Ausgabe 12 / Juni 2017
Bonjour Tristan
von Hans-Joachim Neubauer
Julia Voss recherchiert Leben und Werk der schwedischen Malerin Hilma af Klint
Bonjour Tristan Otto. Der Tyrannosaurier, vielmehr sein schwarzes Skelett, steht hinten im Erdgeschoss des Naturkundemuseums und zeigt sein Gebiss. Damit machte er schon vor 66 Millionen Jahren Eindruck. Julia Voss legt den Kopf in den Nacken, einundzwanzigstes Jahrhundert trifft auf Kreidezeit. Ein Schild erklärt, dass der zwölf Meter lange Riese nach den Söhnen seiner Besitzer benannt wurde. Voss greift zum Mobiltelefon, googelt: Tristan gehört zwei Investmentbankern aus London. Also ganz neues Geld für ganz alte Knochen. Taugt ein Fossil als Metapher? Und wenn ja, wofür könnte es stehen? Das Finanzsystem? Voss lacht, steckt ihr Telefon ein und geht weiter. Turnschuhe in Silber, Orange, Grün. Evolution ist definitiv mehr als eine Theorie über früher.
Julia Voss ist Feuilletonredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das Wissenschaftskolleg hat die Kunstkritikerin eingeladen, damit sie hier in Berlin an ihrem neuen Buch arbeiten kann. Voss recherchiert Werk und Leben der schwedischen Malerin Hilma af Klint. Klint war eine frühe Abstrakte, ein lange verkanntes Genie; heute ist sie eine Provokation für die Kunstgeschichte. Aber was machen wir bei Tristan? Und was hat uns der tasmanische Beutelwolf zu sagen? Tristan und der Wolf bezeugen den Verlauf der Evolution. Variation, Selektion: Paläobiologen erzählen Geschichten von damals, ihr Thema ist das irdische Leben, seine Entstehung und Entwicklung. Und Julia Voss hat untersucht, wie der größte aller Naturerzähler, Charles Darwin, seine Narration an den Mann und die Frau brachte: mit Bildern. Kunstgeschichte als epistemische Wissenschaft. Voss ist stellvertretende Ressortleiterin ihrer Zeitung, zudem Honorarprofessorin in Lüneburg, aber wer mit ihr zu den Sauriern geht, spürt sofort: Zuhause ist sie auch hier.
Hinter der Vitrine mit dem ausgestopften Beutelwolf treffen wir den Meister in Gips. In einer Vitrine daneben hängt eine Grafik des menschlichen Genoms mit allerlei Daten zu unserem Zentralcode. Ein Mädchen und ein Junge kommen und bestaunen Darwins Bart, verschwinden wieder. Voss erzählt, wie Darwin denkt und arbeitet, wie er, erst gleichzeitig, dann gemeinsam mit Alfred Russel Wallace, das Modell der Evolution entwickelt und ausbaut. Mit Darwin ist sie schon lange bekannt, am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte hat sie über ihn geforscht und 2005 über die Darwinismus-Debatte an der Humboldt-Universität promoviert; für diese Studie erhielt sie die begehrte Otto-Hahn-Medaille. 2007 dann bringt die junge Wissenschaftlerin ihren Band Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837–1874 heraus. Wer das Buch liest, begreift und erlebt, wie sehr sich der britische Naturforscher bei der Konzeption seiner Gedankenmodelle auf Bilder stützte. Diese Fotos, Stiche, Zeichnungen und Skizzen prägen unser Bild der Geschichte des Lebens auf der Erde bis heute.
In ihrem Buch erzählt Voss das Abenteuer dieses kühnen, befreienden Denkens völlig neu. Also ist es kein Zufall, dass wir jetzt den Perlenpfau besuchen, einen Cousin des Argusfasans. Wir betrachten das üppige Federkleid des Tieres, und Voss erzählt, wie Darwin in der zweiten Ausgabe seines Descent of Man balzende Fasanenhähne nebst ihren Hennen präsentiert – nicht um die berückende Schönheit der Tiere zu zeigen, sondern als ein visuelles Modell für das Phänomen der Selektion. Neben den sich spreizenden Männchen wirken die Weibchen unscheinbar, dabei sind sie die wahren Agenten der Auslese, sie haben die „power of choice“; bei der Partnerwahl folgen sie ihrem Sinn für das Schöne, dem „taste for the beautiful“. Aber das weiß doch jeder, oder? – Ja, heute! Voss erklärt, wie sorgfältig der Medienstratege Darwin seine Abbildungen auswählt. Auch als Illustration hat der Argusfasan einen harten Ausleseprozess hinter sich: Er ist eines der ganz wenigen Motive, mit denen Darwin die Selektion bebildert. Gezielt vermeidet der Begründer der modernen Evolutionsbiologie blutige Abbildungen von Raubtieren und ihren Opfern. Selektion ist für ihn eben nicht der später von den Sozialdarwinisten behauptete Kampf zwischen Individuen. Den gewinnt immer der Stärkere. Nein, Darwins Selektion beruht auf Variation: Wer am besten an seine Umwelt angepasst ist, kommt weiter. Nur schöne Hähne werden Papa; „geschlechtliche Zuchtwahl“ heißt das zu Darwins Zeiten. Adaption statt Optimierung. Tristan ist groß, aber tot.
Julia Voss geht durchs Museum, und die Dinge beginnen zu sprechen. Wünschelruten-Romantik? Nein, das passiert halt, wenn eine Kunstgeschichtlerin und Wissenschaftshistorikerin wie diese sich umschaut. Exponate bekommen Kontexte. „Das ist das Schönste“, sagt Voss und zeigt auf eine Vitrine. Wir stehen vor einer Abbildung von Darwins berühmter Tree-of-life-Skizze von 1837, seiner ersten. Unter die Worte „I think“ hat er mit wenigen Strichen das Prinzip der Evolution aufs Papier geworfen, einen abstrahierten Stammbaum des Lebens; Buchstaben von A bis D stehen für die verschiedenen Arten. Ein Heureka-Moment. Mit diesem Blatt aus einem Notizbuch beginnt der Siegeszug einer Metapher, eines Modells; ein Bild zeigt den Gedanken. Das cogito darüber bildet den Basissatz jener Spezies, die den obersten Platz am Baum des Lebens für sich in Anspruch nimmt. „Sieht fast aus wie Konzeptkunst“, meint Voss lakonisch, „ein epistemisch schöner Moment.“
Schöne Episteme: Im grandiosen In-vitro-Saal des Museums sehen wir uns in Alkohol eingelegte Wesen an: bleiche Vertreter ihrer jeweiligen Art, Tausende tote Zeugen der Vielfalt des Lebens. „Die Unordnung“, sagt Voss, „das ist die Natur.“ Fremdartig sehen sie aus, die einsamen und nackten Geschöpfe in ihren gläsernen Konserven. Hier werden die vielen Kinder, die fröhlich durch das Museum lärmen, merklich stiller. Augenblicke der Andacht? Darwin zumindest hatte Respekt vor den Religionen, sah sich nicht im Gegensatz zu ihnen, erzählt Voss. Und dann fällt ihr ein, wie sie einmal nach Santee bei San Diego reiste, um dort das Museum of Creation and Earth History zu besuchen, das genaue Gegenstück zu dem Ort, an dem wir gerade sind. Seit vier- bis sechstausend Jahren gibt es die Erde, glauben die ultra-bibeltreuen Kreationisten. Einen von ihnen fragte Voss, wie Noah eigentlich die Saurier auf seiner Arche unterbrachte. Die Antwort war nicht ohne Logik: „Im Ei!“
Später auf dem runden Sofa im Treppenhaus des Museums: schreiende, rufende, lachende Kinder überall. Gleich geht’s wieder los, dann kommt die Scheibe mit dem Weltallfilm von oben, senkt sich herab über den zwanzig Leuten auf dem großen Liegemöbel, zeigt die alte Zeit, dann das Universum. Zwei Mädchen machen es sich gemütlich, blicken nach oben. Mit halb geschlossenen Augen schaut Voss ihnen zu. „Davon können Kunstmuseen nur träumen“, meint sie. Wovon? „Von diesem Geruch, diesem Flair aus Umkleidekabine, Aufregung, Turnschuhabrieb.“ Naturmuseen sind Kinderorte, Orte des Staunens und Begreifens; in Kunstmuseen riecht es nach Bildung, Parfum, grauem Haar. Über uns bereitet sich der Kosmos auf den Weg nach unten vor, Countdown. Die Kinder zählen mit. Big Bang. Milliarden von Jahren vergehen in Sekunden, die Kinder halten den Atem an. Voss erzählt von Hilma af Klint, von den Symbolen auf ihren Gemälden, von ihren Formexperimenten, von der schieren Größe der Bilder. Klint ließ sich von spirituellen Erfahrungen und kosmologischen Reflexionen inspirieren. „Wenn man ihre Bilder hängt, wie sie gehängt werden sollten, sieht man, dass das Reihen sind, die eine Entwicklung beschreiben. Sie hat den Evolutionsgedanken auf die Kunst übertragen.“
Supernovae taumeln durchs Chaos, Steinbrocken rasen dahin, Kometen auf elliptischen Bahnen, Unordnung, Urordnung. „Für Hilma af Klint hat nicht nur die organische Welt eine Evolution, sondern auch die kulturelle. Und damit auch die Kunst.“ Ein paar Millionen Jahre ziehen vorüber, die beiden Mädchen neben uns schauen zu. „Hilma af Klint war sich sicher, dass sie der Anfang war. Sie war sich sicher, dass man die unsichtbaren Welten irgendwann so deutlich würde wiedergeben können wie die sichtbaren.“ Der Einblick in die Zeit schlägt um in einen Ausblick auf den Raum, langsam schwebt die Monitorscheibe wieder aufwärts. Bonbonpapier fliegt durch die Luft, Mikrokosmos trifft auf Makrokosmos, universale Ordnung allüberall. Wo sind wir und wer? Voss streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Hilma war sich bewusst, dass sie ihrer Zeit voraus war“, meint sie, „da hatte sie recht.”
Tristan steht immer noch da, bestaunt als tragischer Verlierer der Evolution. Seine Mission: Schrecken. Seine Nachfahren: Hühner. Wäre er nicht so groß, wäre er wohl kaum hier. Was wollen wir sehen und was nicht? Was ist Sensation, was wird vergessen? Hilma af Klint malte schon 1906 abstrakt, einige Jahre vor Wassily Kandinsky und František Kupka. Ihre Werke hielt sie unter Verschluss und verfügte, dass das auch bis zwanzig Jahre nach ihrem Tod so blieb. Hat Kunst ohne Markt einen Platz im Kanon? „In dem Moment, wo ein Kandinsky 80 Millionen kostet, hat keiner Lust auf eine Outsiderin, auf eine neue Schwedin, die die Erzählung von den Männern, die ab 1910/11 die Abstraktion erfinden, sprengt.“ Für Hilma af Klint will Voss den Kanon korrigieren, erweitern. „Wer schreibt mit welchem Interesse Kunstgeschichte?“ Voss weiß, wovon sie spricht, zusammen mit ihrem Mann, dem Zeichner Philipp Deines, hat sie ein Buch über den White Cube gemacht, eine engagierte Reflexion über den Kunstmarkt, den Kanon und die Kritik in Zeiten des ganz großen Geldes. Der Markt ist nicht „natürlich“, nicht „gewachsen“, sondern das Ergebnis knallhart ausgehandelter Interessen. Survival of the fittest? Kommen nur die Besten weiter? Eben nicht, Voss schüttelt den Kopf, so einfach kann man es sich nicht machen. „Die Frage ist: Welche Erzählung setzt sich durch? Und welche nicht?“ Es lohnt sich immer, nach den Nutznießern der Verhältnisse zu fragen, nach dem cui bono: „Für wen ist das System gemacht?“
Salut Tristan. Draußen ist Frühling, Berlin hat gute Laune, und Voss muss los. In einer Stunde beginnt ihr Schwedischkurs. Nächsten Monat dann fährt sie nach Schweden und trifft sich dort mit Klints Verwandten, recherchiert in Museen und Archiven. Was würde sie die Malerin fragen, wenn sie ihr dort begegnen würde? Die Frage gefällt ihr. „Zum einen würde ich sie fragen, wann sie welche Reise unternommen hat, das ist nämlich ziemlich schwierig herauszufinden.“ Und zum anderen? Kurze Pause, sie lacht, „Ich denke“, sagt sie dann, „ich denke, ich würde sie fragen, wie sie Wassily Kandinskys Bilder findet.“
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Fotos: © Maurice Weiss