Andrea Büchler, Dr. iur.
Professorin für Privatrecht und Rechtsvergleichung
Universität Zürich
Geboren 1968 in St. Gallen, Schweiz
Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Basel
Arbeitsvorhaben
Familienrecht und Einwanderungsgesellschaft - Erkundungen zum Verhältnis von kultureller Pluralität und Recht in Europa - am Beispiel islamischer Gemeinschaften
Es gibt verschiedene Modelle der Berücksichtigung rechtskultureller Diversität im Familienrecht. Die in Europa bekannten Konzeptionen (Internationales Privatrecht unter Einbezug von Ordre public-Erwägungen, sachrechtsbezogene Annäherung an kulturelle Vielfalt) vermögen allerdings die aktuellen Herausforderungen nur ungenügend zu bewältigen, und es fehlt an einem gültigen theoretischen Rahmen. In gewissen Ländern Europas entstehen familienrechtliche Parallelstrukturen, was Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen rechtspluralistischer Konzeptionen aufwirft. Die Suche nach zukunftsfähigen Techniken der Integration fremden Familienrechts ist meines Erachtens neu auszurichten. An Stelle des ordnungs- und institutsbezogenen Denkens muss eine diskurs- und prozessbetonte Sichtweise treten. Das Denken in Prozessen will der Vielfalt von Familienrechtsdiskursen offen begegnen und diese auf Verständigung und Konsens ausrichten. Und es will - ausgehend vom Grundsatz der Autonomie in der privaten Sphäre - die selbstbestimmte, kulturell kontextualisierte Genese von familienrechtlichen Entscheidungen durch Verfahren legitimieren. Ein auf Diskurs und Prozess ausgerichtetes Denken vermeidet es, gesellschaftliche Konflikte in primordiale Argumentationen zu kleiden, es sperrt sich gegen ein essentialistisches Kulturverständnis und vermag wohl gesellschaftliche Innendifferenzierungen und dynamische Interaktionen eher zu fassen.Das Projekt will verschiedene Modelle evaluieren und prüfen, wie die Integration fremder Rechtserwartungen und selbstbestimmter Konfliktlösungsverfahren familienrechtstheoretisch fassbar ist.
Lektüreempfehlung
Büchler, Andrea. "Die Kommerzialisierung von Persönlichkeitsgütern: Zur Dialektik von Ich und Mein." Archiv für die civilistische Praxis 206 (2006): 300-351.
Büchler, Andrea. "Kulturelle Vielfalt und Familienrecht: Die Bedeutung kultureller Identität für die Ausgestaltung europäischer Familienrechtsordnungen - am Beispiel islamischer Rechtsverständnisse." In Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht (Hg.). Heidelberg (im Druck).
Büchler, Andrea. "Sag mir, wer die Eltern sind ... Konzeptionen rechtlicher Elternschaft im Spannungsfeld genetischer Gewissheit und sozialer Geborgenheit." AJP 2004: 1175-1185.
Kolloquium, 03.03.2009
Kulturelle und religiöse Identität in Familienrechten Europas Von Dichotomien zum Diskurs
1) Neue Kartografien: Innerhalb und nicht dazwischen
Wir sind Zeugen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zum einen die Vermehrung familienrechtlicher Codes und eine neue Dimension diskursiver Heterogenität. Zum andern die Renaissance eines holistischen Kulturverständnisses, das Beharren - in apologetischer oder in kritischer Absicht - auf askriptiven Merkmale des Selbst und des Anderen, auf Zuschreibungen und deren Einverleibung. Das ist aber keine Paradoxie. Im Globalisierungskontext lassen sich diese Erscheinungen widerspruchsfrei denken.
Familienkulturelle Identität wird freilich durch eine Vielzahl sozialer Prozesse hervorgebracht. Konstruktivistische Analysen machen die imaginären Evidenzen sichtbar. Das Resultat von Konstruktionsprozessen ist aber keine Illusion, Fiktion oder Täuschung, sondern eine mit Veränderungspotenzial ausgestattete Wirklichkeit, weshalb kulturelle Identität die Aufmerksamkeit des Familienrechts verdient. Die Herausforderung heisst "protecting choice - promoting inclusion".
2) Inklusion oder Exklusion fremden Familienrechts?
Islamisches Familienrecht findet in Europa Anwendung im Rahmen des Internationalen Privatrechts, also aufgrund eines im nationalen Recht verankerten Rechtsanwendungsbefehls. Rechtsvergleichend bilanzierend stelle ich fest, dass alle betrachteten Länder in einem Prozess der Selbstvergewisserung nach annehmbarer, das Gleichgewicht wahrender familienrechtlicher Pluralität suchen. Zwar überwiegen Gemeinsamkeiten und Konvergenzen, was wohl auf vergleichbare Problemlagen zurückzuführen ist, dennoch sind unterschiedliche Akzente auszumachen. In Frankreich dient der internationalprivatrechtliche ordre public am deutlichsten der Behauptung des Selbst. Die Schweiz setzt schon in anknüpfungstheoretischer Perspektive auf Integration. Deutschland hingegen ist in starkem Masse den eigenen kulturellen Codes verpflichtet, der häufige Rückgriff auf fremdes Recht und die bemerkenswerte Zurückhaltung in der Anwendung des ordre public können sowohl als Abwehr und Demarkation im Innern wie auch als anerkennende Rücksicht auf Differenzen gelesen werden. Spanien hingegen knüpft an seine islamische Vergangenheit an und öffnet neue Felder kultureller Autonomie. Schliesslich weisen die sozialen Strukturen Englands kommunitaristische Züge auf, der Staat gewährt trotz kollisionsrechtlicher Anknüpfung an das Domizil die Koexistenz von familienkulturellen Ordnungen und die weitestgehende rechtliche Autonomie. Die muslimische Gemeinschaft hat ihre Rechtstraditionen in modifizierter Form weitgehend bewahrt.
Begegnungen in familienrechtlichen Kontexten, dies der Befund, sind Epiphänomene der Varianten politischer Modernität und nationaler Selbstbeschreibungen in Europa - nicht mehr und nicht weniger.
3) Die (De)Konstruktion binärer Opposition.
In der "postnationalen" und "postsäkularen Gesellschaft" mittels Staatsgrenzen den identitätsrelevanten Raum bezeichnen zu wollen, erweist sich als juristischer Reduktionismus. Und gegen die kollisionsrechtliche Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit im Familienrecht bestehen ernste Bedenken, zumal sie auf Exklusivität angelegt ist. Sie antizipiert eine Differenz, die sie bei jeder Entscheidung wieder neu markiert. So nimmt sie als performativer Akt teil an der binären Logik vom Selbst und dem Anderen. Indes ist die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit in Erosion begriffen, zugunsten derjenigen an den geteilten Lebensraum und der Rechtswahl, die im Ansatz auf Begegnung angelegt sind.
4) Eruptionen im Familienrecht in Europa
Der ethische Imperativ des Respekts kultureller und religiöser Identitäten, gepaart mit dem Axiom ihrer Gleichwertigkeit, stellt eine Herausforderung an die Integrationsfähigkeit familienrechtlicher Ordnungen dar. Im europäischen Familienrecht ist im Zuge der zunehmenden sachbezogenen Konvergenz eine graduelle Erosion des Statusdenkens zu konstatieren. Insbesondere die tradierte institutionelle Interpretation der Ehe ist historisch überholt, und ordnungspolitische Bedürfnisse, über die rechtliche Formierung des Zusammenlebens die Gesellschaft zu strukturieren, sind ein Atavismus. Einem von der Metaphysik befreiten, auf die schutzbezogenen Aufgaben zurückgeführten Familienrecht kommt Integrationskraft zu.
5) Sachrechtsbezogener Einbezug (rechts)kultureller Vielfalt: ein eklektisches Vorgehen
Eine sachrechtsbezogene Berücksichtigung kultureller Identität und fremder Rechtsverständnisse ist auf Begegnung angelegt. Die Orte der Begegnung sind zahlreich, die Begegnungen selbst von unterschiedlicher Intensität: Die kulturelle Diversifizierung des familienrechtlichen Angebots ist selten, der Einbezug fremder Rechtsfiguren durch autonome Rechtsgestaltung immerhin häufiger. Erst ausreichende normative Offenheit ermöglicht im Rahmen hermeneutischer Normkonkretisierung, kulturell und religiös fremde Rechtsprägungen einzuverleiben. Insgesamt aber ein eklektisches, wenig theoriegeleitetes Vorgehen.
6) Rechtspluralismus im Familienrecht: Ein empirischer Befund anthropologischer Erkundungen
Hingegen ist Rechtspluralismus ein Feld anthropologischer Erkundung. Die Rechtsethnologie hat uns gelehrt, dass sozialer Raum kein normatives Vakuum ist. Rechtspluralistische Strukturen im Sinne einer nicht rechtspositivistisch verengten Perzeption von Recht fordern die moderne Idee vom staatlichen Monopol der Rechtserzeugung heraus und entführen das Recht aus dem Panoptikum der Verdinglichung, in welchem es viele eingeschlossen haben. Sie offenbaren eine enorme Interdependenz und Komplexität des Verhältnisses zwischen normativen Systemen und sozialen Praktiken. Der rechtsanthropologischen Theorie des Rechtspluralismus ist es zu verdanken, dass diese Komplexität, das erfahrbare und gelebte Recht die Aufmerksamkeit der Rechtswissenschaft erhalten. Parallele, gemeinschaftsbezogene Familienrechtsordnungen sind allerdings keine Perspektive für Europa, zumal sie die auf die einzelne Person zugeschnittene Theorie der Rechte überfordern muss. Das Recht auf kulturelle Identität im familienrechtlichen Kontext schliesst nicht die Gleichheit normativer Verpflichtungen aus, denn eben dieses Recht braucht ein Fundament, das seine allgemeine Geltung garantiert. Zudem kann in einem demokratischen und säkularen Staat auf die kulturelle Inklusionswirkung familienrechtlicher Institutionen und Verfahren nicht verzichtet werden. Schliesslich sind gruppen-, religionsbezogene normative Ordnungen im Familienrecht eine Gefahr sowohl für die Kohäsion der Gesellschaft wie auch für die schwächeren Gruppenmitglieder.
7) Diskusive Praxis und Legitimation durch Verfahren
Dennoch ist Pluralität im familienbezogenen Bereich anzuerkennen. Die Verknüpfung empirischer und normativer Perspektiven vermute ich in einem diskursiven und prozeduralisierten Familienrechtskontext und durch die Klärung der Kernaufgaben des Familienrechts. Die theoretischen Grundlagen und die dogmatischen und praktischen Implikationen sind auf dem Hintergrund folgender Grundsätze zu diskutieren: Autonomie und Schutz zu gewährleisten sind die Hauptaufgaben des Familienrechts. Je nach Regelungsbereich kann sich staatliches Recht darauf beschränken, selbstbestimmte Verfahren zu begleiten und anzuerkennen, oder kulturell geprägte Institute, Regelungen oder Werte trotz staatlicher Rechtssetzungsprärogative zu intergrieren, oder schliesslich im Rahmen staatlichen Monopols verschiedene Positionen prozedural zu versöhnen. Die Grenzen sind durch die Menschenrechte und die Verfassung gesetzt. Hoch genug abstrahierte Werte vermögen der Gesellschaft eine Differenzierung einfassende Verbindlichkeit und damit Integrationskraft zu sichern. Autonomie sichert den Rückgriff auf vertraute Diskurse und Deutungshoheit der Parteien. Gleichwohl erfolgt im Rahmen heterarchisch angelegter Begegnungen eine weit über die verschiedenen Positionen hinausweisende kulturell-normative Synkretisierung. Pluralität adressieren, sich der eigenen Geschichte erinnern, stigmatisierende Zuschreibungen unterlassen und sich der Kontingenz kultureller Konstrukte und des Veränderungspotenzials bewusst sein: das sind die Elemente integrativer Familienrechtsordnungen und Familienrechtspraxen.
Abendkolloquium , 14.01.2009
Islamisches Familienrecht in Europa?
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Büchler, Andrea (Farnham, Surrey [u.a.], 2011)
Islamic law in Europe? : legal pluralism and its limits in European family laws Cultural diversity and law
Büchler, Andrea (2010)
Islamisches Familienrecht in Europa? : Begründungen und Grenzen rechtlicher Pluralität
Büchler, Andrea (Zürich, 2009)
Kinder und Scheidung : der Einfluss der Rechtspraxis auf familiale Übergänge Nationales Forschungsprogramm 52, Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel
Büchler, Andrea (2009)
DasRecht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung
Büchler, Andrea (Zürich [u.a.], 2009)
Büchler, Andrea (2008)
The transplantation of human fetal brain tissue : the Swiss federal law
Büchler, Andrea (2008)
Kinderrechte und Kindesschutz in Ägypten : die jüngsten Reformen
Büchler, Andrea (2008)
Büchler, Andrea (Basel, 2007)
Ehe, Partnerschaft, Kinder : eine Einführung in das Familienrecht der Schweiz