Rainer Schmalz-Bruns, Dr. phil.
Professor der Politikwissenschaft
Technische Universität Darmstadt
Geboren 1954 in Lüneburg; verstorben 2020 in Lüneburg
Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Volkswirtschaftslehre, Literaturwissenschaft und Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg
Arbeitsvorhaben
Transnationale Demokratie und globale Staatlichkeit
Im Zuge der ökonomischen und politischen Globalisierung (Denationalisierung) verschiebt sich die für das Projekt der Moderne konstitutive Balance der integrativen Mechanismen von Hierarchie (Staat), Wettbewerb (Markt) und Solidarität (Gemeinschaft) in einer Weise, die nicht ohne Folgen für die Demokratie bleiben kann. Vor diesem Hintergrund wird die Zukunft der Demokratie davon abhängen, ob es gelingen kann, sie als ein transnationales Projekt verständlich zu machen und dieses in seinen konstitutionellen und institutionellen Implikationen deutlicher als bisher hervortreten zu lassen.Hinweis für Mit-Fellows
Der Prozess der Globalisierung gibt Anlass zur Sorge bezüglich der Zukunft des demokratischen Projekts der Moderne, weil die Bedingungen realer Freiheit, also die Sicherung des internen Zusammenhangs von privater und öffentlicher Autonomie, von Recht und Demokratie und von sozialen und politischen Rechten unterminiert zu werden drohen. Diesen Impuls möchte ich aufnehmen, indem ich 1. auf normativer Ebene unter Rückgriff auf Hegels Theorie eines Kampfes um Anerkennung die Möglichkeiten prüfe, der Idee einer Weltrepublik eine höhere normative und praktische Plausibilität zu verleihen als Kant sie ihr zumessen wollte, 2. auf konzeptioneller Ebene nachzuweisen versuche, dass das Modell deliberativer Demokratie als Grundlage für den Versuch dienen kann, auf assoziativer Grundlage die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Solidarität in eine neue institutionelle Balance zu bringen, 3. in rekonstruktiver Perspektive jene emergenten Strukturbildungen von global governance (internationale Insitutionen, Organisationen und Regime) in den Blick nehme, die einem solchen Projekt schon entgegenkommen und 4. indem ich schließlich in konstruktiver Hinsicht den Versuch mache, diese emergenten Prozesse und Strukturbildungen in ein Modell reflexiver Staatlichkeit zu integrieren und von daher eine Perspektive auf die Konstitutionalisierung der Politik jenseits des Nationalstaates zu gewinnen.
Lektüreempfehlung
Schmalz-Bruns, Rainer. Reflexive Demokratie. Die partizipatorische Transformation demokratischer Politik. Baden-Baden: Nomos, 1995.
-. "Deliberativer Supranationalismus." Zeitschrift für Internationale Beziehungen 6, 2 (1999): 185-244.
-. "Demokratisierung der Europäischen Union - oder: Europäisierung der Demokratie. Überlegungen zur Zukunft der Demokratie jenseits des Nationalstaates." In Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik, herausgegeben von M. Lutz-Bachmann, 260-307. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002.
Kolloquium, 05.11.2002
Demokratie jenseits des Nationalstaates - eine Herausforderung für die politische Theorie
0. Einleitende Bemerkungen: Die Herausforderung der Globalisierung
Die folgenden Bemerkungen umfassen auch einige Reflexionen zu den normativen Voraussetzungen, die akzeptiert werden müssen, um die Globalisierung als Herausforderung über-haupt anzunehmen: das Muster der Werte im Projekt der Moderne, die Überzeugung, dass die Idee der Demokratie diesem Projekt im Innersten (und nicht nur zufällig) verbunden ist, und die Überzeugung, dass deshalb auch eine innere Verbindung zwischen den vier Dimensionen des modernen Staates existiert - i. e. der demokratische Staat, der Rechtsstaat, der Sozialstaat und der interventionistische Staat.
1. Warum Demokratie?
(I) Doch sogar, wenn man diese Grundannahmen teilt, kann man immer noch Vorbehalte dagegen haben, das Format denationalisierter Politik zu verändern. Diese Vorbehalte sind an drei Argumentationslinien geknüpft: Man kann Demokratie als globalen Wert grundsätzlich in Frage stellen (d. h. die Tatsache eines kulturellen und ethischen Pluralismus); auf der Seite der Forderungen kann man überdies bestreiten, dass eine Notwendigkeit besteht, die internationale Politik überhaupt zu demokratisieren - aus realistischen wie auch pragmatischen Gründen; und auf der Seite der Leistungen kann man die Meinung vertreten, dass wir uns eine Demokratie wirklich globalen Umfangs noch nicht einmal vorstellen können, soll diese auch nur die grundlegendsten Kriterien der Rechtmäßigkeit erfüllen.
(II) Auf der Seite der Forderungen und ohne auf die normativen Gründe allein zu rekurrieren, können wir nichtsdestoweniger vier Phänomene nennen, die prima facie starke Argumente für eine trans- oder supranationale Demokratie sind: Wir können auf die wachsende internationale/transnationale Verrechtlichung hinweisen; auf funktionale Imperative, die aus vielen Bereichen der Politik kommen; auf die entstehenden organisatorischen und institutionellen Strukturen, die auch neue Akteure in den politischen Prozess mit einbeziehen, und schließlich auf die weiter wachsenden Probleme der Gerechtigkeit.
(III) Alles in allem führen mich diese Überlegungen zu der Schlussfolgerung, dass Demokratie jenseits des Nationalstaates nicht nur nötig ist, sondern auch möglich sein sollte, vorausgesetzt, wir können wenigstens einigen der Kritikpunkte begegnen, die sich unter (I) benannt habe.
2. Welche Demokratie?
Die Aufgabe besteht darin, einige der konzeptionellen Probleme in den Griff zu bekommen, die dann entstehen, wenn wir die Forderung nach der Demokratisierung internationaler Politik ernst nehmen.
(I) In einem ersten Schritt werden wir für ein spezifisches Modell von Demokratie argumentieren müssen, das sich den Bedingungen der internationalen Politik besonders gut anpassen lässt (deliberatives Modell) - wir erreichen dies zunächst auf einem negativen Weg, indem wir jene konkurrierenden Elemente aussortieren, die nicht erfolgversprechend zu sein scheinen (utilitaristisches und kommunitaristisches Modell).
(II) In einem zweiten Schritt müssen wir einige der konzeptionellen Probleme ansprechen, die dann entstehen, wenn wir vom Modell der deliberativen Demokratie ausgehen. Diese Probleme zeigen mindestens drei Aspekte: Wir müssen für ein Prinzip demokratischer Legitimierung argumentieren, das die Balance von voluntaristischen zu eher epistemischen Legitimationsmodi verschiebt, ohne dass wir uns über den Wert der Gleichheit hinweg setzen; wir müssen nach einer Organisationsform suchen, mit der sich das Prinzip der reziproken Rechtfertigung, das aus diesen Erwägungen entsteht, am besten umsetzen lässt; und wir müssen einer ethischen Dimension Rechnung tragen, die unvermeidbar impliziert ist, wenn wir einer dezentrierten Form kollektiver Willensbildung das Wort reden. Alle diese Überlegungen zeigen glücklicherweise in die gleiche Richtung: hin zu einem assoziativen Modus kollektiver Wissensbildung und Entscheidungsfindung.
3. ...und der Konstitutionalismus?
Wenn wir von der Prämisse ausgehen, dass es eine innere Verbindung zwischen Demokratie und Konstitutionalismus geben muss, müssen wir jetzt fragen, ob die internationale Politik auf eine sinnvolle Art und Weise konstitutionalisiert werden kann, d. h. ohne den Begriff der "Konstitutionalisierung" selbst zu subvertieren. Um herauszufinden, ob das möglich ist, müs-sen wir die drei Hauptprobleme ansprechen: Wir müssen fragen, ob die Unterscheidungen zwischen 'Staat' und 'Gesellschaft' einerseits und zwischen 'privat' und 'öffentlich' andererseits wesentlich oder sogar konstitutiv für das Projekt der Konstitutionalisierung sind; und wir müssen fragen, ob die Konstitutionalisierung als abhängig von bereits existierenden, territorial begrenzten politischen Einheiten wie dem modernen Nationalstaat gedacht werden sollte.
Die Antworten auf diese Fragen sind natürlich von höchster Wichtigkeit, denn die Grundlagen für die genannten Unterscheidungen und Vorbedingungen sind im Kontext der zunehmenden Internationalisierung von Politik aufgelöst worden. Um mit diesen konzeptionellen Herausforderungen zurecht zu kommen, schlage ich vor, von einem abstrakteren Begriff der Konstitutionalisierung auszugehen, der drei Hauptelemente enthält: Was auch immer sie sonst noch umfasst - die Idee der Konstitutionalisierung ist erstens in der Idee einer sittlichen Gemeinschaft verankert; daher dient sie zweitens in einer funktionalen Perspektive als Hilfsmittel zur Selbstorganisation einer Gemeinschaft, die ihre Mitglieder in einer sozialen und zeitlichen Dimension integriert; Selbstorganisation setzt ihrerseits die Vorstellung positiver Freiheit voraus. Drittens können die Ansprüche der Konstitution auf Gültigkeit nur in der Einsicht derjenigen verankert sein, die durch gegenseitige Kooperation aneinander gebunden sind. Das heißt, sie ruhen normativen Vorannahmen auf, die eingehalten werden müssen, damit sich der Einzelne auf alle anderen als autonome Personen beziehen kann, die gleichzeitig ein Interesse am Wohlergehen jedes anderen teilen.
Nur wenn wir von diesen - zugegebenermaßen sehr abstrakten - Annahmen ausgehen, können wir versuchen, die Idee eines "gesellschaftlichen Konstitutionalismus" zu entwickeln, der das konzeptionelle Bindeglied zwischen der nationalen Vergangenheit und der transnationalen Zukunft konstitutionalisierter Politik darstellt.
4. ... und der Staat?
Ein Thema, das noch angesprochen werden muss, ist die Frage, ob die Idee der Konstitutiona-lisierung die Idee der Staatlichkeit analytisch impliziert. Wenn ja, (z. B. aus interventionistischen Gründen, die bereits in der Idee des Rechts selbst impliziert sind), dann müssen wir fragen, ob eine rein formale Vorstellung von Staatlichkeit plausibel ist und ob sie der Kritik begegnen kann, die gegen die Idee eines Welt-Staates schon von Kant in seiner nachdrücklich kritischen Schrift Zum ewigen Frieden geäußert worden sind.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Schmalz-Bruns, Rainer (Baden-Baden, 2002)
Politisches Vertrauen : soziale Grundlagen reflexiver Kooperation Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft ; 2
Schmalz-Bruns, Rainer (2002)
Vertrauen im Vertrauen? Ein konzeptueller Aufriß des Verhältnisses von Politik und Vertrauen
Schmalz-Bruns, Rainer (Frankfurt am Main, 2002)
Theorie der Politik : Niklas Luhmanns politische Soziologie Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 1583
Schmalz-Bruns, Rainer (1998)
Kunst und Demokratie: Modelle ästhetischer Gesellschaftskritik und Politik
Schmalz-Bruns, Rainer (Baden-Baden, 1995)
Reflexive Demokratie : die demokratische Transformation moderner Politik