihm schaden und die der Wirt eigentlich loswerden will.
SK: Alien hat eine eindrucksvolle Schlusspointe: Der Bordcomputer des Raumschiffs hatte die Besatzung absichtlich zu dem vom Alien befallenen Planeten und damit in den Tod geschickt. Die Maschine war nämlich darauf programmiert, das perfekte, weil unzerstörbare Leben zu finden. Halten Sie es für denkbar, dass Parasiten dem freien Leben überlegen sind?
PSH: Der Begriff "überlegen" ist immer gefährlich. Informativer und richtig ist: Parasiten können das Verhalten des Wirts völlig reprogrammieren. Man ist erstaunt und erschüttert zu sehen, was es da alles gibt. Wie bei allen Wirbeltieren, so ist auch unser Genom voller Retroviren. Die meisten sind erst vor ein paar Jahren durch das Human Genome Project zutage getreten. Was sie alle tun, weiß derzeit niemand. Aber es besteht die unheimliche Befürchtung, dass einige Retroviren unser Handeln manipulieren.
SK: Nun sind wir den Viren und Mikroorganismen, Flöhen und Würmern, die sich in unserem Körper breitmachen und vielleicht sogar unsere Entscheidungen bestimmen wollen, nicht schutzlos ausgeliefert. Jeder Organismus hat ein Immunsystem, und Wirbeltiere sogar ein äußerst leistungsfähiges. Verglichen damit sind die meisten Parasiten ziemlich einfach gebaut. Warum gelingt es nicht, sie niederzuringen?
PSH: Weil Parasiten unglaublich variabel sind. Selbst innerhalb einer Art hat jeder von ihnen ein anderes Gesicht, wenn Sie so wollen. Das erschwert es dem Immunsystem, die Schädlinge zu erkennen. Auch nutzen Parasiten gezielt Schwachstellen im Immunsystem aus. Natürlich passt sich der Wirt immer wieder den Bedrohungen an. Aber oft hat der Parasit den entscheidenden Vorsprung. In den letzten Jahren haben wir erkannt, in welchem Maß der Wettlauf zwischen Wirten und Parasiten eine Triebkraft der Evolution ist. Ihm verdanken wir es wahrscheinlich, dass wir genetisch so variabel und damit individuell verschieden sind oder dass wir überhaupt Sex haben. Denn ist es nicht seltsam, dass die meisten Lebewesen sich geschlechtlich vermehren?
SK: Sex als Mittel der Fortpflanzung ist gnadenlos ineffektiv ...
PSH: … nicht nur, weil Sie zwei Eltern brauchen, um einen Nachkommen in die Welt zu setzen. Auch dass Sie als erfolgreiches, gut angepasstes Individuum nicht Ihr ganzes, sondern nur Ihr halbes Genom weitergeben und dies auch noch neu zusammenwürfeln, erscheint doch absurd. Warum sollte das sein?
SK: Die übliche Antwort ist: Sie wissen ja nicht, ob ihr Genom immer noch optimal ist, wenn die Lebensumstände sich ändern. Sex dient der genetischen Durchmischung. Er erzeugt immer wieder neue Kombinationen von Genen und dadurch Vielfalt, die sich in einer möglicherweise veränderten Umwelt bewährt.
PSH: So haben es Evolutionsbiologen lange gesehen. Aber meist verändert die Umwelt sich langsam, im Lauf von mehreren Generationen. Den Preis für die sexuelle Vermehrung dagegen bezahlen die Eltern sofort. So gesehen kann sich der Sex nicht lohnen. Was sich allerdings sehr schnell verändert, sind die Parasiten.
SK: Sie meinen, es gibt zwei Geschlechter und sie treiben Sex, nur um mit ihren Schmarotzern fertig zu werden?
PSH: Die Theorie stammt von William Hamilton, dem großen englischen Evolutionsbiologen. Sie ist nicht die einzige, um sexuelle Fortpflanzung zu erklären. Aber viel spricht dafür. Beispielsweise wurde in Neuseeland eine Schneckenart untersucht, die sich sowohl geschlechtlich als auch ungeschlechtlich vermehren kann. Je stärker die Tiere von Parasiten befallen waren, umso öfter pflanzten sie sich geschlechtlich fort. Offenbar ist genetische Vielfalt und damit Sex eine Antwort auf die ständige Bedrohung durch Parasiten. Wenn sie nicht wären, dann hätten wir viel mehr genetischen Einheitsbrei. So haben die Parasiten dazu beigetragen, dass wir uns voneinander unterscheiden. Wir verdanken ihnen unsere Individualität. Ohne sie wäre unsere Welt eine ganz andere.
SK: Gewiss ist es hilfreich, wenn Ihr Immunsystem etwas unterschiedlich funktioniert als meines: So wird die nächste Grippewelle eher nur einen von uns beiden erwischen. Aber ich bezweifle, ob dies alle genetischen Abweichungen erklärt. Sie haben blaue Augen, ich braune. Was sollen verschiedene Pigmentierungen der Pupille schon gegen Parasiten ausrichten können?
PSH: Sie haben recht: Zunächst geht es wirklich nur um die Gene, die für die Interaktion mit den Parasiten wesentlich sind. Aber dort herrscht die größte genetische Vielfalt. Die Evolution ist wie ein Potemkin'sches Dorf: Von Weitem sehen Sie nur eine ziemlich uniforme Fassade. Ob einer nun blaue oder braune Augen hat, Sie erkennen ihn als Menschen. Diese äußeren Merkmale sind auch ziemlich beständig. Aber für das Funktionieren des Organismus ist die Fassade meistens ziemlich unwichtig. Und wenn Sie dahinter blicken, sehen Sie ein ganz anderes Bild: Da ist alles in Bewegung: Krankheitserreger kommen und gehen, das Immunsystem passt sich an, Gene werden ein- und ausgeschaltet und im Lauf der Generationen verwandelt sich auch das ganze Genom. Und manchmal wird bei diesen Umbauten eben ein Teil der Fassade mitgenommen: zum Beispiel, wenn Gene, die die Augenfarbe regeln, mit solchen für eine bestimmte Immunreaktion gekoppelt wären.
SK: Charles Darwin beschrieb die Evolution bekanntlich anhand der Schnäbel der Finken: Die einzelnen Arten bildeten sich heraus, weil jede der Galapagosinseln unterschiedliche Nahrung anbot und daher verschiedene Schnabelformen begünstigte. Ich vermute, Sie würden die Schnabelformen eher als ein Teil der Potemkin'schen Fassade ansehen. Als Antrieb der Evolution zählen für Sie weniger die Würmer, die die Vögel picken, als vielmehr die Würmer in den Därmen der Tiere.
PSH: Ich behaupte ja nicht, dass Futter, Nistplatz und all das, was die Evolutionsbiologen über Jahrzehnte untersucht haben, unwichtig wären. Aber schon wahr: Wir sehen heute eine neue Dimension der Evolution. Da hat sich uns eine faszinierende Tür aufgetan.
SK: Vielleicht erleben Sie ungefähr das, was die Festkörperphysiker zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erfuhren: Plötzlich wurde ihnen klar, dass Kristalle nur scheinbar massiv sind, tatsächlich aber aus Atomen und Leerräumen bestehen. Und nur wer diese inneren Strukturen versteht, versteht den Kristall.
PSH: Die Situation ist durchaus vergleichbar: Wir dringen von einer Außenperspektive gewissermaßen zur tieferen Schicht des Naturgeschehens vor. Dadurch sehen wir subtile Effekte in der Evolution, die wir uns vor Kurzem nicht einmal vorstellen konnten.
SK: Faszinierend finde ich zum Beispiel das Bakterium Wolbachia. Es kann das Sexualverhalten seiner Wirte manipulieren.
PSH: Wolbachia lebt in den Zellen, meist von Insekten. Ganz gleich, ob Sie einen Käfer, einen Schmetterling oder eine Ameise vom Boden aufheben, das Tier ist wahrscheinlich befallen, und zwar seit der Geburt. Wolbachia sorgt nämlich dafür, dass sich infizierte Insekten nur mit ebenfalls infizierten Partnern fortpflanzen können. Paart sich ein befallenes Tier dagegen mit einem nicht befallenen, so werden die molekularen Signale des Parasiten dafür sorgen, dass keine Nachkommen entstehen.
SK: Der Parasit züchtet sich seine Wirte.
PSH: Eine teuflische Strategie: Alle, die sich von Wolbachia nicht anstecken lassen, werden einfach eliminiert.
SK: Dafür zahlt Wolbachia allerdings teuer. Wenn nur ein Elternteil befallen ist, verzichtet es auf Verbreitung in die nächste Generation.
PSH: Das ist eine Art Bösartigkeit, spite. Aber die Strategie lohnt sich trotzdem. Außerdem ist ein Mangel an befallenen Weibchen für Wolbachia gar kein Problem: Dann schafft sich der Parasit die Mütter, die er braucht. Wolbachia kann nämlich gleichsam für Geschlechtsumwandlungen sorgen. Molekulare Signale, die wir erst allmählich verstehen, lassen aus den Samenzellen von befallenen Männchen funktionsfähige Eizellen werden. Jetzt muss sich das feminisierte Männchen nur noch mit einem anderen Männchen paaren, und Wolbachia lebt fort in der nächsten Generation ...
SK: … durchaus nicht nur zum Schaden des vom Mann zur Frau gewordenen Wirts: Der nämlich hat eine ungewöhnliche Chance bekommen, sich zu vermehren. Offenbar können Parasiten ihren Wirten auch nützen.
PSH: Ja. Bei Wolbachia hat sich vor Kurzem herausgestellt, dass es die befallenen Tiere vor bestimmten Virusinfekten schützt. Wie genau es das macht, wissen wir noch nicht. Hier hat der Parasit offenbar ein Interesse daran, dass der Wirt, seine Ressource, gedeiht.
SK: Aber mit welchem Recht nennen Sie den Eindringling dann noch einen Parasiten? Ich würde sagen, er lebt mit seinem Wirt in Symbiose.
PSH: Die Begriffe in der Biologie sind selten scharf. Tatsache ist, dass sich Wirt und Parasit gemeinsam weiterentwickeln. Die Frage ist nun, wie wird der Interessenkonflikt zwischen beiden gelöst? Die Koevolution kann in desaströsen Verhältnissen enden, wie bei Ebola. Oder eben in einer Symbiose.
SK: Oder sogar in einer Verschmelzung von Schmarotzer und Wirt! Denken Sie nur an die Retroviren, die Teil unserer DNA wurden. Vielleicht gingen sogar die Mitochondrien, die Kraftwerke unserer Zellen, aus parasitären Bakterien hervor.
PSH: Dieser Vorgang ist auch belegt; unklar ist lediglich, ob die Vorfahren von Mitochondrien frei lebende Parasiten waren.
SK: Jedenfalls kommen wir nicht mehr ohne sie aus. Haben sich Wirt und Parasit erst einmal soweit angenähert, erübrigt sich die Abwägung, wer da eigentlich wen manipuliert. Darum frage ich mich, ob es nicht zu kurz greift, nur den Interessengegensatz zwischen dem Wirt und seinen Parasiten zu sehen.
PSH: Ich bekenne mich schuldig. Ich habe auch einmal eine meiner Arbeiten mit dem Wort "war", Krieg, überschrieben. Andererseits ist klar, dass Wirt und Parasit einander nichts schenken. Hinter der Potemkin'schen Fassade herrscht ein Dauerkonflikt der Interessen. Man darf sich dieses Ringen zwischen Wirt und Parasit nicht als die große Entscheidungsschlacht, sondern viel eher wie eine Folge von täglichen Abnützungen vorstellen, deren Konsequenzen aber überhaupt nicht so schlecht sind.
SK: Wie in einer Ehe.
PSH: Ja (augenzwinkernd). Weder kann man mit einander, noch wird man einander los. Weil aber die Partner verschiedene Interessen haben, versuchen sie ständig, einander ein Schnippchen zu schlagen. Am Ende muss jeder Kompromisse eingehen.
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Fotos: © Maurice Weiss