Dietrich Niethammer, Dr. Dr. h.c.
Professor der Medizin (em.), ehemaliger Ärztlicher Direktor
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Tübingen
Geboren 1939 in Leipzig; verstorben 2020 in Tübingen.
Studium der Humanmedizin an den Universitäten
Tübingen, Wien und München
Arbeitsvorhaben
Wie gehen Kinder und Jugendliche mit dem Sterben um?
Bis heute besteht vielfach die Auffassung, dass Kinder sich nicht mit Sterben und Tod auseinandersetzen, beeinflusst durch Aussagen von Freud, der den Kindern eine solche Fähigkeit schlichtweg absprach, aber auch von Piaget, der feststellt, dass erst mit etwa 12 Jahren ein Konzept zum Sterben und Tod entwickelt würde. Im Umgang mit krebskranken Kindern zeigt sich aber, dass sich auch bereits relativ kleine Kinder mit Tod und Sterben auseinandersetzen, besonders dann, wenn sie selbst betroffen sind. Wird mit schwerkranken Kindern nicht über die Krankheit und das Sterben gesprochen, so isoliert man sie völlig und nimmt ihnen jede Möglichkeit, sich im Dialog mit ihrem Sterbeprozess auseinander zu setzen. Diese Kinder geben oft jegliche Kommunikation mit ihrem Umfeld auf und sterben völlig alleine gelassen.Mit dem Projekt sollen zum einen theoretische Grundlagen für ein Konzept der Ehrlichkeit und Offenheit gegenüber Kindern erarbeitet werden, das es den Kindern und Jugendlichen ermöglicht, sich aktiv und im Dialog mit dem Sterben auseinander zu setzen. In einem praktischen Teil sollen Handlungsanweisungen definiert werden, die es Studenten, Ärzten und dem Pflegepersonal ermöglichen, adäquat mit sterbenden Kindern umzugehen. Weitere Fragestellungen bieten sich an, z. B. wie Religion, ethnische oder kulturelle Hintergründe die Verarbeitungsmechanismen beeinflussen.
Das Ziel des Projektes soll sein, zu zeigen, dass nur absolute Ehrlichkeit den Bedürfnissen schwerkranker und sterbender Kinder gerecht wird. Diese Vorgehensweise wird auch heute noch zum Nachteil vieler Kinder abgelehnt.
Lektüreempfehlung
Niethammer, Dietrich. "Das Sterben der Kinder." Zeitschr. Med. Ethik 40 (1994): 213-221.
-. "Death of Child." In: Death: Medical, Spiritual and Social Care of the Dying, edited by A. B. M. F Karim, D. W. W Newling, H. M. Kuitert und V. Wortman. Amsterdam: VU University Press, 1998.
-. "Kinder im Angesicht ihres Todes. Im Rahmen der Vorlesungsreihe Kindsein und Kindheit heute des Studium Generale, WS 98/99." In: Neue Sammlung 2, 39 (1999).
-. "Sterbehilfe und Sterbebegleitung in der Pädiatrischen Onkologie." KlinPädiatr 215 (2003): 166-170.
Kolloquium, 25.10.2005
How to Deal with Children and Adolescents with Severe Diseases and Their Dying.
Bis in die späten siebziger Jahre war man der Meinung, dass Kinder vor der Adoleszenzphase nicht über ihre schweren Erkrankungen und die Möglichkeit ihres Todes nachdenken. Die Ausbildung, die wir als Medizinstudenten und junge Ärzte erhielten, gab uns vor, den Kindern unter keinen Umständen ihre schwerwiegenden Diagnosen mitzuteilen und niemals die Möglichkeit zu erwähnen, dass sie an ihren Erkrankungen sterben könnten. Wir sollten nur Fragen beantworten, aber nach kurzer Zeit fragten die Kinder nicht mehr. Im Umgang mit diesen Kindern wurde es immer offensichtlicher, dass sie keine Fragen mehr stellten, weil sie sich darüber im klaren waren, dass die Erwachsenen ihnen auswichen und sie anlogen. Diese Tatsache leistete der falschen Vorstellung Vorschub, dass sie nichts wissen wollten. Also resignierten die Kinder, und es war keine Seltenheit, dass sie mit Erwachsenen überhaupt nicht mehr redeten, oder nur dann, wenn sie etwas von ihnen brauchten. Das Ergebnis war eine Art innerer Isolation der Kinder.
Ich fand diese Situation immer unerträglicher, und im Jahr 1974 begann ich, die Tabus zu brechen, nachdem ich - immer noch sehr zögernd - einige Versuche unternommen hatte, mit den Kindern zu sprechen. Diese Versuche hatten ganz klar dazu geführt, dass die Kinder sich öffneten. Seit dieser Zeit hat sich viel verändert, und wir erleben Tag für Tag, wie Kinder und Jugendliche mit ihren Erkrankungen umgehen und wie bewusst sich viele von ihnen ihrem Tod nähern. Fragen wie die nach dem Wesen des Sterbens oder nach einem Leben nach dem Tod, die auch die meisten Erwachsenen stellen, sind auch den Kindern wichtig, und viele verspüren das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Damit man sie in der letzten Phase ihres Lebens angemessen begleiten kann, müssen sie während ihrer Krankheit die Erfahrung gemacht haben, dass sie sich darauf verlassen können, vom Arzt niemals angelogen zu werden. Obwohl sich seit den siebziger Jahren eine Menge verändert hat, haben viele Ärzte immer noch Schwierigkeiten mit dieser Konzeption.
Dies ist der Hintergrund meines geplanten Projekts. Nachdem ich Ihnen diesen Hintergrund in meinem Vortrag erklärt habe, möchte ich das Konzept des geplanten Buches kurz umreißen und einige andere Aspekte darlegen, die eng mit der im Titel gestellten Frage zusammenhängen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Niethammer, Dietrich (Baltimore, 2012)
Speaking honestly with sick and dying children and adolescents : unlocking the silence Sprachlose Kind. <engl.>
Niethammer, Dietrich (2011)
Niethammer, Dietrich (Berlin, 2011)
Wissenschaftliche Medizinerausbildung - 100 Jahre nach Flexner : [Tagung am 26. Oktober 2011]
Niethammer, Dietrich (Berlin, 2010)
Wenn ein Kind schwer krank ist : über den Umgang mit der Wahrheit Suhrkamp-Taschenbuch ; 4164
Niethammer, Dietrich (Salif Zone, Sharjah [u.a.], 2009)
Niethammer, Dietrich (Stuttgart [u.a.], 2008)
Das sprachlose Kind : vom ehrlichen Umgang mit schwer kranken und sterbenden Kindern und Jugendlichen Schriftenreihe der Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin
Niethammer, Dietrich (2004)
Kinderkrankheiten, zum Tode führende
Niethammer, Dietrich (Freiburg im Breisgau [u.a.], 2004)
Sterben, Tod und Trauer : Handbuch für Begleitende