Reinhard Merkel, Dr. iur.
Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie
Universität Hamburg
Geboren 1950 in Hof (Bayern)
Studium der Rechtswissenschaft an den Universitäten Bochum, Heidelberg und München und Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität München
Arbeitsvorhaben
Grundlagen einer Rechtsethik des modernen Strafrechts: Bedingungen verbotenen Handelns - Prinzipien der Rechtfertigung - Voraussetzungen und Grenzen persönlicher Schuld
Ziel des Projekts ist es, die Grundlagen einer systematischen Philosophie des sog. Allgemeinen Teils des Strafrechts (kontinentaleuropäischer Provenienz) zu erarbeiten. Vorausgesetzt ist dabei, dass es zahlreiche Probleme begrifflicher, legitimationstheoretischer und sogar metaphysischer Art gibt, die sowohl im Strafrecht als auch in der Philosophie Gegenstand intensiver und streitiger Erörterung sind.Einige Beispiele:
- Grundlagen menschlichen Handelns, einschließlich einer Typologie von Formen der Täterschaft und der Teilnahme sowie der Unterscheidung von Tun und Unterlassen
- Begriff und mögliche Konzeptionen der Kausalität
- Bedingungen der normativen Zurechnung von Handlungsfolgen
- Grenzen zwangsrechtlicher Befugnisse des Staates und deren Gründe
- normative Grundlagen einer ausnahmsweisen Legitimation grundsätzlich verbotenen Verhaltens
- Bedingungen und Grenzen der Zuschreibung persönlicher Schuld, einschließlich des Problems der Willensfreiheit und der sog. mentalen Verursachung von Ereignissen der physischen Welt (etwa körperlicher Bewegungen als "Rohstoff" menschlicher Handlungen)
Es gibt derzeit keine produktiven Diskussionen zwischen den wissenschaftlichen Sphären des Strafrechts und der Philosophie über diese doch grundsätzlichen gemeinsamen Probleme. Einen solchen ersten Brückenschlag zu unternehmen, ist das Ziel meines Vorhabens. Ich bin sicher, dass sich aus den Diskussionen jeder dieser beiden Sphären zahlreiche fruchtbare Einsichten für die jeweils andere gewinnen lassen.
Lektüreempfehlung
Merkel, Reinhard. Willensfreiheit und rechtliche Schuld: Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung. Baden-Baden: Nomos, 2008.
Merkel, Reinhard. Forschungsobjekt Embryo: verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. München: DTV, 2002.
Merkel, Reinhard. "§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten? Über taugliche und untaugliche Prinzipien zur Lösung einer Grundfrage des Rechts." Juristenzeitung 8, 62 (2007): 373-385.
Kolloquium, 03.02.2009
Die Identität von Personen in der Zeit: eine kryptische (und vernachlässigte) Grundlage und Grenze des strafrechtlichen Systems
Bin ich derselbe wie gestern? Dumme Frage. (Wer oder was denn?) Wie vor zehn Jahren? Vor zwanzig, dreißig? Wie der Embryo, aus dem ich mich einmal entwickelt habe? Wäre ich identisch mit dem Patienten in einem irreversiblen Koma, wenn mich ein böses Schicksal jemals dazu machen sollte? - Was genau sind die Kriterien, anhand derer wir das Mit-sich-selbst-identisch-bleiben von Personen über ihre vergehende Lebenszeit hinweg bestimmen oder auch verneinen können?
Das ist eine klassische Frage der philosophischen Metaphysik. Seit ihrer ersten systematischen Behandlung in John Lockes "Essay Concerning Human Understanding" von 1690 sind zahlreiche unterschiedliche Antworten darauf gegeben worden. Einen Konsens über die richtige gibt es nicht. Muss es ein Körperkriterium sein? Oder ein psychologisches? Eine Verbindung von beiden? Etwas ganz anderes?
Auch im Strafrecht spielen solche Fragen eine bedeutsame Rolle. Aber bis heute ist diese Rolle den Rechtstheoretikern, soweit ich sehe, weitgehend dunkel geblieben. Weder in strafrechtlichen Urteilen noch in der Wissenschaft (jedenfalls in Deutschland) gibt es eine systematische Behandlung des Problems der personalen Identität. Das kommt mir erstaunlich vor. Denn zu den stillschweigenden Voraussetzungen strafrechtlicher Zurechnung - also der Zurechnung von Handlungen und ihren Folgen zu Personen - gehört die Annahme, dass die handelnden Subjekte im zeitlichen Ablauf der relevanten Begebenheiten mit sich selbst identisch blieben. Diese Annahme ist aber in bestimmten Zusammenhängen falsch oder unplausibel. Daraus ergeben sich wichtige Folgen für das Strafrecht, die im geläufigen System der Rechtsdogmatik nicht wahrgenommen und deshalb nicht richtig behandelt werden.
Mein Vortrag ist ein Versuch, die derzeit noch unübersichtliche Landschaft dieser Probleme zu vermessen. Das geschieht, indem ich zunächst eine Reihe begrifflicher und methodischer Unterscheidungen einführe. Sie sollen das metaphysische Problem der Identität transparenter machen. Aber um dessen Lösung geht es mir nicht, wiewohl ich die vier wichtigsten der heute vertretenen Lösungen knapp skizziere. (Dass es eine umfassend richtige gibt, glaube ich nicht.) Worauf es mir ankommt ist vielmehr die spezifische Verbindung der Frage nach der personalen Identität mit Problemen der Ethik und des Rechts.
Um sie zu klären, führe ich einige weitere Unterscheidungen in den Grundkategorien des Strafrechts ein. Danach stelle ich vier strafrechtliche Problemtypen anhand exemplarischer (überwiegend erfundener) Fälle vor. Für jeden von ihnen liegt der Schlüssel zur Lösung in der Antwort auf eine spezifische Frage der personalen Identität, und nicht dort, wo er in den geläufigen Debatten der Judikatur und der Wissenschaft bisher gesucht wird. Ich möchte zeigen, dass wir für die jeweilige Lösung nicht die eine richtige, sondern verschiedene Konzeptionen personaler Identität brauchen, und warum das so ist. Der primäre Sinn meiner Analyse ist es, in der Theorie des Strafrechts eine Diskussion anzustoßen, die längst überfällig ist. Erfolgreich kann sie, meine ich, nur sein, wenn sie auch die Philosophen (oder doch die Philosophie) einbezieht.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Merkel, Reinhard (2009)
Autonomy and authenticity of enhanced personality traits
Merkel, Reinhard (2008)
Merkel, Reinhard (2008)
Die Abgrenzung von Handlungs- und Unterlassungsdelikt : Altes, Neues, Ungelöstes
Merkel, Reinhard (2008)
Merkel, Reinhard (Baden-Baden, 2008)
Willensfreiheit und rechtliche Schuld : eine strafrechtsphilosophische Untersuchung ; [Vortrag gehalten am 18. Januar 2006] Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie ; 37