Albrecht Koschorke, Dr. phil.
Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft
Universität Konstanz
Geboren 1958 in Kastellaun, Rheinland-Pfalz
Studium der Germanistik, Philosophie und Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Sorbonne Paris
Arbeitsvorhaben
Allgemeine Erzähltheorie
Das Projekt soll sich in grundsätzlicher Absicht mit der kulturellen Funktionsweise von Narrativen befassen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sozial geteiltes Wissen zu einem beträchtlichen Teil in narrativer Form prozessiert wird. Untersucht werden - unter Berücksichtigung und in Weiterentwicklung von Forschungen aus dem Bereich der Psychologie - die Verarbeitungsregeln, nach denen sich kulturell dominante Erzählschemata ausbilden, die für die Selbstwahrnehmung von Gruppen oder Gesellschaften und für die Organisation ihres Gedächtnisses grundlegend sind. Wie entscheidet es sich, welches Wissen sozial geteilt werden und durch Einpassung in ein Narrativ seine Reichweite ausdehnen kann? Wie wird zeitliche Dynamik modelliert, wie werden Affekte und kollektive Energien gebunden, soziale Grenzziehungen verstärkt oder durchbrochen? Wie bilden Gegennarrative sich aus, über welche Verkehrswege und semantische Manöver können sie ins hegemoniale Zentrum einer Kultur vordringen? Wie verfestigen sich Narrative zu Institutionen und sozialen Strukturen, wie gelingt es ihnen, gleichsam unvordenklich zu werden?In einem zweiten Schritt soll es darum gehen, die epistemische Wirksamkeit von Narrativen genauer zu analysieren. Dies geschieht in Anknüpfung einerseits an neuere Tendenzen in der Wissenschaftsgeschichte und -theorie, andererseits an die Kultursemiotik Lotmanscher Prägung. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Interferenzen zwischen Wissen und Nichtwissen, konkret: dem kulturellen Umgang mit der Grundbefindlichkeit unvollständiger Information.
Lektüreempfehlung
Koschorke, Albrecht. Der fiktive Staat: Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Wissenschaft, 2007 [zusammen mit Thomas Frank, Ethel Matala de Mazza und Susanne Lüdemann].
-. Die Heilige Familie und ihre Folgen. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Wissenschaft, ³2001. Amerikanische Übersetzung: The Holy Family and Its Legacy. New York: Columbia University Press, 2003.
-. Körperströme und Schriftverkehr: Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink, 1999, ²2003 (Habilitationsschrift Berlin 1996).
Kolloquium, 03.05.2011
Lob des Ungefähren. Elemente einer Allgemeinen Erzähltheorie
Allenthalben wird vom Erzählen, von der prägenden Kraft der Narrative gesprochen: in der Geschichtsschreibung, im Recht, in der Politik und sogar in der Ökonomie, deren mathematische Modellrechnungen sich großenteils auf hypothetische Erzählverläufe stützen. Das Erzählen stellt einen privilegierten Modus dar, in dem Gesellschaften sich auf sich selber beziehen. Ein Schauplatz dieses Selbstbezugs, aber keineswegs der einzige, ist die Literatur. Eine Theorie, die das Erzählen im gesamten Spektrum seiner kulturellen Funktionen zu erfassen versucht, muss deshalb über die bisherigen, am Modell poetischer Fiktionen entwickelten literaturwissenschaftlichen Ansätze hinausgehen.
Der Vortrag soll einige Elemente einer solchen Allgemeinen Erzähltheorie herausarbeiten. Näher behandelt werden: erzählerische Reduktion dessen, was als mitteilungswürdig erscheint; Schemabildung, d.h. Ausprägung von generalisierten Erzählmustern, die ähnlich wie kognitive Schemata Erwartungen stabilisieren; Framing, d. h. die Umgrenzung dessen, was ‚zählt', durch einen zeitlichen und handlungstechnischen Rahmen; Einprägsamkeit im Hinblick auf das Zusammenspiel von narrativen und Gedächtnisprozessen; Redundanz zur Konsensabsicherung und gefahrlosen Ermöglichung von Variationen; Bearbeitung von Abweichungen durch Formen erzählerischer Problemlösung; tentative Kausalität als besondere Form erzählerischer Sinnerzeugung; Affektbindung als einer der Gründe dafür, warum widersprechende Tatsachen einem verfestigten Narrativ wenig anhaben können; sowie Mehrdeutigkeit, die dafür sorgt, dass erzählerische Wir- und Sinnbezüge veränderlich bleiben.
In einem Ausblick will ich schließlich darlegen, wie sich solche narratologischen Bestimmungen meiner Ansicht nach in eine kultursemiotische Feldtheorie, das heißt einer Theorie des gesellschaftlichen Zeichenverkehrs, einfügen müssen. Dabei möchte ich ein Axiom des russischen Semiotikers Jurij Lotman übernehmen: "Non-understanding, incomplete understanding, or misunderstanding are not side products of the exchange of information but belong to its very essence." Dieser Ansatz unterscheidet die Kultursemiotik von den geläufigen Erkenntnislehren, die nur dem klar definierten und eindeutig verständlichen Teil der Informationsübermittlung Aufmerksamkeit schenken. Erzählungen, so will ich argumentieren, haben eine wichtige epistemische Funktion. Sie machen schwach definiertes, ungefähres, unsicheres Wissen sozial handhabbar und halten wie ein elastisches Band die Welt mit all ihren kulturellen Denkmöglichkeiten besser zusammen, als dies rigide Wissenssysteme zu tun vermögen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Koschorke, Albrecht (Berlin, 2015)
Hegel und wir Frankfurter Adorno-Vorlesungen ; 2013
Koschorke, Albrecht (Berlin, 2014)
Labor der Phantasie : Texte zu Literatur- und Wissensgeschichte
Koschorke, Albrecht (Frankfurt am Main, 2012)
Wahrheit und Erfindung : Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie S. Fischer Wissenschaft
Koschorke, Albrecht (Konstanz, 2011)
Despoten dichten : Sprachkunst und Gewalt
Koschorke, Albrecht (Konstanz, 2010)
Vor der Familie : Grenzbedingungen einer modernen Institution
Koschorke, Albrecht (Frankfurt am Main, 2007)
Der fiktive Staat : Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas Fischer ; 17147
Koschorke, Albrecht (2006)
Koschorke, Albrecht (New York, N.Y., 2003)
The holy family and its legacy : religious imagination from the gospels to Star Wars Die Heilige Familie und ihre Folgen
Koschorke, Albrecht (München, 2003)
Körperströme und Schriftverkehr : Mediologie des 18. Jahrhunderts
Koschorke, Albrecht (Frankfurt am Main, 2000)
Die Heilige Familie und ihre Folgen : ein Versuch Fischer ; 14765