Ausgabe 16 / März 2021
Die Bücher Timbuktus
von Sonja Asal
Die malische Wüstenstadt birgt seit Hunderten von Jahren Bücherschätze. Deren Erschließung aber hat gerade erst begonnen
„Bei Sonnenuntergang erreichten wir schließlich Timbuktu“, berichtet 1828 der französische Afrikareisende René Caillié, einer der ersten Europäer, die je dorthin gelangten. „Das Betreten der geheimnisvollen Stadt, die Gegenstand der Neugier und des Forschens der zivilisierten Nationen Europas ist, war mir eine unbeschreibliche Genugtuung. Wie viele Dankgebete stieß ich hervor für den Schutz, den mir Gott angesichts der schier unüberwindlichen Hindernisse und Gefahren gewährt hatte! Als ich nun jedoch um mich schaute, bot die Stadt nichts weiter als eine Ansammlung schäbiger Lehmhäuser.“ Cailliés Enttäuschung musste umso größer sein, als sich um die Stadt am Südrand der Sahara jahrhundertelang Geschichten eines sagenhaften Reichtums an Gold rankten. Und bis heute versetzt der bloße Klang ihres Namens die Fantasie so sehr in Schwingung, dass etwa ein Parfum, ein Spielsalon in Kalkutta oder ein schwedischer Rapper nach ihr heißen können.
Amüsiert zählt Shamil Jeppie eine Reihe solcher Beispiele auf, von denen er eine ganze Sammlung hat. Die populären Vorstellungen von der Wüstenstadt in Mali sind allerdings nur ein Aspekt seines Forschungsprojekts, das er während seines Aufenthalts am Wissenschaftskolleg verfolgt. Sein Arbeitstitel lautet „Timbuktu als Archiv“. Dabei geht es um eine allgemeine Geschichte der Art und Weise, wie dort seit Jahrhunderten Bücher gesammelt, kopiert und gehandelt wurden. Denn Timbuktu war schon sehr früh nicht nur ein Drehkreuz für den Handel mit so einträglichen Waren wie Salz und Sklaven, sondern auch ein bedeutendes Zentrum der Gelehrsamkeit. Ein früherer Reisender, der Rechtsgelehrte Leo Africanus, berichtet in seiner Beschreibung Afrikas in der Mitte des 16. Jahrhunderts, dass von all den Gütern, die in Timbuktu gehandelt würden, keines mehr Gewinn einbringe als Bücher. Er denke oft über diesen Satz und über dessen Wahrheitsgehalt nach, erzählt Jeppie. Als Historiker ist er schließlich auch Skeptiker. Aber weshalb sollte jemand so etwas erfinden? Und wenn die Aussage richtig ist, wovon Jeppie ausgeht: Weshalb waren ausgerechnet Bücher ein so wertvolles Handelsgut?
Diese Überlegungen beschreiben bereits Jeppies Methode, Geschichte zu betreiben. Gerade, wenn man ein Thema unter einem speziellen Blickwinkel angeht, so seine Überzeugung, kann dies auch ein neues Licht auf umfassendere Fragestellungen werfen. Studiert hatte Jeppie Geschichte und Arabistik in Kapstadt, wo er auch erste Forschungsarbeiten unternahm und heute selbst Geschichte lehrt. Damals beschäftigten ihn sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen, Themen wie beispielsweise der Karneval. Es ging ihm um das Alltagsleben gewöhnlicher Leute und darum, dass Geschichte nicht nur eine Abfolge von Königen, Eroberungen und Reichen ist. Der geografische Fokus seiner Arbeit verschob sich, als er zur Promotion nach Princeton ging und über die türkisch-ägyptische Besetzung des heutigen Sudan forschte. Dass er damit nach den gängigen Einteilungen der Area Studies zum Afrikanisten wurde, entspricht allerdings bis heute nicht ganz seinem Selbstverständnis. „Afrikanist“, so Jeppie, „war für mich bis dahin die Bezeichnung für eine politische Position.“ Geschichte handelt demgegenüber seiner Meinung nach allgemein von der menschlichen Vergangenheit, und wenn es dabei globale Ungleichheit gibt, dann insofern, als manche Weltgegenden mehr Aufmerksamkeit erhalten als andere. Denn, so erläutert er: „Es gab wahrscheinlich zu bestimmten Zeiten in Gegenden, die heute arm zu sein scheinen, eine größere literarische Produktion als an Orten, die gegenwärtig zu den Zentren der Hochkultur gehören.“
Jeppie ist es wichtig zu betonen, dass es ihm in der Geschichtsschreibung nicht um Konkurrenz geht, kein „Wir gegen die“. Seine humanistische, universalistische Herangehensweise setzt er bewusst gegen das, was er an identitätspolitischen Ansätzen als limitierend kritisiert. Dabei ist er, aufgewachsen im Südafrika des Apartheidregimes, sich der politischen Bedeutung der Identitätsfindung sehr bewusst. Noch während seiner Schulzeit in den 1970er- und 80er-Jahren, so erinnert er sich, wurde in Südafrika Geschichte als eine Geschichte der Weißen unterrichtet. Mit der Antiapartheidbewegung war der Moment gekommen, afrikanische Geschichte nicht mehr aus einer kolonialen Perspektive zu vermitteln. Einer seiner wichtigsten Lehrer war Neville Alexander, der mit Nelson Mandela zusammen zehn Jahre auf Robben Island inhaftiert war. Er brachte ihm Geschichte auf eine Weise nahe, wie sie der damaligen Euphorie des Aufbruchs entsprach. Als Jeppie vor einiger Zeit in seinen Notizen von damals blätterte, stieß er darin auf den Namen Timbuktu. Seinerzeit hatte das Bild der reichen Handelsstadt in einem der afrikanischen Großreiche im Vordergrund gestanden. „Die Art, wie damals unterrichtet wurde, war ein Produkt der Zeit. Es ging darum, das zu vermitteln, was uns vorenthalten worden war, und zunächst die Größe der Vergangenheit zu zeigen, ohne innere Widersprüche.“ Es war eine Geschichte der Selbstermächtigung: gegen die Verdikte der europäischen Geschichtsschreibung, gegen Hegels oder Hugh Trevor-Ropers wirkmächtige Vorurteile zu zeigen, dass Afrika eine eigene Geschichte hat, die nicht allein die Geschichte der Weißen in Afrika ist.
Ein wichtiger Baustein hierfür war das von der UNESCO 1964 ins Leben gerufene Vorhaben einer General History of Africa. Mit diesem historiografischen Großprojekt ging die Forderung einher, die Quellen für die Geschichtsschreibung zu erschließen und zu schützen. Und an dieser Stelle kommt wiederum Timbuktu ins Spiel, diesmal als Archiv. „Die UNESCO entdeckte Timbuktu als Symbol für die schriftliche Überlieferung des gesamten Kontinents“, erläutert Jeppie. Neben anderen Ländern und Organisationen begann auch Südafrika 2001, in Mali ein Hilfsprogramm aufzubauen, zu dem auch der Bau eines neuen Bibliotheksgebäudes und die Ausbildung von Personal gehörten. „Es war eine Art Akt der panafrikanischen Solidarität“, schätzt Jeppie das Engagement ein, an dem der Historiker als Berater in einem Team von Spezialisten für Buchkonservierung, von Restauratoren und Bibliothekaren beteiligt war. Es war sein Einstieg in die Buchgeschichte. „Ich habe in dieser Zeit unglaublich viel über Papier gelernt, über seine Konservierung bis hin zu Fragen der Gebäudetechnik, etwa, wie man klimatisierte Räume in der Wüste ökologisch verantwortlich bauen kann“, erinnert er sich.
Jeppie sah bald, dass aus den Schriften in Timbuktu eine Lebensaufgabe werden würde. Seit er 2002 das erste Mal selbst dort war, ist er fast jedes Jahr wieder hingereist – soweit es die politischen Umstände erlaubten. Für großes internationales Aufsehen sorgte es, als die Stadt 2012 von Dschihadisten besetzt wurde und man die Existenz der wertvollen Manuskripte gefährdet sah. Wie viele davon letztlich zerstört wurden oder verschwunden sind, kann immer noch niemand mit Gewissheit sagen. Sicher dürfte nach Jeppies Einschätzung nur sein, dass die in die Tausende gehenden Zahlen, die zunächst durch die Presse geisterten, grob übertrieben waren. Viele waren zudem in einer abenteuerlichen Aktion nach Bamako geschmuggelt worden, wo sie sich bis heute befinden und mit internationaler Hilfe digitalisiert und konserviert werden, um eines Tages wieder nach Timbuktu zurückzukehren. Sicher ist für Jeppie vor allem eines: dass die Arbeit daran weitergehen muss, und das heißt vor allem, die Bestände für die internationale Forschung zugänglich zu machen. Das ist der Anspruch, der sich für ihn aus der Anerkennung als Weltkulturerbe ableitet.
Was die Situation so unübersichtlich macht, ist eng mit der Art und Weise verbunden, wie Manuskripte gesammelt und aufbewahrt wurden und nach wie vor werden. Seit Jahrhunderten hatte jeder Gelehrte seine eigene Bibliothek, die traditionellerweise innerhalb der Familie weitergegeben wurde. Als zu Beginn der 2000er-Jahre das internationale Interesse an der schriftlichen Überlieferung erwachte und entsprechende Förderprogramme ins Leben gerufen wurden, eröffneten außer der staatlichen auch zahlreiche Familienbibliotheken. Wobei man sich die Bibliotheken eher als Archive vorstellen muss: Bei den Büchern handelt es sich um Manuskript-Konvolute, die in Umschläge aus Kamel- oder Ziegenleder gewickelt sind. „Die Drucktechnik kommt erst sehr spät nach Nordwestafrika, die Franzosen brachten sie in den Senegal und von dort aus in das Innere Afrikas“, erläutert Jeppie. Die traditionelle Technik bestand darin, Bücher von Hand abzuschreiben. „Buchgeschichte ist im Westen im Wesentlichen die Geschichte des gedruckten Buches. Doch es gibt eine Geschichte des Buches in seiner Manuskriptform, die länger ist als die seiner gedruckten Version.“ Auch korrigiert Jeppie die Vorstellung, dass die Bibliotheken Schatzhäuser voller illuminierter Handschriften wären. Sie haben eher den Charakter von Arbeitsbibliotheken, in denen sich Lehrbücher mit Rechtsgutachten und philosophischen oder naturwissenschaftlichen Werken mischen.
Noch ist die Forschung dazu sehr uneinheitlich, was nicht nur mit der schlechten Zugänglichkeit der Texte zusammenhängt, sondern auch mit den wissenschaftlichen Konjunkturen. „Wer sich für arabische Ideengeschichte interessiert“, meint Jeppie, „arbeitet meistens zum Nahen Osten.“ Demgegenüber hat Schrift im Norden Afrikas eine sehr lange Tradition. „Wir wissen, dass die ersten Inschriften aus dem elften Jahrhundert stammen“, erläutert er. Sie finden sich auf etwa vierhundert Grabsteinen in der gesamten Region um Timbuktu. Jeppie wird für das geplante Buch mit seiner Darstellung einige Jahrhunderte später einsetzen, mit dem Rechtsgelehrten Ahmad Baba, der 1556 im damaligen Songhai-Reich geboren wurde. Schon er entstammte einer Familie von Gelehrten. „Aus seinen Texten wissen wir“, so Jeppie, „dass bereits seine Eltern und seine Großeltern Schriften besaßen, das heißt, dass definitiv um 1450 eine literarische Tradition etabliert gewesen sein muss.“ Und diese war bedeutend: Ahmad Baba erwähnt in einem Brief, dass die Bibliothek seines Vaters achthundert Bände umfasste. Seine eigene brachte es dann auf mindestens den doppelten Umfang. Nachdem 1591 der marokkanische Sultan Timbuktu erobert hatte, wurde Ahmad Baba ins Exil nach Marrakesch gezwungen. Jeppie erzählt: „Er stand dort zwar unter Hausarrest, aber es war seine produktivste Zeit. Er lehrte und verfasste mehrere Bücher. Als das Exil aufgehoben wurde und er wieder zurückkehren konnte, schrieb er dem Nachfolger des Sultans einen Brief, in dem er ihn aufforderte, ihm seine 1600 Bände umfassende Bibliothek zurückzugeben. Und das bedeutete nichts anderes, als sie auf Kamelrücken durch die Wüste tragen zu lassen.“
Ob dies auch geschah und was aus seiner Bibliothek wurde, wissen wir nicht. Sicher ist, dass von seinen etwa sechzig Werken heute allenfalls eine Handvoll in gedruckter Form zugänglich ist. Auch hieran möchte Jeppie mit seinem Buch etwas ändern und eines der Manuskripte in die Veröffentlichung aufnehmen. Er charakterisiert es als eine Art Fürstenspiegel, der sich mit der Frage befasst, ob Gelehrte für ihre Arbeit von Herrschern entlohnt werden sollten. Jeppie klopft den Text gründlich auf den unterschiedlichsten Ebenen ab. Er schaut zum Beispiel, in welcher Weise Bezüge zu Büchern und Schriften darin auftauchen. Spricht Baba von einem Büchlein, einem Pamphlet, einem Band? Welche anderen Werke zitiert er? Bislang hat Jeppie etwa dreißig Quellen identifizieren können. Vielleicht findet sich darin auch Aufschluss darüber, was der Anlass für Baba war, sich überhaupt dieser Fragestellung zuzuwenden? „Ich will zeigen, wie es möglich ist, mit diesem Material sowohl Ideengeschichte als auch Buchgeschichte zu schreiben“, erklärt Jeppie seine Arbeitsweise. Dabei geht es um sehr handfeste Dinge, eine materielle Geschichte des Schreibens, den Stoff, aus dem die Bücher sind und auf dem letztlich auch Ideen von hier nach da gelangen: Wie wird Papier hergestellt, wie wird es gehandelt, auf welchen Wegen wird es transportiert? Jeppie interessiert sich nicht so sehr für abgeschlossene Sammlungen, sondern für die Bewegung, durch die sie zustande kamen.
Die zweite Figur, an der Jeppie den Umgang mit Schrift darstellen will, scheint für die Erforschung dieser Fragen wie gemacht zu sein. Es handelt sich um den in den 1860er-Jahren geborenen, einer marokkanischen Händlerfamilie entstammenden Ahmad Bul’araf, der sich vielleicht am besten als eine Art intellektueller Entrepreneur charakterisieren ließe. Ursprünglich Kaufmann, begann er, sich für Bücher nicht nur als Handelsware zu interessieren. Er kaufte sie, beschäftigte Kopisten, die Abschriften für ihn anfertigten, verkaufte sie weiter, aber behielt immer auch ein Exemplar für sich. Dafür unterhielt er ein gigantisches Netz an Korrespondenzen mit Verlegern in Nigeria, Niger, Ägypten oder Marokko.
Ist Bul’araf für Jeppie exemplarisch für den Umgang mit Büchern? „Ich kann ihn mit niemandem in der gleichen Zeit vergleichen“, so der Historiker. Eher stehe er in einer Reihe mit Gelehrten wie Ahmad Baba, etwa in der Art und Weise, wie er in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Technik wie das Abschreiben nutzt, die über die Jahrhunderte stabil geblieben ist. „Bul’araf ist eine dieser Gestalten, die plötzlich auf der Bildfläche erscheinen, die eine Epoche entscheidend prägen, ohne jedoch ein Produkt ihrer Zeit zu sein.“ Was heißt, dass sie sich nicht aus ihrer Zeit heraus erklären lassen, dass es jedoch jede Menge zeitgeschichtlichen Wissens bedarf, um zu verstehen, auf der Grundlage welcher Infrastruktur sie agieren. So hat sich Jeppie, der eigentlich keine Kolonialgeschichtsschreibung betreiben will, intensiv in die Funktionsweise des von der französischen Kolonialmacht etablierten Postsystems eingearbeitet, das Bul’araf nutzte, um Verleger anzuschreiben und sich Bücher zusenden zu lassen. Die größte Lücke tut sich für Jeppie nach wie vor bei der Frage auf, woher Bul’araf das Papier bezog, das schließlich für all die Abschriften benötigt wurde. Hier führen die Handelswege in der Regel bis auf die andere Seite des Mittelmeers.
Wenn Jeppie all die Orte aufzählt, die er für seine Recherchen bereist hat, wird klar, dass sein Buch nicht alleine von Timbuktu handeln kann. Schon historisch unterlag die Bedeutung der Stadt manchen Schwankungen. Nach dem Ende der marokkanischen Besatzung im 17. Jahrhundert verlor Timbuktu an Bedeutung; Handelsrouten veränderten sich, unter anderem über die weiter südöstlich gelegene Stadt Djenné. Die Gelehrsamkeit wiederum verlagerte sich weiter nach Westen, in Orte im heutigen Mauretanien, Städte wie Oualata oder Chinguetti, die ebenfalls in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen sind. „Wir stellen uns Bildung immer als eine sesshafte Angelegenheit vor“, fasst Jeppie zusammen, „doch hier fand sie in Bewegung statt. Timbuktu ist für mich eher eine Art Knoten in einem Netz von vielen anderen Städten, in denen es eine alte Tradition der Gelehrsamkeit gibt.“
Mehr zu: Shamil Jeppie
Fotos: © Maurice Weiss