Ausgabe 14 / März 2019
Wasserflöhe und die Geheimnisse der Evolution
von Sonja Kastilan
Permanent Fellow Dieter Ebert kultiviert eine Vielfalt an Wasserflöhen. Sie geben ihm neue Aufschlüsse über die lebenswichtige Wechselbeziehung von Wirten und ihren Parasiten
Von Daphne ließ sich der Komponist Richard Strauss 1934 zur „bukolischen Tragödie in einem Aufzug“ inspirieren. Der dänische Naturforscher Otto Friedrich Müller hatte der sagenhaften Nymphe bereits 1785 eine eigene Gattung gewidmet. Über die der französische Zoologe Hercule Eugène Straus dann vierzig Jahre später sein „Mémoire sur les Daphnia“ verfasste. Straus beschrieb darin als Erster die Daphnia magna. Eine Spezies, mit der sich heute der deutsch-schweizerische Evolutionsbiologe Dieter Ebert intensiv beschäftigt. Gemeinhin als Wasserflöhe bekannt, sind es in Wirklichkeit winzige Krebstiere, und in seinen Laborräumen an der Universität Basel tummeln sie sich zu Tausenden.
Die Daphniidae haben Ebert in ihren Bann gezogen, nur darf man sich sein Interesse nicht mythologisch verklärt vorstellen. Auch ist enttäuscht, wer natürliche Tümpel in der Vesalgasse erwartet, wo er und seine Mitarbeiter die nur wenige Millimeter großen Teichbewohner züchten: Dutzende Schraubgläser stehen dort offen in den Regalen, sorgfältig im Laborcode beschriftet und mit Wasser gefüllt. Keine Aquarien, sondern: „Honiggläser, die sind besonders stabil“, erklärt Ebert beim Rundgang durch sein Faunenreich. Dass sich in diesen Minibecken etwas bewegt, erkennt selbst ein Laie. Der würde vielleicht auf Plankton, aber nicht unbedingt auf die Klasse Crustacea schließen und die dunklen Strukturen am Boden sogleich als Dauerstadien bezeichnen.
Daphnien mögen es weder zu kalt noch sonderlich warm. Auf der nördlichen Hemisphäre sind sie fast überall zu finden, nur nicht in tropischen Süßgewässern. Sie werden zu Qualitätstests herangezogen, und ihre Existenz im berühmten Wassertropfen beschert den Mikroskopiekursen regelmäßig Erfolge. Transparent und durchaus von anmutiger Gestalt, sind es beliebte Modelle der Limnologie, welche das Ökosystem von Binnengewässern untersucht. Mit ihren Ruderarmen und dem Zyklopenauge erinnern Wasserflöhe allerdings weniger an Nymphen denn an Schreckgespenster, und um die tragische Liebesgeschichte von Daphne und Apollon dürfen sich gerne andere kümmern. Dieter Ebert widmet sich ganz anderen Dramen im Leben der Winzlinge – Sex, Krankheit, Tod, Epidemien. Seine Projekte ergründen die biologischen Grundlagen von Infektionskrankheiten und Parasitenbefall. Er entwickelt geeignete Experimente, um evolutionäre Konzepte insbesondere zur Koevolution zu entwerfen und zu überprüfen. Hilfreich ist dabei die Fähigkeit der Wasserflöhe, sich sowohl sexuell als auch per Jungfernzeugung fortpflanzen zu können. Damit lassen sich genetische Faktoren von Umwelteinflüssen experimentell unterscheiden, ganz so wie man es in klassischen Zwillingsstudien versucht beim Menschen herauszufinden.
Wenn andere Wissenschaftler untersuchen wollen, wie sich Grippeviren oder Malariaerreger auf ihre jeweiligen Wirtsorganismen auswirken, müssen sie sich neben der komplexen Forschung außerdem mit ethischen Fragen zu Tierversuchen auseinandersetzen. Oder klinische Studien vorbereiten. Das macht die Forschung langsam und aufwendig und die entsprechenden Experimente sehr teuer oder sogar unmöglich. Für seine Grundlagenforschung wollte Ebert deshalb weder an Mäusen noch Affen oder Menschen forschen, ebenso wenig an Hefepilzen oder Drosophila-Fliegen. Aber ausgerechnet Wasserflöhe? Als Modellsystem für die Erforschung von Infektionskrankheiten würden sie sich besonders gut bewähren, versichert Ebert. Damit ist der schlanke, hochgewachsene Biologe, der sich zu seinen Schulzeiten in Trier für Zierfische begeisterte und nicht nur eines, sondern irgendwann fünf Aquarien unterhielt, in gewisser Weise beim Fischfutter gelandet. Und er hat dafür ein untrügliches Gespür entwickelt: „Ich weiß sofort, ob es weibliche oder männliche Tiere sind, sehe, wenn sie krank sind, kann die Symptome diagnostizieren und Parasiten unterscheiden.“ Was ihm anfangs noch Schwierigkeiten bereitete, brachte Dieter Ebert inzwischen zur Meisterschaft. Und die genaue Kenntnis dieses Modellsystems erlaubt es ihm jetzt mit seinem Team, Antworten auf sehr komplexe Fragen zu finden. Er trennt nicht zwischen Praxis und theoretischem Gerüst, da er die evolutionären Konzepte in ausgetüftelten Experimenten überprüft beziehungsweise den abweichenden Ergebnissen entsprechend überdenkt. Ebert steht regelmäßig noch selbst im Labor. Sein Schreibtisch genügt ihm sowieso nicht als Forschungsfeld, zweimal im Jahr zieht es ihn raus – zur Feldforschung ins Freiland. Dazu später mehr.
Ursprünglich hatte ihn die Promotion nach Basel geführt. Zu einer Zeit, als die Evolutionsbiologie in Deutschland praktisch dem Ende geweiht war. Ein altmodisches Nischenfach eben, und Jürgen Jacobs, sein Betreuer an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, galt als einer der Letzten seiner Art. Man riet Ebert zur Neurobiologie, die aufstrebende Disziplin konnte ihn aber nicht locken, so ging er zu Stephen Stearns in die Schweiz, wo er promovierte. Seine Postdoc-Zeit verbrachte er in Panama und Oxford, wo er zwei Jahre mit William D. Hamilton arbeitete. Im Jahr 1995 kehrte er als Assistenzprofessor zurück an das Zoologische Institut in Basel. Von einer kurzen Phase an der Université de Fribourg einmal abgesehen, blieb Ebert der Stadt am Rhein treu verbunden, seit 2004 ist er Professor für Zoologie und Evolutionsbiologie in Basel. Seine Kinder profitierten auf ihre Weise von der Nähe zum Wasser und wuchsen zu leidenschaftlichen Sportruderern heran.
Für die Forschungsgruppe wurde eigens ein Obergeschoss im altehrwürdigen Vesalianum saniert. Große Forscher wirkten hier, ihre Namen prangen im Treppenaufgang, zum Beispiel Friedrich Miescher, der Entdecker der Nukleinsäure. Einst der Anatomie und Physiologie gewidmet, versprüht das Gebäude den Charme des späten 19. Jahrhunderts. Mächtige Schränke flankieren nach wie vor die Flure, jetzt aber in hellem Weiß. Auch die Technik ist neu, und Eberts Etage beherbergt seine einzigartige Sammlung von Wasserflöhen. Die Vertreter von bald vierzig Nationen auf vier Kontinenten schwimmen hier in besagten Honiggläsern, darunter Kirgisistan, Mongolei, Iran. Anders formuliert: 211 Populationen der verschiedensten Teiche, Tümpel, Seen, Sumpflandschaften, Felsinseln, Salzmarschen oder Riesenpfützen nehmen an diesem Diversity Panel teil. Sie sind ein Abbild der natürlichen Verbreitung, geben Aufschlüsse über Resistenzen, bezeugen sogar die Eiszeit in Europa – liefern schlicht „spektakuläre Daten“. Und jeden Monat werden es mehr. Das jeweilige Erscheinungsbild lässt sich mit den Umgebungsdaten und der genetischen Ausstattung korrelieren, und aus dem Vergleich der unterschiedlichen Merkmale können dann Rückschlüsse auf evolutionäre Prozesse gezogen werden, und zwar nicht nur auf die der lokalen Anpassung. Das ist der eigentliche Schatz, den es zu heben gilt.
Wie all diese Wasserflöhe nach Basel gelangen, klingt mitunter abenteuerlich. Manche bringt Ebert von Reisen mit, zuletzt aus Spanien und Norwegen. Andere schicken Kollegen mit der Post oder werden von seinen Mitarbeitern gesammelt. Einer legte im Auto Tausende Kilometer auf russischem Hoheitsgebiet zurück, um die Vielfalt dieser Kollektion zu erweitern. Für die Basler Wissenschaftler ist die Tatsache, dass sich die Tiere durch Jungfernzeugung vermehren, ungemein nützlich, da es somit Klone sind, deren Erbgut sie jetzt nach und nach entziffern. Die Art D. magna ist außerdem groß genug, um den jeweiligen Phänotyp zu charakterisieren, und die ökologischen Zusammenhänge sind ebenfalls von Bedeutung. „Smartphones erleichtern uns heute die Dokumentation. Fotos von Landschaft und Messgeräten verhindern zum Beispiel Verwechslungen, die GPS-Daten sind ja immer dabei“, erzählt Ebert beim Gespräch in seinem Büro. In einer Ecke ist dort noch eine alte Lehrtafel zu finden. Darauf sind Blattfußkrebse abgebildet, zu denen die Wasserflöhe zählen.
Die vergilbten Zeichnungen sind dekorativ, haben sich aber als nicht korrekt herausgestellt. Eberts Spezialgebiet hat von den technologischen Fortschritten sehr profitiert. Was mit der PCR-Methode, also der In-vitro-Vervielfältigung von DNA, begann, beschleunigen heute die neuen, schnelleren Sequenzierverfahren. Zwar betreibt Eberts Team noch immer klassische Feldarbeit, aber ohne Genetik oder Genomik lassen sich die Kernfragen nicht beantworten: „Ich muss auf die genetische Ebene gehen, wenn ich wissen will, wie unterschiedliche Merkmale evolvieren.“ Tatsächlich sind Monokulturen empfindlicher, ihnen setzen Schädlinge eher zu als Mischkulturen. Dieses Phänomen ist zwar seit Langem bekannt, aber erst durch Experimente seiner Forschungsgruppe an den aquatischen Zwergen konnte man eindeutig zeigen, dass das Phänomen auf die genetische Struktur einer Population zurückgeht, und zwar auf ihre geringe Vielfalt; Störfaktoren ließen sich experimentell ausschließen. Und offenbar wirken sich Umwelteinflüsse wie Temperatur oder Salzgehalt völlig anders aus als eine Koevolution mit Parasiten, denn die geschehe viel schneller – und die daran beteiligten Gene will Ebert finden. Die Wasserflöhe sind lediglich ein Modellsystem, aber sie helfen ihm dabei, die Beziehungen zwischen Organismen und ihren Symbionten sowie Parasiten besser zu verstehen: das Wechselspiel zwischen Virulenz und Resistenz, in Theorie und Empirie. Nebenbei konnte sein Team 2018 ein über sechzig Jahre bestehendes Rätsel lösen und als Erreger der mysteriösen White Bacterial Disease statt eines Bakteriums ein Iridovirus überführen. Infizierten Daphnien verpasst es einen grünlich-weißen Schimmer.
So schwierig sich das genetische Arbeiten mit Wasserflöhen zunächst gestaltete, so sehr schätzt Ebert heute die Möglichkeiten, die ihm die Winzlinge bieten. Daphnien eignen sich überraschend gut, um Konzepte zu überprüfen und ihre Wechselwirkungen mit allerlei Mikroben zu untersuchen: Wie schaden sie den Wasserflöhen? Auf welche Begleiter sind Wirte angewiesen? Ganz ohne fühlen sie sich jedenfalls nicht wohl, sie verkümmern regelrecht, wie Versuche zeigten. „Wir können nicht nur erkrankte Individuen untersuchen, sondern erforschen, wie sich Parasiten auf gesamte Populationen auswirken. Und die Versuche jederzeit replizieren“, sagt Ebert. Was mit Daphnien vergleichsweise einfach gelingt, ist in anderen Tiermodellen, etwa mit Versuchen an Säugetieren, viel schwieriger zu erreichen oder nahezu unmöglich, denn für eine aussagekräftige Statistik sind belastbare Zahlen nötig. Stirbt ein infizierter Wasserfloh, muss das eben noch lange nicht das Ende einer Teichgemeinschaft bedeuten. Kann es aber. Ebert interessiert sich für evolutionäre Muster in Raum und Zeit, und diese lassen sich in den unzähligen Populationen in Gezeitentümpeln im Südwesten von Finnland gut beobachten.
Dort, auf dem Tvärminne-Archipel, unterhält die Universität von Helsinki eine Forschungsstation, und Dieter Ebert nutzt für ein paar Wochen im Jahr die Gelegenheit, Populationen in dieser Inselwelt zu erforschen. Hier kann er seine verschiedenen evolutionsbiologischen Theorien einem Praxistest unterziehen, unter natürlichen Bedingungen. Allerdings fällt es nicht leicht, sich Ebert an einem der zigtausend Felstümpel vorzustellen. Nicht weil er wie ein typischer Laborbiologe die Wanderschuhe oder Gummistiefel scheut. Im Gegenteil. Sondern weil Ebert stets ruhig und mit Bedacht spricht, sei es, dass er sich über die ungeordneten Verhältnisse in der Natur auslässt, über Parasiten und Koevolution spricht, dazu die Rote-Königin-Hypothese erläutert, oder die Ursprünge von Pilates referiert, selbst damit kennt er sich aus. Eine Kinderkrankheit mag ihm die Hälfte seines Lachens genommen haben, weil sie einen Gesichtsnerv zerstörte, doch nicht seinen Sinn für Humor. Und sie hat ihn früh zum Lesen verdonnert; Radfahren oder Basketballspielen, das kam erst später. Dafür wirkt er heute sportlich, besonnen und unbeirrt in seiner Wissenschaft. Er lässt sich nicht einmal von heftigen Anfeindungen aus der Ruhe bringen, wenn Fanatiker, Kreationisten oder Anhänger der Intelligent-Design-Bewegung, die von der Evolutionstheorie gar nichts halten, in ihrer Kritik an seiner Fachrichtung viel zu weit gehen.
Der Evolutionsbiologe ist allerdings auch nicht ausschließlich auf sein Fach konzentriert, sondern genießt den Austausch zwischen verschiedenen Disziplinen. Seit 2016 ist er Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, wo er sich schon beim Frühstück im Gespräch verlieren kann: „Man bleibt sitzen und diskutiert dann einfach weiter. Ein, zwei Stunden lang.“ Dass er diese Institution mitgestalten kann, reizt ihn, denn er schätzt die stimulierende Atmosphäre und legt Wert auf wissenschaftliche Exzellenz, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Das gilt ebenso für die eigene Abteilung, denn Ebert ediert jedes Manuskript akribisch, bevor es veröffentlicht wird. Dass er gerade in Grafiken oft noch Fehler findet, liegt an seiner besonderen visuellen Wahrnehmung. Vielleicht auch an seinem Faible für Muster und Konzepte. Er sei aber kein Kontrollfreak, lasse Studenten ganz nach C. G. Jung „die Freiheit zu verkommen“. Er warte ab. Nicht bis zum Ende der Masterarbeit, aber doch schon mal für ein paar Wochen. Und manchmal entpuppt sich eine vermeintliche Schlaftablette als echte Überraschung, während die Jahrgangsbesten womöglich scheitern und an der Welt verzweifeln, weil ihre Daten nicht ins Konzept passen. Nicht jeder komme mit den herausfordernden Verhältnissen der Disziplin klar: „Natur ist eben immer messy und legt ihre Geheimnisse ungern frei.“
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Fotos: © Maurice Weiss