Ausgabe 9 / April 2014
Die Kunst der Verdichtung - Yuri Slezkine
von Gerd Koenen
Vielleicht folgt Yuri Slezkine nur demselben intuitiven Erfolgsrezept wie Friedrich Torbergs „Tante Jolesch“, Namensgeberin des wunderbaren Büchleins Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. Nach dem Geheimnis ihrer heißbegehrten "Krautfleckerln" gefragt, soll die Prager Hausfrau geantwortet haben: Ganz einfach, die Leute müssen immer ein wenig hungrig bleiben.
Yuri Slezkine, Russlandhistoriker an der University of California in Berkeley, hält seine Gemeinde, was die Folge und den Umfang seiner Publikationen und seiner Selbstauskünfte betrifft, auch eher knapp. Das läuft der Erfolgslogik und den Verwertungszwängen eines heutigen Wissenschaftsbetriebs, in dem „Publish or Perish!“ zum panischen Imperativ geworden ist, scheinbar diametral entgegen. Aber Slezkine trotzt, wie es aussieht, beharrlich dieser Logik – und nicht zu seinem Nachteil, geschweige denn zu dem seiner Leser.
Deren Geduld wird mit einer wissenschaftlichen Prosa belohnt, die lakonische Knappheit mit funkelnden Aperçus, stete Rückgriffe auf literarische Quellen (Slezkine ist von Haus aus eigentlich Literaturwissenschaftler) mit überraschenden theoretischen Shortcuts verbindet. Und dabei geht es bei aller Leichtigkeit des Stils um gewichtige, teilweise tragische Themen und Geschichten; so vor allem in seinem bekanntesten Buch Das jüdische Jahrhundert (Princeton, 2004), in dessen Zentrum das sowjetische Moskau als ein anderes, untergegangenes Jerusalem der Juden Osteuropas steht. Aber auch seine erste Monografie The Arctic Mirrors (Cornell, 1994), die die Begegnung Russlands mit seinen nördlichen Völkern, gleichsam seinen „Eingeborenen“, nachzeichnet, erschließt seinen Lesern ein ganz anderes Land als dasjenige, das sie zu kennen glauben.
Slezkines jüngstes Projekt, mit dem er Fellow am Wissenschaftskolleg ist und an dem er mit langem Atem arbeitet, ohne allzu viel vorab preiszugeben, ist eine Art Mikrostudie über die erste Generation der führenden Bolschewiki, genauer gesagt: darüber, was sie – einmal an die Macht gekommen – gefühlt, gedacht, geglaubt und nicht zuletzt: wie sie eigentlich gelebt haben, im politischen Raum ebenso wie in ihrer privaten Sphäre.
Eine physische Schnittstelle zwischen dieser Privatsphäre und dem politisch hoch aufgeladenen Raum der frühen Sowjetunion lag in einem riesenhaften, 1931 fertiggestellten Gebäudekomplex mit 505 Wohnungen, der gegenüber dem Kreml am anderen Ufer der Moskwa hochgezogen worden war. Hierhin zogen ein Großteil der Träger zentraler Machtfunktionen, vom Politbüro über den ZK-Apparat und die Volkskommissariate (Ministerien) bis hin zu den hohen Militärs; aber auch prominente Architekten, Künstler, Literaten, Wissenschaftler, Flieger, Polarforscher sowie einige ausgesuchte „Stoßarbeiter“ bekamen als Sonderprivileg eine Wohnung in diesem kolossalen Bau. So viele prominente Namen, so viele Geschichten.
Man kann das eine rote Aristokratie nennen, die sich wie in einem konzentrischen Kreis um das engste Machtzentrum anlagerte, das von Stalin und seiner drushina (seiner engsten Gefolgschaft) besetzt war, die weiterhin im Kreml lebte. Dagegen wurde die unter dem misstrauischen Auge Stalins auf dem gegenüberliegenden Ufer lebende Elite aus „alten Bolschewiken“ und sonstigen Machtträgern des Regimes 1937/38 eines der Hauptobjekte des „Großen Terrors“. Und das „Haus der Regierung“, wie es im Volksmund genannt wurde, wurde zur Menschenfalle.
Im Laufe der Terrorkampagne wurden rund 280 von 500 Wohnungen zeitweise versiegelt, weil ihre Inhaber verhaftet, erschossen oder in den GULag deportiert worden waren. Dasselbe Los traf vielfach ihre Frauen oder Angehörigen, während ihre Kinder jäh aus ihren Kindheitsidyllen gerissen und in Waisenhäuser verschickt wurden. Insgesamt richtete sich der Terror gegen ein Drittel aller erwachsenen Bewohner, rund 800 von etwa 2500 Männern und Frauen, die als Einzelne oder als Familien, mit Großmüttern und Verwandten, mit Dienstboten und Kindermädchen hier gewohnt haben. Aber die Nachfolger rückten gleich nach, übernahmen Möbel und Hinterlassenschaften der soeben verschwundenen "Volksfeinde". Ein Zug des Kannibalismus innerhalb dieser stalinistischen Machtelite ist schwer zu übersehen.
Diese Geschichte ist als solche durchaus bekannt, spätestens seit in den 1970er-Jahren der prominente sowjetische Schriftsteller Juri Trifonow, selbst Sohn eines Verschwundenen, in seinem Roman Das Haus an der Moskwa in verschlüsselter Form darüber erzählt hat. Im Herbst 1989 habe ich selbst bei einem Besuch in Moskau das kleine Museum, das in diesem Frühling der Glasnost von Angehörigen der Opfer des Terrors eröffnet worden war, besucht; es existiert bis heute.
Gezeigt werden darin auch die soliden und komfortablen, etwas altväterlichen Möbel, mit denen die 3-5-Zimmer-Appartments nach einheitlichem Design ausgestattet waren, sowie (mit einem gewissen Stolz) die modernen Heizungs-, Küchen- und Versorgungseinrichtungen, die diese Wohnungen besaßen. Man erfährt auch etwas über die Konstruktion dieses ganzen, nach außen abgeschlossenen Gebäudekomplexes, in dem es buchstäblich alles gab: Kantinen und Cafés, Kindergärten und Krippen, Waschsalons, Schneidereien und einen Schönheitssalon, Läden für Lebensmittel und Konsumgüter, eine Post und eine Telegrafenstation, eine Bank und eine Bücherei, ein Solarium und Sporträume für Tennis oder Gymnastik und sogar eine Schießbahn im Keller. Vieles war umsonst, als Teil des ständischen Privilegien- und Zuteilungswesens, das den Stalinismus auszeichnete. Und insofern konnte man sagen, dass die Insassen dieses großen Hauses tatsächlich "im Kommunismus" lebten.
Dass eine Geschichte bekannt ist, heißt nicht, dass sie ausgeschöpft ist. Yuri Slezkine nimmt die Konstruktion dieses Hauses und das darin angesiedelte soziokulturelle Biotop in einem erweiterten Sinn als Metapher für den Sowjetstaat selbst, für das forcierte Projekt der Konstruktion einer „neuen Gesellschaft“. Die durch die Revolution bunt zusammengewürfelte erste Generation derer, die diesen Staat schufen, die in diesem Haus lebten und die im Großen Terror untergingen, seien die eigentlich Gläubigen dieses neuen Jerusalem gewesen, sagt er, ob sie Abkömmlinge der russischen Provinzintelligentsia oder des jüdischen Shtetls waren, Aufsteiger aus dem russischen oder ukrainischen Bauerntum oder (selten) echte Industriearbeiter.
Aber welcher Art der intensive, religionsartige Glaube gewesen ist, der ihm, wie er sagt, aus persönlichen Quellen (Briefen oder Tagebüchern), die die Verhaftung überdauert haben, oder aus Interviews mit den überlebenden Angehörigen, die er geführt hat, so beherrschend entgegenkam, das bleibt erst noch näher zu beschreiben. Man stößt hier schnell an die Grenzen aller wissenschaftlichen Kategorisierungen von Glaubenssystemen, Transzendenzerfahrungen, Millenarismen oder „politischen Religionen“. Eher bewegt man sich in einem mentalen Feld, worin das Heiligste an das Profanste grenzte und im Traum der Erlösung sich immer schon der Feind und Verräter unter hundert Masken eingenistet hatte – und womöglich in der eigenen Brust saß.
Andererseits waren da die Kinder, die Familie, für die es im Bolschewismus keinen rechten Platz und kein Konzept gab, außer dem der gesunden Aufzucht und strikten Erziehung. Aber wie passten die familiären (vorwiegend weiblichen) Innenwelten mit ihren Müttern, Großmüttern und Kinderfrauen und mit ihren durchaus freigegebenen Komfortbedürfnissen zur rauen (rein männlichen) Außenwelt der Politik, der Wirtschaft, des Militärs? Und wie erklärt man, dass sich die Erziehung, jedenfalls im frühen Schulalter, mehr um mythisierte Figuren des traditionellen Literaturkanons wie allen voran Puschkin drehte – statt etwa um Marx? Slezkines Studie verspricht einen tieferen und konzentrierten, vielleicht verwirrenden und sicherlich nicht abschließenden Einblick in die mentale Verfassung und die Lebensentwürfe dieser bolschewistischen Gründergeneration.
Der Kern der Sowjetunion war und blieb Russland, dessen historische Konstitution als ein Vielvölkerstaat uns aus aktuellen Gründen verstärkt wieder beschäftigt. Yuri Slezkine, der in Moskau aufgewachsen ist, Ende der 1970er-Jahre als Übersetzer (Portugiesisch-Russisch!) nach Mosambik, später nach Lissabon ging und 1982 mit einem portugiesischen Pass in die USA übersiedelte, hat sich als Wissenschaftsnomade seinem Heimatland, eben Russland, nach 1989 mit einem veränderten Blick wieder genähert. Im postkolonialen Afrika hatte er das Verhältnis von alten Stämmen und neuen Nationen und die Interaktionen von Eingeborenen und Fremden, von afrikanischen Ackerbauern und indischen Händlern und Akademikern (den "Juden Ostafrikas"), beobachtet.
Und so kam es vielleicht, dass er sich auch der Geschichte Russlands zunächst von seinen kolonialen Räumen und Grenzen her, durch das ungewöhnliche Prisma des "Arctic Mirror", zu nähern suchte, indem er die lange Geschichte der Begegnungen von Stämmen und Händlern, von Schamanen und Forschern noch einmal aufrollte – eine Geschichte, die in der Sowjetperiode ganz eigene Intensitäten gewonnen und Wendungen genommen hat. Slezkines ursprünglich sprach- und literaturhistorisch geprägter Blick hat sich dabei zunehmend an ethnologischen Befunden und Begriffen geschärft. Und aus dieser Verbindung ist schließlich das wunderbare Eingangskapitel zu seinem Jewish Century entstanden, "Merkurs Sandalen – Von Juden und anderen Nomaden", in dem er die Beziehungen zwischen "Apolloniern" und "Merkuriern" als einen überraschend unkomplizierten, den Blick erweiternden Schlüssel zur Entwicklungsgeschichte fast aller menschlichen Gesellschaften entfaltet hat. (Wie genau, das lese man besser selber nach.)
Dass alle Geschichte persönlich ist, würde Yuri Slezkine vermutlich unterschreiben. "Lives as Tales" hieß seine wieder einmal äußerst knappe und luzide Einführung zu einer Sammlung weiblicher Lebensgeschichten (In the Shadow of the Revolution, Princeton, 2000), die er gemeinsam mit Sheila Fitzpatrick herausgegeben hat. Sein Jewish Century hatte er denn auch seinen beiden Großmüttern gewidmet, von denen die eine als Tochter einer Adelsfamilie kosakischer Herkunft durch die Revolution alles verloren hatte und dennoch als loyale Sowjetbürgerin starb; während die andere, die jüdische Großmutter, die aus einer armen Familie im Ansiedlungsrayon stammte und als Kommunistin alles auf die Karte der Revolution und des sozialistischen Aufbaus gesetzt hatte, ihr Leben am Ende als Fehler betrachtete und ihre früher missachtete jüdische Herkunft als Quelle ihres Stolzes hütete.
Es ist die widerspruchsvolle Geschichte dieser Generation seiner Großeltern und damit seiner eigenen Herkunft, die Yuri Slezkine aufzuschlüsseln versucht, ohne sich vom Medusenblick des Großen Terrors oder von den Sirenengesängen der russischen Hymnen hypnotisieren zu lassen – aber auch, ohne ihren suggestiven Wirkungen einfach auszuweichen. Das braucht Zeit, Ruhe, Konzentration. Wir warten geduldig.
Mehr zu: Yuri Slezkine
Fotos: © Maurice Weiss