2008/2009

Lothar Müller, Dr. phil.

Journalist, Süddeutsche Zeitung,

München und Berlin

Geboren 1954 in Dortmund
Studium der Germanistik und Geschichte an der Philipps-Universität Marburg/Lahn

Arbeitsvorhaben

Im Schatten der Statuen: Metamorphosen des europäischen Klassizismus im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert

Gegenstand des Projektes ist die europäische Kunstliteratur in der napoleonischen Ära. Untersucht wird die reflexive Verarbeitung zum einen der Transferierung der römischen Statuen und Kunstwerke nach Paris, zum anderen der Ankunft der griechischen "Elgin Marbles" in London. Damit wird eine Frage aufgenommen, die Goethe am Ende des 18. Jahrhunderts gestellt hat, als er die Zeitschrift Propyläen gründete: Was wird aus dem "idealen Kunstkörper", der Italien bisher war, was wird an seine Stelle treten? In dem Prozess, den Goethe im Auge hatte, steht der "Dekontextualisierung" der Kunstwerke, also ihrer Loslösung aus ihrer traditionellen Lokalisierungen die Einfügung in den je aktuellen Kontext gegenüber. Im philologischen Verfahren des "close reading" ausgewählter Texte sollen die diskursiven Entwicklungen im europäischen Klassizismus auf den Aufschwung der empirischen Wissenschaften (z. B. der Anatomie) wie der Geschichtsphilosophie um 1800 bezogen werden. Die Untersuchung folgt einer synoptischen Perspektive: Sie stellt den Quellen zur Kunstpolitik der jungen französischen Republik die Diskussionen um den Wert der Parthenon-Skulpturen in London um 1810 und beiden die Texte der Weimarer Kunstfreunde, ihrer Berliner Opponenten um Schadow sowie der frühromantischen Autoren um August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel an die Seite.

Lektüreempfehlung

Müller, Lothar, Hg. Die Gemählde: Gespräch / August Wilhelm von Schlegel. Kommentiert und mit einem Nachwort versehen. Dresden: Verlag der Kunst, 1996.
-, Hg. Das Karl Philipp Moritz-ABC: Anregung zur Sprach-, Denk- und Menschenkunde. Frankfurt/Main: Eichborn, 2006
-. Die zweite Stimme: Vortragskunst von Goethe bis Kafka. Berlin: Wagenbach, 2007.

Kolloquium, 27.11.2008

Die Anatomie des Borghesischen Fechters. Zur Modernisierung des Klassizismus in der Kunstliteratur der napoleonischen Ära

Im Zuge des napoleonischen Italienfeldzugs wurden nach 1796/97 zahlreiche Kunstwerke aus Italien nach Paris transferiert. Darunter befanden sich auch jene Statuen des Belvedere-Hofes in Rom, die Johann Joachim Winckelmann als Repräsentanten des höchsten Schönen in der Kunst ausgezeichnet und beschrieben hatte: der Laokoon, der Apoll und der Torso. Ein Motiv der publizistischen Polemik gegen diese Transferierungen war in Frankreich selbst, in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern die Kritik an der Herauslösung der Kunstwerke aus ihrem organisch gewachsenen Wahrnehmungszusammenhang in Rom. In Paris wiederum rechtfertigte die regierungstreue Presse unter Berufung auf Winckelmann die Transferierungen als "Heimholung" der Kunstwerke in das Reich republikanischer Freiheit.
Der Vortrag fragt, wie die aus Rom kommenden Statuen in Paris in ihren neuen, revolutionären Kontext integriert wurden. Er interpretiert vor dem Hintergrund der Aufstellung der Statuen in der 1800 eröffneten Antikengalerie des Louvre die "Recherches sur l'Art statuaire" (1805) des französischen Kunsttheoretikers Toussaint-Bernard Émeric-David als Umformulierung des Winckelmannschen Klassizismus in ein wissenschaftsgestütztes Programm moderner Kunstproduktion. Und er demonstriert die Schlüsselrolle, die dabei der Anatomie zufällt, an dem Kupferstich-Werk "L'Anatomie du Gladiateur combattant" (1812) des Militärarztes Jean-Galbert Salvage.