Wolfram Hogrebe, Dr. phil.
Professor der Philosophie
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Geboren 1945 in Warburg, Westfalen
Studium der Philosophie, Älteren und Neueren Germanistik, Theaterwissenschaft, Informationswissenschaft und Pädagogik
an den Universitäten Münster, München und Düsseldorf
Schwerpunkt
Bildwissenschaft/ImageScience
Arbeitsvorhaben
Mimesis und Mantik
Die Entstehung der modernen Malerei lässt sich auch beschreiben als Übergang von einer Bildlichkeit, die den Betrachter durch eine ungeahnte Sinnigkeit gleichsam "überwältigen" will, zu einer solchen, die den Betrachter durch eine ungeahnte Unsinnigkeit gleichsam "verstören" will.Die autonom gewordene Kunst übernahm daher für die Epoche der Moderne die Aufgabe, dem Könnens- und Wissensstolz der Gesellschaft entgegenzutreten. Sie gestaltet etwas, was ihr selbst wie auch dem Betrachter ein real Unbekanntes und Unverständliches bleibt und so ein real unknown bezeugt.
Der Betrachter weiß sich in einer Welt des vermeintlich totalen Wissens, in der es ein Unbekanntes oder Unverständliches real allenfalls als Kommunikationsstörung gibt, die behoben sein will, und sieht sich nun irritiert damit konfrontiert, dass es Künstler gibt, die variantenreich etwas gestalten, das als real unknown der Mimik eines Anonymen zuzurechnen ist.
Was soll der Betrachter mit dieser enigmatischen Leerintention moderner Kunst aber anfangen? Nun, er könnte sie selbst mit Gedanken füllen, zu denen er sich durch die künstlerische Art des Gegebenseins von Nichtverständlichem veranlasst sieht. Methodisch verlangt daher ein rechtes Verständnis der modernen, autonomen Kunst nicht nur eine Hermeneutik, d. h. eine Kunstlehre des Verstehens objektiver Sinnigkeit, wie sie kennzeichnend war für die vormoderne Kunst mit ihren normativen Bildtraditionen und einem relativ stabilen Repertoire ikonographischer Bezüglichkeiten, sondern verlangt zusätzlich eine Art Mantik, d. h. eine Kunstlehre des Umgangs mit Unverständlichem, mit dem real unknown. Dieses mantische Deuten extrahiert dem zunächst Unverständlichen Sinnsubstanzen, die als Echo der subjektiven Sinnigkeit anzusprechen sind. So verbindet sich der autonomen, modernen Kunst die nämliche Fraglichkeitsdisposition, wie sie für unsere ältesten Vorfahren in ihrer Stellung zur Natur charakteristisch war. So "horchten", heißt es bei Hegel, "die Griechen auf das Gemurmel der Quellen und fragten, was das zu bedeuten habe ..." Ebenso nehmen unsere Zeitgenossen die Werke der modernen Kunst wahr, achten auf ihre bizarren Gestaltungen und fragen, was das zu bedeuten hat. Was immer sie sich antworten mögen, die Botschaft des Werkes bezeugt immer nur ein Echo der subjektiven Zuwendung. Das galt auch für den mantischen Naturbezug. Die vernommene "Bedeutung", schreibt Hegel, "ist nicht die objektive Sinnigkeit der Quelle, sondern die subjektive [Sinnigkeit] des Subjekts selbst."
Das Projekt betritt mit diesem Ausgangsbefund Neuland. Es gibt, von Vorarbeiten des Autors abgesehen, noch keinen Versuch, die Deutungslehre der Mantik für die Ästhetik und dann auch Erkenntnistheorie fruchtbar zu machen. Ziel muss es sein, die Bedeutung des Nichtwissens für unser Bild- und Weltverständnis herauszuarbeiten. Hierzu gibt es erste Ansätze von Timothy Williamson.
Lektüreempfehlung
Hogrebe, Wolfram. Prädikation und Genesis. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1989.
-. Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1992.
-. Sehnsucht und Erkenntnis. Jena: Palm und Enke, 1994.
Kolloquium, 19.10.2004
Mantik und Hermeneutik
Der Vortrag wird eine aparte Deutungsart vorstellen, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist: die Mantik. Ursprünglich bezeichnete man mit diesem Ausdruck die Kunst des Sehers, die nach und nach schon in der Antike zum reinen Aberglauben verkam. Tatsächlich belegen aber die Quellen, gerade je älter sie sind, dass die Mantik ursprünglich eine erste Art des Naturwissens unter Bedingungen des Sicherungsverhaltens war. Auch heute interpretieren wir noch mantisch, wenn wir in der Miene unserer Mitmenschen lesen, auf Nuancen ihrer Stimme achten, wenn wir Atmosphärisches registrieren, in der Dunkelheit in unbekannter Umgebung geradezu panisch überall mit der sinnlich unzugänglichen Gegenwart eines dunklen Du rechnen, das sich im Knistern und Rascheln gleichsam anzeigt.
Tatsächlich hatte, wie man in der Geschichte der bekannten Interpretationslehre, der Hermeneutik, zeigen kann, diese die Mantik in sich vereinnahmt. Nur dadurch konnte sie wie zuletzt bei Gadamer den Anspruch geltend machen, die universelle Verstehens- und Interpretationslehre zu sein.
Auch bei modernen Theoretikern eines expliziten und deklarativen Interpretierens sind diese Zusammenhänge nicht mehr präsent. Der Vortrag empfiehlt, insbesondere performative Verstehens- und Interpretationsformen wie sie von Musikern und Schauspielern geübt werden, zum Ausgangspunkt weiterer Analysen zu wählen, um den informellen Unterbau unserer Verstehensleistungen analytisch zugänglich zu machen: jene semantische Resonanznatur, von der jedermann im Alltag, prominent der Dichter und Künstler, nicht aber der Wissenschaftler profitiert.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Hogrebe, Wolfram (Frankfurt am Main, 2019)
Szenische Metaphysik Klostermann RoteReihe ; 114
Hogrebe, Wolfram (Frankfurt am Main, 2018)
Duplex : Strukturen der Intelligibilität Klostermann Rote Reihe ; 103
Hogrebe, Wolfram (Frankfurt am Main, 2017)
Metaphysische Einflüsterungen Klostermann Rote Reihe ; 92
Hogrebe, Wolfram (2014)
Une philosophie en devenir : Ohlys Anregung und ihre Wirkung
Hogrebe, Wolfram (Stuttgart, 2014)
Friedrich Ohly : Vergegenwärtigung eines großen Philologen Germanistik
Hogrebe, Wolfram ([Berlin], 2014)
Hogrebe, Wolfram (2013)
Hogrebe, Wolfram ([Berlin], 2013)
Metaphysik und Mantik : die Deutungsnatur des Menschen ; (Systeme orphique de iena)
Hogrebe, Wolfram (Berlin, 2013)
Hogrebe, Wolfram (Bonn, 2013)
Transzendenzen des Realen Ernst-Robert-Curtius-Vorlesungen ; 2