Juri Andruchowytsch
Schriftsteller
Ivano-Frankivsk
Ukraine
Geboren 1960 in Stanislav (heute Ivano-Frankivsk), Ukraine;
Studium der Journalistik am Ukrainischen Polygraphischen Iwan-Fedorow-Institut, Lviv und Literatur am Maxim-Gorki-Literaturinstitut, Moskau
Arbeitsvorhaben
Eine kleine geopolitische Enzyklopädie
Ich möchte eine Art "Enzyklopädie meiner Städte" schreiben. Dieses Projekt wäre vor allem eine neue Verkörperung meiner langjährigen Geopoetik - einer spezifischen Kreuzung von Literatur und Geographie, meiner persönlichen Version dessen, was Literaturwissenschaftler cognitive mapping nennen. Bis heute habe ich auf verschiedene Art und Weise 109 Städte erlebt. Unter diesen Städten sind Metropolen wie New York, Moskau, Paris und Berlin, einfach nur große Städte - cities im vollen Wortsinne (Hamburg, Warschau, Kiew, Zürich, Lissabon, San Francisco, Athen, München, Toronto), aber auch vergleichsweise etwas kleinere Städte mit einer kraftvollen kulturell-historischen Aura (Venedig, Lemberg, Odessa, Krakau, Prag, Antwerpen) und ganz kleine, die aber über eine eigene, besondere Legende verfügen (Marienburg, Urbino, Passau, Brügge, Lübeck). Außerdem Städte ohne Legenden und ohne Ruhm - wo mir aber etwas Unerwartetes und Unvermeidliches passiert ist. Die alphabetische Reihenfolge, in der sich die Städte in die Struktur des Buches einfügen werden, erlaubt es, überkommene Hierarchien und Koordinatensysteme aufzubrechen - vor allem die des Raums, denn Detroit wird sich neben Dnipropetrowsk wiederfinden, Izmir neben Kaliningrad, Marburg neben Minsk und Czernowitz neben Chicago. Nicht weniger interessant ist die Möglichkeit, die Zeiten zu vermischen, dank derer also Odessa des Jahres 1969 neben Osnabrück 2005 stehen wird, Prag 1968 neben Ravenna 1992, Bari 2004 neben Bayreuth 1994.Lektüreempfehlung
Andruchowytsch, Juri. Das letzte Territorium. Essays. Aus dem Ukrainischen von Alois Woldan. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003.
Andruchowytsch, Juri. Zwölf Ringe. Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2005.
Andruchowytsch, Juri. Moscoviada. Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2006.
Kolloquium, 28.04.2009
What Language are you from: Ein Schriftsteller zwischen Versuchungen der Vergänglichkeit (ukrainischer Zu-Fall)
Nehmen Sie diesen langen Titel bloß nicht zu ernst - es geht mir weniger um einen wissenschaftlichen Stil selbst, als darum, diesen zu imitieren, vielmehr - zu parodieren. Die ukrainische Literatur, über die Sie, wie ich hoffe, in meinem Vortrag mehr erfahren werden, als Sie bisher wussten, hat übrigens als Parodie begonnen. 1798 erfuhr der Provinzbeamte, Kartenspieler und Freimaurer Iwan Kotljarewskyj (1769 - 1838), dass in Sankt Petersburg ein Raubdruck seines parodistischen Poems "Aeneide" herausgekommen war und dass dieses Buch großen Erfolg hatte und sich wunderbar verkaufte. Die Sprache der "Aeneide" war anders als die aller bisher veröffentlichten literarischen Werke seiner Zeit. Sie hatte keinen offiziellen Status und galt als süd-westlicher Dialekt des Russischen.
Doch die parodistische Demarche Kotljarewskyjs legte den Grundstein für eine neue Literatur und eine neue Literatursprache. Die Poesie und die Poeten waren es, die es der ukrainischen Sprache erlaubten zu überleben, die Zeit der offiziellen Verbote und administrativen Schikanen durchzustehen. Zum Glück ist die Poesie von allen Künsten diejenige, die am wenigsten von institutioneller Unterstützung abhängig ist. Sie entsteht direkt, wie der Atem - innere Notwendigkeit und Talent genügen, alles andere ist nicht so wichtig. Außerdem können Gedichte glücklicherweise auch außerhalb offizieller Publikationen ein vollwertiges Leben führen, sogar außerhalb der Schrift.
Ich versteige mich zu der Behauptung, dass in den Zeiten kolonialer Abhängigkeit nicht nur die ukrainische Literatur, sondern auch der gesamte Bereich des gesellschaftlich-kulturellen Lebens in der Ukraine poesiozentrisch waren. Die Poesie stellte einen "Raum des Seins" dar, entstanden als Antithese zum vom herrschenden Regime oktroyierten, materiellen "Raum der Existenz". Angesichts des völligen Fehlens von Pressefreiheit, also auch von normaler pluralistischer Publizistik, erfüllte die Poesie, vor allem die im "samvydav", also illegal herausgegebene, auch sehr konkrete gesellschaftlich-kritische Funktionen.
Gleichzeitig aber erfüllte das Schaffen von Gedichten vor allem eine der universalsten Aufgaben der Schriftstellerei: die Sprache zu verteidigen, ihre Phänomenalität, indem es Endlichkeit und Provisorischem widerstand. Wenn Sie mir dieses Bild erlauben, es war eine ununterbrochene Wiederbelebung. Davon will ich erzählen.
Abendkolloquium , 17.06.2009
Meine intime Städtekunde. Eine geopoetische Lesung. Juri Andruchowytsch im Gespräch mit Ingo Schulze
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Andruchowytsch, Juri (2015)
"Wir übertreiben sehr, wenn wir von der Vielfalt in der Ukraine reden"
Andruchowytsch, Juri (Berlin, 2014)
Euromaidan : was in der Ukraine auf dem Spiel steht edition suhrkamp
Andruchowytsch, Juri (Sofija, 2009)
Andruchowytsch, Juri (Lausanne, 2009)
Douze cercles : roman Dvanadsiat obroutchiv
Andruchowytsch, Juri (Stuttgart, 2009)
Andruchowytsch, Juri (Berlin, 2009)
Sehnsucht Berlin : eine Hommage an die Stadt und Ihre Gäste des Künstlerprogramms ; Begegnungen mit : Imre Kertész, Clemens Klopfenstein, Arvo Pärt, Juri Andruchowytsch, Paul Nizon, Stephen Wilks, Peter Nestler, Nele Hertlin, David Moss, Antonio Skármeta, Anne-Mie van Kerckhoven, Damián Ortega, Péter Nádas, Clemens Gadenstätter, Liza Lim, Andrew Horn The city named desire
Andruchowytsch, Juri (Wydawnictwo czarne, 2008)
Andruchowytsch, Juri (Wydawnictwo czarne, 2008)
Dwanascie Kregow Dwanadciat' obrucziw
Andruchowytsch, Juri (Frankfurt am Main, 2008)
Geheimnis : sieben Tage mit Egon Alt Tajemnycja : zamist' romanu <dt.>