Ausgabe 20 / April 2025
Ich betrachte das ganze Land
Sonja Zekri
Der palästinensische Politologe Bashir Bashir erläutert im Interview sein Modell eines „egalitären Binationalismus“. Er entwirft einen Weg zu einem gleichberechtigten Zusammenleben für Juden und Palästinenser in Israel/Palästina und skizziert die Chance auf eine Versöhnung als Basis für eine stabile Zukunft
Am Tag des Treffens mit Bashir Bashir dauert Israels Krieg in Gaza schon 15 Monate. Ausgelöst durch den Angriff der Hamas am 7. Oktober mit 1200 Toten und Hunderten Verschleppten, starben, wie man inzwischen weiß, mehr als 48.000 Palästinenser. Gaza liegt in Trümmern. An diesem Januartag aber scheint zum ersten Mal ein Waffenstillstand in Reichweite. Am Ende des Gesprächs im Wissenschaftskolleg, das Aufnahmegerät ist schon ausgeschaltet, zitiert Bashir Bashir ein Gedicht von Mahmud Darwisch: „Fi Fan al-Intithar“ – die Kunst des Wartens. Am Abend, Stunden später, dann der Durchbruch: Die Waffen werden tatsächlich schweigen.
Sonja Zekri: Falls es wirklich zu einer Waffenruhe käme – was würde das für Gaza und die Palästinenser bedeuten?
Bashir Bashir: Alles, was diesen Genozid beendet, ist willkommen. Die Zerstörung und die Gräueltaten, die Israel an den Palästinensern in Gaza begangen hat, sind im 21. Jahrhundert als Verbrechen beispiellos. Gleichzeitig, und das ist weit wichtiger, werfen die letzten 15 Monate aber auch Fragen an die internationale Ordnung auf, an das Völkerrecht, die Weltpolitik, den Journalismus, die Künste, die akademische Welt. Seit dem Krieg gegen Gaza ist die Welt in vieler Hinsicht eine andere. Vielleicht sollte sie insgesamt, sicher aber gewichtige Teile der sogenannten „westlichen Welt“, in sich gehen.
SZ: Zu Ihren Arbeiten gehört die – bislang nicht auf Deutsch erschienene – mit Amos Goldberg herausgegebene Studie: The Holocaust and the Nakba: A New Grammar of Trauma and History. Wie blicken Sie vom Standpunkt eines Traumaforschers auf diesen Krieg?
BB: Die Menschen in Gaza leben unter besonders traumatischen Bedingungen, aber letztlich gilt das für die meisten Palästinenser. Was die Forschung angeht, so sind Arbeiten zu Erinnerung, Geschichte und Trauma dominiert von der Zentralität des Holocaust, was wiederum Einfluss darauf hat, wie Memory Studies und Genozidforschung sich mit politischer Gewalt wie Völkermord, Vertreibungen und Säuberungen in anderen Teilen der Welt auseinandersetzen. Diese Wissenschaft geht meist von der Prämisse aus, diese Ereignisse lägen in der Vergangenheit. Die Palästinenser fordern diese Annahme heraus. Ihre Unterdrückung und ihr Leid bestehen seit Jahrzehnten. Sie erleben die Nakba, die Katastrophe ihres Volkes und den Untergang ihrer Nation, als ein aktuelles Geschehen. Israel zerstört das politische und gesellschaftliche Rückgrat des palästinensischen Volks in Gaza, die Infrastruktur, die Universitäten, Krankenhäuser und Schulen. Es führt den Krieg gegen die Menschen in Gaza nicht, weil sie in Gaza leben, sondern weil sie Palästinenser sind. Gaza ist ein Teil Palästinas, Teil des palästinensischen Nationalismus, Teil der palästinensischen Identität.
SZ: Moment, der Krieg wurde ausgelöst durch den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober.
BB: Der furchtbare Angriff der Hamas war fraglos ein Wendepunkt, aber die israelische Regierung hat auch nicht gezögert, ihn als Chance zu begreifen. Die eliminatorische Politik und der Krieg, den Israels koloniales Establishment gegen die Menschen in Gaza und den palästinensischen Nationalismus führt, haben eine lange Geschichte. Die Palästinafrage ist aber mehr als nur eine palästinensische, eine arabische oder regionale Frage. Sie hat eine Dimension, die wir „global Palestine“ nennen können.
SZ: Was verstehen Sie darunter?
BB: In den Sechzigern und Siebzigern hatte das Thema Palästina schon einmal eine globale Bedeutung. Die palästinensische Revolution umfasste damals die Kunst, das Kino, die Poesie, aber auch den bewaffneten Kampf und Terror. Vietnamesen, Algerier, Deutsche, Japaner und viele andere ließen sich davon inspirieren und inspirierten wiederum die Palästinenser. Die Palästinenser verkörperten den Kampf um Selbstbestimmung und Dekolonisierung, auch wenn die Mittel, die sie und andere in diesem Kampf eingesetzt haben, nicht immer moralisch zu rechtfertigen und politisch zielführend waren. Die vielleicht größte Leistung der Palästinenser bestand darin, dass es ihnen nach 1948 gelang, sich als Nation neu in die Geschichte einzuschreiben, nachdem sie zuvor – übrigens auch von einigen arabischen Regimen – verkannt und missachtet worden waren. In den letzten dreißig, insbesondere aber in den letzten zehn Jahren ist Palästina erneut zu einem globalen Thema geworden. Die Bewegungen, die sich gegen die aktuelle Weltordnung und den Kapitalismus oder für Gerechtigkeit, Menschenrechte und demokratische Werte engagieren – von Black Lives Matter über Umweltfragen bis zu den Rechten Indigener – beziehen sich alle auf Palästina. Der Krieg gegen Gaza hat dies nur verstärkt. In Deutschland, Frankreich, Großbritannien, in den USA, aber auch in vielen jüdischen Kreisen, wurde Palästina zu einem Symbol für Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit – eine globale Metapher.
SZ: Das klingt nach weltweiter Bedeutung, nach Einfluss. Aber die Palästinenser vermögen das symbolische Kapital nicht in politisches umzusetzen. Warum kann ihre Sache in der internationalen Politik so leicht ignoriert werden?
BB: Die PLO hat international wichtige und bemerkenswerte Erfolge für die Palästinenser erzielt. Daneben gibt es politische Erfolge in der UN und in der internationalen Gerichtsbarkeit. Aber Sie haben recht, in den letzten Jahrzehnten ist das palästinensische Gemeinwesen zersplittert, es hat Probleme mit seiner Legitimität, seiner Sichtbarkeit, seiner Führung und seiner politischen Vision. Das politische System der Palästinenser ist schwach und korrupt. Es muss sich neu erfinden. Andernfalls wird es in den Augen der Palästinenser, aber auch der Welt keine Anerkennung genießen. Es müsste eine Stimme haben, die nicht nur von Opfern spricht, die die Palästinenser nicht nur auf den fortwährenden Schrecken reduziert. Das nationale Projekt und die Institutionen der Palästinenser benötigen eine demokratische Wiederbelebung und einen Neuanfang. Das würde ihre Bemühungen um Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Frieden wirksamer und auch global anschlussfähiger machen.
SZ: Praktisch gesehen: Was bringt den realen Palästinensern der Glanz als globales Symbol?
BB: Es geht mir nicht um Glanz. Emotional, und auch in ethischer Hinsicht, hilft die Solidarität aber sehr. Wenn man die nackten Machtverhältnisse betrachtet, haben die Palästinenser allen Grund zum Pessimismus. Jeder von ihnen kennt Momente der Dunkelheit, der Depression und der Verzweiflung. Eigentlich müssten sie völlig entmutigt sein, sich aufgeben. Aber sie tun es nicht. Sie halten stand, auch wegen der Gerechtigkeit ihrer Sache und wegen der weltweiten Empathie und Solidarität.
SZ: Wenn man im Westjordanland, in Ost-Jerusalem oder Jaffa mit Palästinensern spricht, spürt man eine große Erschütterung über die aktuelle Situation, aber auch einen erstaunlichen Optimismus, der den Blick in die Zukunft richtet. Und als ein Grund dafür wird oft die internationale Solidarität genannt.
BB: Ja. Aber Palästina ist auch in anderer Hinsicht global geworden. Israel brüstet sich damit, eine Hightech-Nation zu sein. Es benutzt uns Palästinenser individuell, kollektiv, geografisch und psychisch als Experimentierfeld für seine Überwachungstechnologien und koloniale Unterdrückungspolitik – unsere Körper, unsere Schlafzimmer, unsere Psyche dienen ihm als Experimentierfeld für die Entwicklung und Anwendung dieser Technologien und Praktiken. Und diese kolonialen Überwachungstechnologien werden von anderen Regierungen, Autokraten, aber auch demokratischen Regierungen gekauft und eingesetzt. Auch diesen Zusammenhang enthüllt Palästina. Anders gesagt: Wie Palästina durch Überwachungstechnologien und koloniale Unterdrückungspolitik weltweit zirkuliert und verbreitet wird, ist alarmierend und äußerst gefährlich. Das muss aufgedeckt und untersucht werden. In den Händen von Autokraten, und jüngst leider auch von demokratischen Regierungen, werden diese Instrumente zu einer mächtigen Waffe.
SZ: Das wäre ein unerwünschter Nebeneffekt.
BB: Das globale Palästina entlarvt die liberale Ordnung. Herrscher wie Wladimir Putin können nun zum Westen sagen: „Schaut euch selbst an und erzählt uns nichts von Menschenrechten.“ Natürlich sind Diktaturen wie China oder Russland abstoßend, aber ich kritisiere auch die Heuchelei und Doppelmoral der liberalen westlichen Ordnung. Für Deutschland beispielsweise ist das globale Palästina peinlich, denn es demaskiert die Heuchelei der Regierungspolitik.
SZ: Haben Sie den Eindruck, dass die deutsche Politik dafür empfänglich ist?
BB: Deutschland muss irgendwann an seinen internationalen Ruf denken. Seit der Wiedervereinigung ist das deutsche Selbstbild stark auf demokratische und liberale Werte ausgerichtet. Man könnte sagen, dass die Realität diesem Ideal in den vergangenen Jahrzehnten auch weitgehend entsprach. Heute, angesichts der nahezu blinden Unterstützung für Israel, müssen sich deutsche Diplomaten, wenn sie über demokratische Werte sprechen, in den sozialen Medien des globalen Südens aber vorhalten lassen: Ihr seid nicht hier, um uns Demokratie zu predigen. Das ist die entlarvende Macht des globalen Palästina. Ob sich das für die Palästinenser auszahlen wird, weiß niemand. Aber denken Sie an die Zeit vor dem 7. Oktober. Es gibt keinen Zweifel am abstoßenden Charakter der Hamas-Verbrechen. Nur muss man eben auch festhalten, dass die Palästinenser und ihre Rechte aus dem Blick zu geraten drohten, als die USA und Europa den regionalen Normalisierungsprozess zwischen Israel und einigen arabischen Staaten vorantrieben.
SZ: Einer der zentralen Begriffe Ihrer Forschung lautet „egalitärer Binationalismus“. Wenn wir noch einen Moment bei den aktuellen Ereignissen bleiben: Welche Rolle könnte er für ein Nachkriegs-Gaza spielen?
BB: Lassen Sie mich zunächst kurz erläutern, was „egalitärer Binationalismus“ bedeutet. Der Begriff bezeichnet einen ethischen Rahmen, der die Existenz von zwei nationalen Gruppen anerkennt und fördert, die beide das gleiche Recht auf nationale Selbstbestimmung haben. Der egalitäre Binationalismus stellt eine mutige Abkehr von den politischen Ideen dar, die den Diskurs über Israel/Palästina lange Zeit bestimmt haben. Er besteht darauf, dass politische Lösungen für Israel/Palästina auf den Prinzipien von Gleichheit, Parität, Gegenseitigkeit, Zusammenleben, gegenseitiger Anerkennung, Dekolonisierung und dem Abbau aller Formen israelisch-jüdischer Privilegien und Vorherrschaft beruhen sollten. Egalitärer Binationalismus ist überall in Israel/Palästina anwendbar, auch in Gaza. Viel zu lange wurde in Israel/Palästina versucht, eine politische Lösung durch Trennung, Fragmentierung, Segregation zu erreichen. Wenn ich mich den Rechten von palästinensischen Arabern und israelischen Juden widme, betrachte ich das ganze Land zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Der egalitäre Binationalismus ist allerdings selbst noch keine politische Lösung. Er ist ein ethisches Prinzip, das eine solche Lösung und die historische Versöhnung in Israel/Palästina anleiten könnte.
SZ: Wie kann dieses Wunder gelingen? Die israelische Gesellschaft, aber auch die palästinensische sind nach dem 7. Oktober kälter, unversöhnlicher und, ja, auch hasserfüllter gegenüber der jeweils anderen Seite geworden.
BB: Sie haben recht! Jahrzehntelange Besatzung und Gewalt haben Hass und Frustration befördert, nicht die Bereitschaft und den Wunsch, egalitär zusammenzuleben. Aber betrachten wir die Situation genauer. Es gibt einerseits eine koloniale Macht, Israel, und es gibt eine weitgehend kolonisierte Nation, die Palästinenser, die sich – auch, aber nicht allein mit Gewalt – dieser kolonialen Konstellation widersetzen. Was folgt aus dieser kolonialen Asymmetrie? Nach Jahrzehnten des asymmetrischen Konfliktes und der Gewalt, und nach 15 Monaten Krieg, lautet eine der traurigsten, brutalsten und dramatischsten Erkenntnisse, dass palästinensische Araber und israelische Juden nichts anderes übrigbleibt, als miteinander zu leben. Keine Seite kann die andere auslöschen. Wenn wir aber dies als vernünftige Beobachtung akzeptieren, und meiner Ansicht nach sollten wir das tun, dann kommen wir zu einer zweiten Beobachtung: dass nämlich – nach den Maßstäben des Völkerrechts und der Diplomatie – elementare Rechte der Palästinenser verletzt werden, nicht der Israelis. Nimmt man die erste und die zweite Beobachtung zusammen, lautet der zwingende Schluss: Beide Völker müssen miteinander leben, und der jetzige Zustand ist hochproblematisch. In dieser Situation kann der egalitäre Binationalismus einen Ausweg bieten.
SZ: Das egalitäre Prinzip leuchtet sofort ein, aber wozu braucht es den Rückgriff auf den Nationalismus?
BB: Die Grundannahme besteht darin, dass es „from the river to the sea“ zwei Nationen gibt – israelische Juden und palästinensische Araber –, für die das Völkerrecht das Recht auf Selbstbestimmung vorsieht. Ja, es gibt auch Minderheiten in Israel/Palästina wie zum Beispiel die Armenier und die Drusen, denen auch gewisse gemeinschaftliche Rechte zustehen, aber nicht im gleichen Maße wie Nationen. Für beide, israelische Juden wie palästinensische Araber, ist der Nationalismus ein zentraler Bestandteil ihrer Identität. Seit den Tagen der Balfour-Deklaration 1917 wurden die nationale Identität der Palästinenser und ihr Selbstverständnis als Nation weitgehend verleugnet, ignoriert und verkannt. Die Entstehung des jüdisch-israelischen Nationalismus wiederum ist eng verknüpft mit dem europäischen Judenhass und dem Versagen der europäischen Nationalstaaten, ihre jüdischen Bürger zu integrieren. Wobei das nationale Erwachen der europäischen Juden nicht nur im Zionismus seinen Ausdruck gefunden hat. Der „Bund“ war anfangs ungleich wichtiger und einflussreicher als der Zionismus …
SZ: … der 1897 in Wilna gegründete „Allgemeine jüdische Arbeiterbund für Polen und Russland“ …
BB: Der „Bund“ propagierte ebenfalls eine nationale Identität der Juden und damit verbundene Rechte, aber er sah ihre Zukunft in Europa, nicht in Palästina.
SZ: Die Vorteile Ihres Ansatzes für die Palästinenser liegen auf der Hand. Gemessen an ihrer jetzigen Situation können sie nur gewinnen. Aber was bringt er jüdischen Israelis?
BB: Zunächst: Auch unter Palästinensern sind meine Ideen nicht unumstritten. Aber schauen wir auf den Zionismus. Er hat das moderne jüdische Leben revolutioniert, er war in verschiedener Hinsicht enorm erfolgreich. Er hat den israelischen Juden eine nationale Heimstätte versprochen und sie auch geschaffen. Aber einer der wichtigsten Antriebe des Zionismus war es, das jüdische Leben zu normalisieren, indem man, wie es heißt, eine „Nation wie alle anderen“ wird. Israel hat Enormes geleistet, in der Kultur, in der Wirtschaft, im Hightech-Bereich, im Militär. Aber sobald Israelis eine palästinensische Flagge sehen, Arabisch hören oder auf irgendein Zeichen palästinensischer Identität stoßen, ist dies selbst für die liberalen unter ihnen ein Moment der Störung. Obwohl der Staat seit mehr als 70 Jahren besteht, ist noch immer nichts normal in Israel. Und der egalitäre Binationalismus kann das möglicherweise ändern. Er bietet den israelischen Juden das, was ihnen am meisten fehlt, nämlich Normalisierung und Legitimität in den Augen ihrer Opfer. Einzig die Palästinenser können den israelischen Juden diese Legitimität und Normalisierung auf eine Weise verschaffen, die wirklich tiefgehend und bedeutsam wäre. Das aber würde die Verwirklichung ihrer eigenen nationalen Rechte voraussetzen.
SZ: Sicherheit hatte in Israel immer oberste Priorität. Aber seit dem 7. Oktober gilt das in besonderem Maße. Tragen Sie dem Rechnung?
BB: Im Rahmen einer historischen Versöhnung und Dekolonialisierung wäre es von mir aus völlig in Ordnung, wenn das Militär mehrheitlich von israelischen Juden kontrolliert würde oder wenn sie in Verteidigungsfragen ein Vetorecht ausübten. Aber ich weigere mich, Sicherheit nur in Kategorien des Militärischen, der Macht, der Waffen oder der Polizei zu denken. Derzeit ist Israel für Juden einer der gefährlichsten Orte der Welt. Dennoch genießt es in den Augen seiner Opfer keinerlei Legitimität. Und letzten Endes ist es ganz einfach, selbst nach dem 7. Oktober, selbst nach der Zerstörung von Gaza: Zwischen dem Fluss und dem Meer leben um die sieben Millionen Araber und sieben Millionen Juden. Die Araber könnten bald die Mehrheit sein. Und sie werden ihr Heimatland nicht verlassen. Dieser Platz ist so winzig und so komplex, die Leben und Gesellschaften so eng verflochten, dass es unmöglich ist, sie zu trennen. Der egalitäre Binationalismus schließt einen ethnisch exklusiven Nationalismus im klassischen Sinn aus. Er thematisiert die Kernfragen des Konflikts wie Selbstbestimmung, das Flüchtlingsproblem und den Status von Jerusalem, und er bietet auch viele praktische Lösungen für Umweltfragen, die Kanalisation, die Wasserversorgung und so weiter. Warum also nicht Werte und Normen implementieren, die diesen Raum von einem Regime der Apartheid, der jüdischen Vorherrschaft, der Angst und der Segregation in eine integrative, inklusive Form des Zusammenlebens verwandeln? Basierend auf Gleichheit, Teilhabe, gemeinsamer Legitimität, Neuverteilung von Ressourcen und, das wäre mir ganz besonders wichtig, Dekolonisierung. Kurz gesagt, der egalitäre Binationalismus ist meiner Meinung nach eine der gangbarsten und überzeugendsten Alternativen zu militärischer Besatzung, Gewalt, Hass, Apartheid, ethnischer Säuberung und Völkermord. Er orientiert sich an ethischen Normen und demokratischen Werten statt an Vorherrschaft, bloßer Macht und Kriegstreiberei.
SZ: Ihr Ansatz sieht das Rückkehrrecht für Palästinenser, nicht aber für Juden vor. Was ist daran gleich und gerecht?
BB: Die Palästinenser sind ja nicht durch ein Erdbeben vertrieben worden oder durch die Verfolgung in Europa. Und darum sollten und werden sie darauf bestehen, dass Israel seine Verantwortung für ihre Vertreibung und die Entstehung von Millionen Flüchtlingen anerkennt. Ebenso wie für ein Rückkehrrecht und für Reparationen an diese Flüchtlinge. Aber über diese Fragen wurde und wird längst gesprochen, in prinzipieller wie in praktischer Hinsicht, in der Wissenschaft und auch schon in früheren Verhandlungen. Ich habe da nichts Neues erfunden. Und ich bin ja nicht blind. Ich bin mir des Antisemitismus in vielen Regionen der Welt bewusst. Antisemitismus ist abstoßend. Er ist real, gefährlich und muss bekämpft werden. Selbstverständlich müsste in einer künftigen Verfassung von Israel/Palästina festgehalten werden, dass bedrohten jüdischen Gemeinschaften dort Zuflucht gewährt würde. Weder Palästinenser noch israelische Juden sollten in Israel/Palästina wie eine Minderheit behandelt werden. Aber das ist etwas anderes als der derzeitige Anspruch, dass jeder Jude, egal, wo er auf der Welt lebt, israelischer Staatsbürger werden kann – mit mehr Rechten und Privilegien als die ansässigen palästinensischen Araber.
SZ: Die politische Ausformung, die Staatsform ist offen. Aber wäre es eine Demokratie?
BB: Natürlich.
SZ: Gibt es Vorbilder in der Gegenwart?
BB: Ich traue der Idee des Vorbilds nicht ganz. Aber aus dem Vergleich mit anderen Fällen, aus Ähnlichkeiten wie aus Differenzen, kann man viel lernen. Wir können ganz bestimmt Anregungen aus den Fällen der Schweiz, Belgiens, Kanadas oder Großbritanniens ziehen, um nur einige zu nennen. Israel/Palästina kann aber auch zu einem präzedenzlosen Fall werden, der mit alten Maßstäben nicht mehr zu erfassen ist. Die Geschichte ist voll von Beispielen und Kämpfen, die so lange als utopisch und idealistisch galten, bis sie sich als praktikabel und machbar erwiesen haben. Palästina/Israel ist da keine Ausnahme und sollte es auch nicht sein.
SZ: Viele Palästinenser, aber auch Araber und Muslime fühlen sich Deutschland derzeit sehr entfremdet, empfinden die Stimmung als feindselig. Die „bedingungslose Solidarität“ mit Israel lässt in der Politik wenig Raum für Empathie mit den Palästinensern. Haben Sie gezögert, ehe Sie die Einladung nach Berlin angenommen haben?
BB: Das Wissenschaftskolleg ist ein Ort des reichen, anregenden und fruchtbaren internationalen Austausches. Aber mich hat auch die Begegnung mit deutschen Intellektuellen gereizt. Einige sind durch unsere Gespräche und Diskussionen ins Nachdenken geraten. Wissen Sie, ich glaube sogar, dass Palästina für Deutschland eine Quelle der Hoffnung sein kann, insbesondere für diejenigen, denen die demokratischen und liberalen Werte von Gleichheit, Recht und Freiheit etwas bedeuten. Werte, die den Kern des palästinensischen Kampfes ausmachen.
SZ: Wie das?
BB: Manche Kreise haben sich hierzulande in einer Art „Ökonomie der Schuld“ eingerichtet. Man entledigt sich der deutschen Verantwortung durch die blinde Unterstützung für Israel. Vielleicht hat das etwas Tröstliches. Aber diese Ökonomie zerbricht, wenn die Palästinenser ins Spiel kommen, sie entlarven diesen Mechanismus. Europa, und vor allem Deutschland, hat die „jüdische Frage“ in den Nahen Osten ausgelagert – auf Kosten der Palästinenser. Nicht zuletzt während der jüngsten Ereignisse in Palästina/Israel wurde es ganz deutlich: Ob Deutschland es will oder nicht, Palästina ist auch eine deutsche Angelegenheit! Der Antisemitismus des christlichen Europas und der Holocaust haben dazu geführt, dass die jüdische Frage und die Frage Palästinas so untrennbar wie tragisch miteinander verbunden sind.
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Fotos: © Maurice Weiss