Ausgabe 13 / Januar 2018
„Die dritte – föderale – Republik China wird irgendwann kommen“
Maximilian Steinbeis
Qianfan Zhang, Verfassungsjurist aus Peking, ist in Berlin, um den Föderalismus in Deutschland zu studieren – ein Modell, von dem das zweitausend Jahre alte zentralistische System in China viel lernen kann
Maximilian Steinbeis: Herr Professor Zhang, Sie sind ans Wissenschaftskolleg gekommen, um zu erforschen, wie der Föderalismus in Deutschland funktioniert, wie Sie das zuvor schon in den USA getan haben. China hat über 2000 Jahre Erfahrung darin, eine gigantische Fläche mit vielen hundert Millionen Einwohnern von einem einzigen Machtzentrum aus zu regieren. Warum ist nach einer so langen Zeit das föderale Modell für China auf einmal interessant?
Qianfan Zhang: Ich kann nur sagen, dass einige chinesische Intellektuelle sich ernsthaft mit dem Föderalismus beschäftigt haben, während die Regierung dieses Konzept nie akzeptiert hat. Aber irgendwann in der Zukunft wird sich China eine Bundesverfassung geben und den Föderalismus einführen, da das derzeitige System nicht funktionieren kann. Deshalb ist die deutsche Erfahrung mit dem Föderalismus so wichtig für China.
Es gab schon immer Probleme bei der Regierung Chinas, aber diese haben sich in den letzten Jahren aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche unserer Zeit verstärkt. Der erste Kaiser Qin Shi Huang, der China nach der langen und grausamen Zeit der Streitenden Reiche um 220 v. Chr. vereinigte, führte ein sehr einfaches zentralistisches Regierungsmodell ein, das im Grunde genommen immer noch besteht. China war bereits damals ein riesiges Land, wenn auch viel geringer bevölkert. Es war ein hochzentralisiertes Modell, das aber aufgrund physischer Beschränkungen nicht sehr effizient war. „Der Himmel ist hoch und der Kaiser weit weg“, wie wir sagten, das heißt, dass die Ortsansässigen über ausreichend Spielraum verfügten. Solange alles gut lief, wurden die örtlichen Beamten in Ruhe gelassen, wenn aber die Dinge so aus dem Ruder gerieten, dass die Zentralregierung aufmerksam wurde, wurden sie bestraft. Als Folge davon hatten wir eine ziemliche Vielfalt vor Ort, aber nur, weil die Zentralregierung nicht in der Lage war, alles einzeln und im Detail auf lokaler Ebene zu kontrollieren.
MS: Es gab also nie irgendeine formalisierte Entscheidungsstruktur außerhalb des Zentrums?
QZ: Die Hindernisse in Verkehr und Kommunikation ließen Raum für eine gewisse Vielfalt und einen gewissen Pluralismus, aber dies wurde nie institutionalisiert – bis heute nicht, weil sich unsere institutionelle Struktur im Wesentlichen in all den Jahrhunderten kaum verändert hat. Wir haben immer noch eine Zentralregierung mit unbeschränkter gesetzgebender Gewalt. Sie erlassen eine Anordnung, die im ganzen Land einheitlich ausgeführt wird, ob es passt oder nicht. In China nennen wir das „ein Messer schneidet alles“ (yidaoqie): Ob groß, ob klein, wir schneiden euch alle auf die gleiche Größe zurecht. Ein Beispiel: China hat ernste Probleme mit Umweltverschmutzung, die Regierung hat also beschlossen, keine Kohle mehr zum Heizen im Winter zu verwenden. Sie haben die Lieferung von Kohle gestoppt und stattdessen angeordnet, Gas zu verwenden. Nur sind an vielen Orten noch keine Maßnahmen für den Winter getroffen worden. Die Zentralregierung weiß nicht, welche Orte das umsetzen können und welche nicht. Die Lokalbehörden hätten es gewusst, aber alles, was sie im Einheitsstaat tun können, ist, den Anordnungen aus der Zentrale zu folgen.
MS: Hier geht es nicht einmal um lokale Unterschiede und Selbstbestimmung. Im Winter nicht zu erfrieren ist ein allgemeines Bedürfnis. Warum stellt die Zentralregierung es nicht in das Ermessen der Lokalverwaltung, diesem Bedürfnis nachzukommen?
QZ: Das Problem ist nicht, dass es in der Praxis keinen Ermessensspielraum geben würde. Der ist reichlich vorhanden, und tatsächlich ist genau das das Problem. Die Beamten vor Ort begehen viele Verstöße gegen das Gesetz und die Menschenrechte. Korruption ist offensichtlich ein weit verbreitetes und meist lokales Problem, und die Zentralregierung verfügt oft weder über die Informationen noch das Personal noch die Entschlossenheit, um sie auszurotten. Prinzipiell trifft die Zentralregierung alle wichtigen politischen Entscheidungen, die die Lokalbehörden dann umsetzen müssen. Aber wenn diese Politik ihren Eigeninteressen zuwiderläuft, haben sie viele Möglichkeiten, sie zu verhindern. Selbst wenn die staatliche Politik Menschen nützt, wird sie nicht umgesetzt werden, solange von unten kein Druck ausgeübt wird. Zum Beispiel sorgt die Regierung gelegentlich für Katastrophenhilfe. Jeder mit dem Vorgang befasste Funktionär „reißt dem Vogel eine Feder aus“ und für die bedürftigen Empfänger bleibt nicht mehr viel übrig, wenn sie schließlich ihr Ziel erreicht.
MS: Gibt es keine Möglichkeit, von unten Druck auszuüben? Reichen die Menschen keine Beschwerde ein?
QZ: Doch, aber es gibt so viele Verstöße, dass die Zentralregierung einfach nicht weiß, wo sie anfangen soll. Wir haben seit alters her ein Petitionssystem. Wenn man eine Beschwerde hat, wenn ein lokaler Beamter einem etwas antut, wendet man sich an seinen Vorgesetzten. Aber das ist derjenige, der den untergebenen Beamten eingestellt hat, über den man sich beschwert – er ist also sehr unwillig, das Problem zu lösen, denn das würde darauf hindeuten, dass er selbst einen Fehler gemacht und die falsche Person eingestellt hat. Also wendet man sich an den Vorgesetzten des Vorgesetzten, aber es gilt dieselbe Logik, und so weiter, bis nach ganz oben in der Hierarchie, bis man in Peking landet. Die Zentralregierung ist sehr nervös, weil all diese Leute zur Hauptstadt strömen. Leute stellen sich in kilometerlangen Schlangen vor dem zentralen Disziplinarausschuss an und haben dabei praktisch keine Chance darauf, dass ihr Problem gelöst wird. Auf dem Weg dorthin müssen sie alle möglichen Entbehrungen auf sich nehmen und werden schlecht behandelt, manchmal viel schlimmer als bei dem ursprünglichen Vorfall, der der Anlass zu ihrer Beschwerde ist. Am Schluss ist alles umsonst. Sie vergeuden ihr Geld, ihre Zeit, ihre Energie. Ich habe Leute gesehen, die 20, sogar 30 Jahre lang Eingaben gemacht haben, was im Grunde ihr Leben aufgezehrt hat. Trotzdem halten viele Leute daran fest. Es ist sozusagen unsere Kultur. Was können sie in einem solchen System sonst tun?
MS: Was ist mit der Justiz? Hier im legalistischen Deutschland haben wir starkes Vertrauen in unsere Richter, dass sie die Amtsträger zur Rechenschaft ziehen.
QZ: Es ist das gleiche Problem, zentral/lokal. Wir haben einen Obersten Volksgerichtshof für das ganze Land. Er kann nicht alle Entscheidungen der örtlichen Gerichte überwachen. Und die lokalen Richter hängen von den Lokalbehörden ab. Laut der sozialistischen Verfassung sollen die Gerichte unter „demokratischer Kontrolle“ sein, das heißt der lokale Volkskongress überwacht die örtliche Justiz. In Wirklichkeit ist es natürlich die Partei, die alles bestimmt, der Volkskongress nickt bloß ab. Die Lokalregierungen entscheiden über die Leitung der Gerichte und statten die Gerichte mit Geld und Ressourcen aus. Wenn das Gericht in einem Fall gegen die Regierung entscheidet, hat die Lokalregierung viele Möglichkeiten, gegen es vorzugehen. Das führt zu fehlender Unabhängigkeit der Gerichte, ungezügeltem lokalen Protektionismus und Komplizenschaft der Justiz an korrupten Handlungen. Dies ist tatsächlich ein Bereich, wo mehr Zentralisierung nötig ist. Die Menschen nehmen so viel auf sich, um in Peking Petitionen einzureichen, zum Teil, weil sie sich nicht darauf verlassen können, dass die Gerichte ihre Rechte schützen.
MS: Entscheidungen zu zentralisieren oder zu dezentralisieren erfordert Kriterien zur Unterscheidung, welche politische Ebene welche Entscheidungen fällt – Kriterien, die das Verfassungsrecht festlegt. Aber ich frage mich, welchen Unterschied eine Verfassung, ob föderal oder nicht, machen würde, solange es eine etablierte Partei gibt, die über ein Machtmonopol verfügt und streng hierarchisch organisiert ist.
QZ: Sie haben recht. Das Recht ist in China absolut zweitrangig, vor allem das Verfassungsrecht. Man muss das politische Problem lösen, bevor das Problem des Rechts und der Verfassung gelöst werden kann. All diese Probleme lassen sich darauf zurückführen, dass keine demokratischen politischen Reformen stattgefunden haben. Wenn die Menschen ihre örtlichen Amtsträger wählen würden, würden sie dafür sorgen, dass diese zur Verantwortung gezogen werden können. Bei uns finden zwar alle fünf Jahre Wahlen statt, aber sie sind wegen Manipulation ohne Bedeutung. Nicht das Wahlergebnis entscheidet über das Schicksal der Amtsträger, sondern ihr Vorgesetzter. Wo es keine wirklichen Wahlen gibt, sind die Funktionäre nicht den Menschen Rechenschaft schuldig, sondern nur ihren Vorgesetzten. In so einem System gibt es keine echte Beziehung zentral/lokal. Alles, was es gibt, ist eine persönliche Beziehung Vorgesetzter/Untergebener. Dies muss sich zuerst ändern, bevor die Beziehung zentral/lokal irgendeine Bedeutung bekommt.
MS: Die Kommunistische Partei Chinas müsste also andere Parteien zulassen, die mit ihr im Wettbewerb stehen?
QZ: Ja, wenn wir kein offenkundiges Mehrparteiensystem haben, muss es zumindest einen ernsthaften Wettbewerb innerhalb der Regierungspartei geben. In dieser Hinsicht können wir von Japan und anderen asiatischen Ländern lernen. Asien hat vielleicht die längste autoritäre Tradition der Welt. Selbst einige dem Namen nach demokratische Länder sind in Wahrheit nicht sehr demokratisch. Wir sind also näher an ihrer Situation und könnten aus ihren Erfahrungen lernen. In den 1980ern, dem Höhepunkt der progressiven Reformen in China, gab es eine Debatte darüber, die Partei und den Staat voneinander zu trennen. 1982-83, als nach Inkraftsetzung der aktuellen Verfassung die erste Wahl durchgeführt wurde, gab es ernstzunehmende Wahlkampagnen. Die Leute reden noch heute über die lebhaften Wahlkampfveranstaltungen auf dem Campus der Universität Peking, als die Kandidaten der verschiedenen Parteien auf demselben Podium diskutierten. Einer von ihnen, Li Keqiang, wurde später Premierminister, andere, wie Hu Ping und Wang Juntao, „Kämpfer für Demokratie“ und gingen ins Ausland. Aber danach schien die Parteiführung vorsichtig zu werden und verschärfte ihre Kontrolle wieder. Nach 1989 haben wir ein massives Rollback erlebt, bis zu dem Punkt, dass Wahlen völlig bedeutungslos wurden.
MS: Betrachten die Parteifunktionäre Ihre Forschung als Herausforderung oder als hilfreich? Könnte Ihre Systemkritik Sie in Schwierigkeiten bringen?
QZ: Nachdem ich Ende 2011 zum Gedenken an den 100. Jahrestag der ersten chinesischen republikanischen Revolution ein Programm für eine Verfassung veröffentlicht hatte, wurde ich in dieser Frage zunehmend sensibel. Als öffentlicher Intellektueller habe ich jedes Jahr viele Kommentare geschrieben. Es ist fast unmöglich geworden, sie in China in Zeitschriften und Zeitungen zu veröffentlichen. Die letzten vier Jahrzehnte sahen eine enorme Erweiterung der Redefreiheit in China, ganz besonders seit der Entwicklung des Internets, aber nur in der Praxis, nicht als ein von der Verfassung geschütztes Recht. Die Regierung kann jederzeit die Redefreiheit einschränken, wenn sie will, freie Rede im Internet eingeschlossen. Bis jetzt gab es nichts, was das gestoppt hätte. Zum Beispiel können sie die Internetdienste einfach anweisen, Ihre Accounts zu löschen, was sie 2013, während des Dritten Plenums des 18. Parteitags der KP, mit meinen Blogs und Mikroblogs (in China die Entsprechung zu Twitter) getan haben. Sie können Sie natürlich auch auf die schwarze Liste für offizielle Veröffentlichungen setzen, da praktisch alle Verlage, Zeitschriften und Zeitungen in China dem Staat gehören. Es gab ein Gerücht, dass ich und mehrere liberale Autoren einmal auf der schwarzen Liste standen. Ich fragte bei verschiedenen Verlegern nach und bekam widersprüchliche Antworten. Jedenfalls sind viele Verlage eingeschüchtert und haben es abgelehnt, meine Bücher zu veröffentlichen, die rein wissenschaftlicher Natur und politisch nicht heikel sind. Es wird viel einfacher, wenn man auf Englisch veröffentlicht, weil sie über ausländische Verlage keine Kontrolle haben. Es kümmert sie auch nicht, weil es ihnen vor allem um den Einfluss auf chinesische Leser geht.
Die Regierung schränkt die Redefreiheit ein, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie persönlich nicht mögen, was ich sage, oder damit nicht übereinstimmen. Es gibt eine Menge Leute „innerhalb des Systems“, die ein großes Interesse an meiner Forschung haben. Nehmen Sie zum Beispiel das Thema Hongkong. Dies ist ein Beispiel dafür, dass das sogenannte Einheitssystem dieses riesigen Landes letzten Endes doch nicht so einheitlich ist. Seit es vor zwanzig Jahren von der britischen Regierung an China zurückgegeben wurde, hat Hongkong auf Grundlage der Formel „ein Land, zwei Systeme“ in der Verfassung ein hohes Maß an Autonomie genossen. Erst in den letzten Jahren hat die Zentralregierung versucht, ihre Kontrolle über Hongkong auszudehnen. Dies hatte eine paradoxe Wirkung: Vor zehn Jahren wollten die Hongkonger nur Autonomie, aber jetzt fordern sie als Reaktion auf die fehlende Autonomie und die Vorenthaltung des Rechts, ihre eigene Regierung zu wählen, sogar Unabhängigkeit. Man will mehr Kontrolle, aber man bekommt weniger. Ich schlage daher das Gegenteil vor: weniger kontrollieren, mehr Autonomie zulassen, dann wird man mehr Kontrolle bekommen. Es kommt darauf an, dass China seine Souveränität über Hongkong behält, aber das bedeutet nicht, dass die Zentralregierung es zu ihrer Aufgabe machen sollte, sich um die Verwaltung der Stadt zu kümmern. Das sollte die Aufgabe der Bewohner Hongkongs sein, die der Zentralregierung dankbar für ihren liberalen Ansatz sein würden. Unvoreingenommene Funktionäre loben die Vorschläge, die ich hier mache, sehr, aber keine Zeitschrift in China wagt es nun, sie zu veröffentlichen.
MS: Bundesstaaten wie Deutschland und die USA sind historisch aus unabhängigen Staaten entstanden, die sich zusammengeschlossen haben. Einheitsstaaten sind oft mit Devolution und regionalen Sezessionsbestrebungen konfrontiert. In welchem Umfang kann man beide Modelle überhaupt vergleichen?
QZ: Es gibt viele verschiedene Formen von Bundesstaaten, und Einheitsstaaten wie das Vereinigte Königreich oder Frankreich unterscheiden sich noch stärker voneinander. Aber diese Unterschiede sind aus unserer Perspektive gering. Devolution in einem Einheitsstaat unterscheidet sich von Föderalismus darin, dass sie nicht durch die Verfassung legitimiert wird, sondern durch die nationale Gesetzgebung, die das Parlament im Prinzip jederzeit widerrufen kann. Aber unser Problem ist viel grundsätzlicher. Wenn wir keine Demokratie haben, ist Devolution nicht zwangsläufig etwas Gutes: Sie könnte die große Gefahr dezentralen Machtmissbrauchs bedeuten. Da die Lokalregierung der örtlichen Bevölkerung gegenüber nicht verantwortlich ist, könnten die Dinge leicht außer Kontrolle geraten, wenn die Zentralregierung ihre Kontrolle lockert. Beschränkte Devolution führte zu einer riesigen Katastrophe, nämlich der Großen Hungersnot der späten 1950er und frühen 1960er, die durch den „Großen Sprung nach vorn“ verursacht wurde. Ihr offizieller Name ist die „dreijährige Naturkatastrophe“, aber es war in Wirklichkeit eine institutionell verursachte Katastrophe. Dies war zur Zeit, als China eine rigorose Planwirtschaft praktizierte und die Zentralregierung die Zwangsabgabe der Ernteerträge aus Bauernhaushalten anordnete. In dieser Zeit erhielten die Lokalregierungen mehr Kontrolle über die Wirtschaft, nicht weniger, während das politische System natürlich streng hierarchisch war. Die untergebenen Beamten hingen hinsichtlich ihrer Beförderung von ihren Vorgesetzten ab, also waren sie bemüht, alles zu tun, um die Zentralregierung zufriedenzustellen. Die Ernte war 1959 nicht so gut wie 1958, aber die Lokalregierungen meldeten optimistische Zahlen an die Vorgesetzten, sodass die Zentralregierung unrealistisch ehrgeizige Abgabequoten festlegte. Und die Lokalregierung tat alles, um den Befehl auszuführen – sie versuchten sogar, die verordneten Abgaben zu übererfüllen, zulasten der Bauern, die gezwungen wurden, ihre Ernte der Regierung zu übergeben, ohne dass sie ausreichend für ihren eigenen Bedarf behalten durften. Das Ergebnis war, dass Zehntausende verhungerten. Das wäre in einem demokratischen System nie passiert. Amartya Sen sagt, dass Indien, ein sehr armes Land, nie eine Hungersnot in diesem Ausmaß erlebt hat, weil es eine Demokratie ist.
MS: Wenn Sie in Berlin, dem politischen Zentrum Deutschlands, spazieren gehen, entspricht das, was Sie sehen, Ihren Erwartungen? So sehr ich Berlin liebe, muss ich zugeben, dass viele Deutsche, besonders jene aus älteren, stolzeren und reicheren Städten wie München, Köln, Frankfurt oder Hamburg, eine ziemlich schlechte Meinung von unserer bettelarmen und oft dysfunktionalen Hauptstadt haben …
QZ: Das ist ziemlich typisch für einen Bundesstaat, oder? Die Tatsache, dass Berlin nicht so reich und privilegiert ist, zeigt gerade, dass Demokratie und Föderalismus in diesem Land funktionieren. Wenn man nach Peking kommt, ist das völlig anders. Gerade versuchen sie, die ganzen armen Menschen zu vertreiben, die nach Peking gekommen sind, die sogenannten „Außenseiter“ oder „Abwanderer aus dem Norden“. Auch in dieser Hinsicht ist China, bei genauerem Hinsehen, ganz und gar nicht „einheitlich“ oder „sozialistisch“. Wir haben all diese künstlichen Schranken gegen Außenseiter. Es gibt so viele institutionelle „Zäune“, überall. Und das meine ich wortwörtlich. Wenn Sie die Humboldt-Universität betreten möchten, können Sie einfach hineingehen. Die Universität Peking ist von einem hohen Zaun umgeben und Sie müssen Ihren Personalausweis vorzeigen, um durchzukommen. Wir versuchen, unsere Hauptstadt zur besten zu machen, wir haben alle möglichen Privilegien geschaffen, die natürlich Menschen aus dem ganzen Land anziehen. Aber es ist sehr schwierig, eine Haushaltsregistrierung in Peking zu bekommen (hukou). Ein ziemlich berühmter Besucher aus Deutschland hat den hukou sogar zu Recht als „Pass“ (huzhao) bezeichnet, als ob man eine spezielle Erlaubnis zum Eintritt in ein fremdes Land benötigt, um dort in den Genuss zahlreicher Privilegien zu kommen. Nur ein Beispiel: Es ist viel einfacher für Studenten mit einem Pekinger hukou, zu den Universitäten mit dem besten Ruf zugelassen zu werden, weil die meisten von ihnen sich in Peking befinden und für jede Provinz Quoten ausgegeben werden, wobei für die Einwohner Pekings natürlich eine viel höhere Zulassungsquote gilt. Wir haben sogar unterschiedliche Prüfungen für Peking und die Hälfte der Provinzen, und die Zulassungsbedingungen sind sozusagen protektionistisch gegenüber den Einwohnern Pekings. Dies ist übrigens Teil des Systems zur „Erhaltung der Stabilität“ (weiwen): Wir möchten, dass die Einwohner Pekings ganz zufrieden sind und nicht protestieren. Sie (dazu gehört auch meine eigene Familie) haben sozusagen einen Freifahrtschein in diesem unfairen, hochzentralisierten System.
Aber, wie ich zu Anfang sagte, dieses System wird sich ändern müssen. China hat die erste (1912) und die zweite (1949) Republik erlebt, auch wenn es sich um Pseudorepubliken handelte. Die dritte Republik wird irgendwann kommen, und sie wird eine echte föderale Demokratie wie Deutschland sein.
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Fotos: © Maurice Weiss