Ausgabe 9 / Januar 2014
Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune ...
ein Porträt von Wendy Espeland, Jahnavi Phalkey, Theodore M. Porter, Lorraine J. Daston, Tong Lam, John Carson von Jürgen Kaube
Eine Schwerpunktgruppe aus neun Fellows geistes- und sozialwissenschaftlicher Provenienz widmet sich in diesem Jahr der Welt der sozialen Zahlen
Von überall her drängen Zahlen auf uns ein, um uns zu informieren. Auf Orangensaftflaschen steht zum Beispiel, wie viel der täglich empfehlenswerten Menge an Vitamin B2 sie enthalten. Was Vitamin B2 ist – wieso eigentlich „2“? – und was passiert, wenn wir jene Menge unterschreiten, weiß kein Konsument. Ob es überhaupt wahrscheinlich ist, dass wir sie unterschreiten, auch nicht. So ähnlich ist es mit den Zahlen, die uns über die Qualitäten von Geräten unterrichten. Wer weiß schon, was ein „Fremdspannungsabstand“ ist oder ab welcher Megapixelmenge sich die Bildschärfe gar nicht mehr steigern lässt? Oder nehmen wir die Cholesterinwerte. Wer könnte im Augenblick sagen, wie viele es davon gibt, wie die Grenzwerte, vor denen gewarnt wird, errechnet worden sind und ob die Forschung derzeit überhaupt eine eindeutige Haltung zu Cholesterin hat? Am Ende all dieser Messungen und Empfehlungen steht jedenfalls oft hochinformierte Ratlosigkeit, und es wäre in vielen Fällen ein Trugschluss, weitere Information würde helfen.
Privatpersonen können an dieser Stelle entweder trotzdem einen Abend mit Wikipedia verbringen und sich von „Riboflavin“ über „Hypovitaminose“ bis zu „orange juice“ durcharbeiten. Oder sie können mit den Achseln zucken und einfach ihr Leben diesseits des Wissens weiterführen. Doch schwer interpretierbare Zahlenwolken stehen seit einigen Jahrzehnten auch über dem öffentlichen Leben, gehen in politische Entscheidungen ein, bestimmen so gut wie jede Organisation. Hier gibt es keinen Zustand diesseits von Indikatoren, Benchmarks, Quoten, demoskopischen Werten, Ratings und Rankings mehr. Schulen und Schulsysteme werden getestet, um sie in Reihenfolgen der Leistungsfähigkeit zu bringen, Banken und Industrieunternehmen erhalten Kennziffern, die ihre Kreditwürdigkeit ausdrücken sollen, Wissenschaftler geben bei Bewerbungen ihren Hirsch-Index an, um auszuweisen, wie gleichmäßig ihre Publikationen zitiert worden sind. Es gibt Korruptionsindexe, Freiheitsindexe, Glücksindexe für ganze Länder, und wenn die OECD ausgerechnet hat, dass in einem ihrer Mitgliedsstaaten unterdurchschnittlich viele junge Erwachsene studieren, fragt niemand mehr, was sie stattdessen tun, sondern nur noch, wie die Zahl gesteigert werden kann.
Die Soziologin Wendy Espeland von der Northwestern University in Illinois hat zusammen mit ihrem Kollegen Michael Sauder aus Iowa schon vor einiger Zeit untersucht, wie Rangtabellen, in denen organisatorische Qualität abgebildet werden soll, auf Organisationen auch dann zurückwirken, wenn niemand genau sagen kann, was ihre Zahlenwerke eigentlich besagen. Ihr Beispiel waren nordamerikanische juristische Fakultäten. Von diesen konnten sie zeigen, wie insignifikante Unterschiede zwischen ihnen, wenn sie in die Form einer Rangtabelle gebracht werden, erhebliche Folgen für die Fakultäten haben können. Die Aufmerksamkeit von Studenten, Eltern, Administrationen etwa haftet am Rang, nicht an den „tatsächlichen“ Abständen. Rankings beeinflussen die Qualitätswahrnehmung: Man hat gehört, eine Law School gehöre zu den besten, und das färbt selbst auf Forscher ab, die dazu wenig beigetragen haben, oder bestimmt die Einschätzung von Absolventen, obwohl die Qualität von Forschern gemessen wurde. Vor allem aber führen Rankings dazu, dass sich die Evaluierten auf die Gesichtspunkte der Evaluation einstellen, auch wenn das dazu zwingen kann, von lokalen Qualitäten abzuweichen und das zu tun, was alle tun. Man nimmt Zahlen ernst, die man eigentlich nicht ernst nimmt.
Es genügt, die deutschen Debatten um das Pisa-Ranking und die dortigen Punktabstände zwischen Ländern aufzurufen, um zu sehen, dass solche Mechanismen auch hierzulande wirken. Ja, es scheint die Frage nach den Evidenzen quantifizierter Entscheidungsgrundlagen besonders dringlich, wenn man sieht, welche Rolle Rankings auch in Bildungssystemen spielen, in denen keine großen privaten Vermögensentscheidungen davon abhängen, an welcher Universität studiert wird. Die Logik der Tabellenplätze greift also bei völlig unterschiedlichen Entscheidungssituationen. Nicht zuletzt den Massenmedien und ihrer Arbeit daran, ständig Neuigkeiten mitzuteilen, kommen Zahlen aufgrund ihrer Eigenschaft, sich ständig zu ändern, entgegen.
Wendy Espeland organisiert jetzt einen Forschungsschwerpunkt am Wissenschaftskolleg, der der Bedeutung von Quantifizierungstechniken für das soziale Leben gilt. Dieser Gruppe gehört beispielsweise der Wissenschaftshistoriker Theodore M. Porter von der University of California, Los Angeles an, der mit zwei Standardwerken, Trust in Numbers und The Rise of Statistical Thinking, vielleicht als Erster eine Betrachtungsweise etabliert hat, der zufolge die Wirkung von „sozialen Zahlen“ nicht einfach darauf beruht, wie verlässlich sie ermittelt wurden. Im Aufbau des modernen Staates spielt die Vorstellung der Berechenbarkeit des gesellschaftlichen Lebens ebenso eine Rolle wie bei den Versprechen der Natur- und Sozialwissenschaften, verlässliche Mittel zu unpersönlichem Entscheiden bereitstellen zu können.
Derzeit untersucht Porter den Einsatz von Statistiken in psychiatrischen Kliniken/Asylen, sogenannten "Irrenanstalten" des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Da dort viele Kranke dauerhaft untergebracht waren, entwickelte sich eine erhöhte Beobachtungsdichte am Patienten. Die evidenzbasierte Medizin, von der heute so viel die Rede ist, hat ihren Ursprung in der statistischen Auswertung, der frühe Nervenärzte ihr eigenes Handeln unterzogen. Das war durchaus ungewöhnlich, galt doch dem Mediziner der Einzelfall und nicht der Durchschnittspatient als die Maßgabe seiner Praxis. Zugleich – und das will Porter am Wissenschaftskolleg untersuchen – sammelten diese Anstalten Informationen über Ursachen der Erkrankung bei Patienten und deren Angehörigen und stellten Tabellen zusammen, die die ursächliche Rolle der Vererbung hervorhoben. Die Daten einer gerade heute extrem datengetriebenen Disziplin, der Genetik, kamen ursprünglich also nicht aus dem Labor, sondern aus der Statistik.
Ein Hintergrund für die säkulare Zunahme des Entscheidens aufgrund von Zahlen dürfte die gesellschaftliche Arbeitsteilung sein. Vereinfacht formuliert: Spezialisierung erzeugt Wissensprobleme. Je mehr Spezialisten es gibt, desto öfter müssen Entscheidungen – etwa der Mittelzuweisung, der rechtlichen Gestaltung oder der politischen Wünschbarkeit – von Leuten getroffen werden, die gerade kein Wissen von dem haben, worüber sie entscheiden. Zahlen überbrücken, wenn auch oft nur scheinhaft, solche Unkenntnis, unter anderem weil nicht viel dazu gehört, um festzustellen, welche von zwei Zahlen die größere ist. Zahlen überbrücken auch soziale Kontextunterschiede. Mittels Kennziffern wie „Umsatzrendite“ oder „Frauenquote“ kann man Krankenhäuser, Reifenfabriken und Museen vergleichen. Wendy Espelands erste Studien beschäftigten sich mit der Kosten-Nutzen-Analyse bei öffentlichen Projekten, die eine Entscheidungshilfe für Politiker ist, indem sie hypothetische Zahlungsbereitschaften ermittelt. Vorhaben wie „Stuttgart 21“ werden mit solchen Schätzungen begründet, in die eine unübersehbare Datenmenge an Zeitersparnissen, Wertschätzungen der Umwelt, Investitionsbereitschaften, Kaufkraft, Lärmbelästigung etc. eingeht, alles Pi mal Daumen, alles unter heroischen Annahmen (perfekte Information, vollständige Märkte, unverzerrte Antworten), aber am Ende auf exakte Zahlen zulaufend.
Am Wissenschaftskolleg verfolgt Espeland in mehreren Fallstudien (die sie zusammen mit ihrem Kollegen Stuart Michaels vom NORC, Chicago untersucht), wie das Messen die Tatbestände, die gemessen werden sollen, oft erst selbst hervorbringt. Ein Beispiel dafür ist Alfred Kinseys 1948 auf der Grundlage von mehr als 5000 Interviews publizierte Behauptung, etwa zehn Prozent der männlichen Amerikaner zwischen 16 und 55 Jahren hätten mehr oder weniger ausschließlich homosexuellen Sex. Einige Jahre lang war es vor allem diese Zahl, die sich herumsprach, vermutlich auch, weil man sie sich gut merken konnte. Der Zehn-Prozent-Befund wurde zum Ausgangsdatum eines homosexuellen Minderheitsbewusstseins, das sich zu einer sozialen Bewegung formierte. Es wurde in vielen Zusammenhängen gar nicht mehr gefragt, wie viele Homosexuelle tatsächlich existierten, es waren eben – unter den Wählern, den Soldaten, den Parteimitgliedern usw. – immer zehn Prozent!
Eine zweite Fallstudie Espelands soll den Einfluss der doppelten Buchführung auf die Entstehung des Kapitalismus untersuchen. Max Weber ist mit der These berühmt geworden, zur Durchsetzung dieser Wirtschaftsform habe es auch eines spezifischen Geistes bedurft, der sich in Personenmerkmalen wie Sparsamkeit, rastloser Hingabe an den Erwerb, berechenbare Lebensführung ausdrückte. Vielleicht hat das die Bedeutung sozialer Zahlen unterschätzt. Vielleicht sind sie ein Ersatz für Charakter. Mit Bruce G. Carruthers (ebenfalls Soziologe und ebenfalls Northwestern University) kann man nämlich das, was sachlich als Folge von Arbeitsteilung erscheint, sozial als Vertrauensproblem bezeichnen. Wenn man in unübersichtlichen Zusammenhängen entscheiden muss, fällt Vertrautheit als primäre Grundlage aus. Zahlen sind in dieser Perspektive ein funktionaler Ersatz für Vertrauen in Personen, sie formalisieren Reputation. Carruthers will das am historischen Wandel der Kreditwürdigkeit nachzeichnen, die schon lange nicht mehr primär auf einer Einschätzung der „Wirtschaftsethik“ des Schuldners beruht, sondern durch ein Prüfsystem aufgrund ökonomischer Kennziffern und rechtlicher Voraussetzungen ermittelt wird. Dieses Prüfsystem, verkörpert in den Ratingagenturen Moody‘s sowie Standard & Poor‘s, besitzt übrigens so viel Vertrauen, dass ihm selbst seine drastischen Fehleinschätzungen vor der Weltfinanzkrise nicht zum dauerhaften Nachteil ausgeschlagen sind.
In den Studien zur Quantifizierung steckt auch eine Zeitdiagnose. Sind es doch die späten Siebziger- und Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, in denen der Aufstieg der Indikatoren begann. Sollte es sich also um eine Komponente dessen handeln, was inzwischen etwas kompakt als „neoliberale“ Politik bezeichnet wird, wie der französische Soziologe Emmanuel Didier (CNRS, Paris) annimmt, der innerhalb der Schwerpunktgruppe über Benchmarks forscht? Zugleich hat der Umgang mit sozialen Zahlen aber etwas auffällig Bürokratisches. Auch war dem Sozialismus die versuchte Wirtschaftssteuerung über fiktive Berechnungen ja durchaus nicht fremd. Vielleicht gibt es also gerade hier eine Empirie, die den Gegensatz von Markt und Plan unterläuft. Das Forschungsprojekt der Soziologin und Betriebswissenschaftlerin Andrea Mennicken (London School of Economics) gilt der Performance-Messung und dem kaufmännischen Rechnungswesen von Gefängnissen. Auch sie nämlich sind in Großbritannien seit den 1980er-Jahren auf das „New Public Management“ verpflichtet worden. Vor allem private Sicherheitsunternehmen lobbyierten damals unter dem Eindruck schlecht funktionierender staatlicher Verwaltungen erfolgreich zugunsten eines Verständnisses von Haftanstalten als Firmen.
Das führte 1992 zum ersten privat betriebenen britischen Gefängnis. Und auch hier, in der Performance-Messung von Gefängnissen, zeigt sich die typische Mischung von Marktrhetorik (Wettbewerb, Effizienz, Return on Investment) und einer intensiven klassifikatorischen, bürokratischen Arbeit. Es werden Punktesysteme für Verstöße gegen die Gefängnisordnung entwickelt, die sich zu Qualitätskennziffern aufaddieren, in deren Zahlen aber die Wirklichkeit der jeweiligen Gefängnisse ebenso verschwindet wie die relativen Leistungen der konkreten Organisationen.
Ist eben dies das Schicksal moderner Gesellschaften: Entscheidungen auf der Grundlage von Daten fällen zu müssen, von denen alle oder jedenfalls die meisten Beteiligten wissen, dass sie unzureichend sind? Und viel mehr noch wissen, dass Zahlen keinesfalls ein guter Zugang zu der Wirklichkeit sind, über die entschieden wird? Man könnte sagen: Wir haben nichts Besseres, lieber eine fragwürdige Zahl als bloßes Meinen, bloße Willkür. Man könnte auch sagen: Wir trauen uns nicht, das Scheitern von Entscheidungen zu verantworten, die ohne oder gegen fiktive Zahlen gefällt worden sind. Hier könnte eigene Forschung dazu einsetzen, dass soziale Zahlen ja auch ständig ignoriert werden. Die Politik beispielsweise hat ihre eigenen Gesichtspunkte, wann sie sich an Indikatoren orientiert und wann nicht. Das bestätigt jedoch nur, dass ein Verständnis des gegenwärtigen Zeitalters gar nicht möglich ist ohne die Deutung unserer ambivalenten Abhängigkeit von Zahlen, an die wir im Grunde nicht glauben.
Neben den vier im Text genannten Fellows umfasst die Schwerpunktgruppe auch die folgenden vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler:
Die Wissenschaftshistorikerin Jahnavi Phalkey vom King’s College London erforscht die Entwicklung der Produktivitätsmessungen im Zuge der Staatsbildung Indiens.
John Carson ist Historiker an der Universität Michigan. Er untersucht das Konzept der "Geisteskrankheit" und dessen Entwicklung innerhalb der Medizin und des Gerichtswesens in den USA im 18. und 19. Jahrhundert.
Tong Lam von der Universität Toronto ist ebenfalls Historiker. Er erforscht die Entwicklung chinesischer Wissenschafts- und Technologieparks als eine neue Form der Produktions- und Innovationsutopie des Post-Sozialismus. Dabei analysiert er, wie numerische Argumente zur Etablierung eines Konzepts des neuen Bürger-Arbeiters für das rasante wirtschaftliche Wachstum eingesetzt werden.
Die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston lehrt in Berlin und Chicago und ist Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs. Sie schreibt ein Buch zu den Praktiken naturwissenschaftlicher Kompendien im 19. Jahrhundert.
Governance and Numbers: Credit, Crime and Growth
Videoaufzeichnung des Abendkolloquiums im Wissenschaftskolleg am 19.02.2014
Auf den Fotos sehen Sie v.l.n.r.: John Carson, Bruce Carruthers, Emmanuel Didier, Lorraine Daston, Theodore Porter, Tong Lam, Wendy Espeland und Jahnavi Phalkey
Andrea Mennicken war zum Zeitpunkt des Fototermins noch nicht in Berlin.
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Fotos: © Maurice Weiss