Barbara Piatti, Dr. phil.
Literaturwissenschaft
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich
Institut für Kartografie
Geboren 1973 in Basel
Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte
an der Universität Basel
Arbeitsvorhaben
Ein literarischer Atlas Europas - neue Konzepte, theoretische Vertiefung
Seit über hundert Jahren müht sich die Literaturwissenschaft damit ab, literarische Räume in adäquater Weise in Karten umzusetzen - doch noch immer fehlt ein Instrumentarium, um die spezifische Geographie der Literatur sichtbar und damit der Deutung zugänglich zu machen.Wo spielt Literatur und weshalb spielt sie dort? Ausgehend von diesen vermeintlich einfachen Fragen wird zur Zeit in einer von mir geleiteten interdisziplinären Forschungsgruppe in Zürich, Göttingen und Prag ein interaktiver literarischer Atlas Europas entwickelt, der die Eigengesetzlichkeit literarischer Schauplätze und Handlungsräume berücksichtigt. Das im Schnittfeld zwischen Literaturwissenschaft, Kartographie und Datenbanktechnologie angesiedelte Visualisierungskonzept eröffnet neue Fragehorizonte. Wo und wann tauchen welche Landschaften und Städte auf der literarischen Landkarte Europas auf? Und wann sinken sie wieder in die Bedeutungslosigkeit ab? Gibt es gänzlich unliterarisierte Landstriche? Unter welchen (nicht zuletzt politisch-historischen) Bedingungen schrumpft der (Imaginations-)Raum der Literatur und unter welchen dehnt er sich aus? Literaturgeographische Kartenmodelle fungieren dabei als Interpretationswerkzeuge und leisten zweierlei: Sowohl detaillierte Profile einzelner literarisierter Räume können erstellt werden wie auch Vergleiche zwischen Modellregionen.
Diese neuartigen Visualisierungen müssen theoretisch flankiert werden: Wie funktioniert Literaturgeographie/-kartographie, wo liegen die Probleme, was leistet sie? Ein Aspekt, der bisher vernachlässigt worden ist, ist die Rolle der kleinsten räumlichen Einheit in einem literaturgeographischen System: Das Haus, das Gebäude, kurz: die architektonische Dimension literarischer Handlungsräume. Ein anderer ist der unterschiedliche Charakter von ländlichen und urbanen fiktionalisierten Räumen, was nach einer stärkeren Differenzierung der Begriffe und Kategorien verlangt. Die Zeit am Wissenschaftskolleg werde ich deshalb nutzen, um Theorie und Begriffsapparat dieses aufstrebenden Forschungsfeldes weiterzuentwickeln.
Lektüreempfehlung
Piatti, Barbara. "Mapping the Ontologically Unreal: Counterfactual Spaces in Literature and Cartography." The Cartographic Journal 4/46 (2009): 333-342.
-. Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen: Wallstein, 2008.
-. Tells Theater: Eine Kulturgeschichte zu Schillers "Wilhelm Tell" in fünf Akten. Basel: Schwabe, 2004.
Kolloquium, 21.06.2011
"Ein literarischer Atlas Europas" oder: Wie und weshalb soll Literatur kartiert werden?
Alles beginnt mit den vermeintlich einfachen Fragen: Wo spielt Literatur und weshalb spielt sie dort? Europa verfügt (wie natürlich auch andere Kontinente...) über einen immensen Reichtum an literarisierten Landschaften und Städten. Das sich gegenwärtig neu formierende Forschungsfeld der Literaturgeographie-/Literaturkartographie setzt sich zum Ziel, solche komplexen Überlagerungen von realen und fiktionalen Geographien sichtbar zu machen. Im Schnittfeld von literaturtheoretischen Konzepten und kartographischen Visualisierungen müssen dazu erst neuartige Methoden konzipiert werden: Wie lassen sich Schauplätze der Fiktion kartographisch abbilden - unter Verwendung spezifisch zugeschnittener Symbole und Visualisierungsmethoden? Und welche neuen Erkenntnisse ergeben sich daraus?
Seit über hundert Jahren müht sich die Literaturwissenschaft, literarische Räume in adäquater Weise in Karten umzusetzen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass jede fiktionale Handlung irgendwo lokalisiert ist. Die Skala reicht von realistisch gezeichneten Schauplätzen mit hohem Wiedererkennungswert bis hin zu gänzlich imaginären Handlungsräumen. Doch es fehlt eine konzise Theorie und ein methodisches Instrumentarium, um diese spezifische Geographie der Literatur zu erfassen und zu deuten. Die bisherigen Lösungen sind bloß teilweise befriedigend und die Liste ungelöster Probleme ist lang.
Vor diesem Hintergrund wird gegenwärtig ein Prototyp eines interaktiven literarischen Atlas Europas entwickelt. Ein solches Visualisierungssystem wird die systematische Erfassung der räumlichen Dimension in Fiktionen ermöglichen, so dass detaillierte Porträts von literarisch durchdrungenen Räumen erstellt und untereinander verglichen werden können. Ausschnittweise erprobt werden die Möglichkeiten eines solchen Systems an drei ganz unterschiedlich beschaffenen Räumen: an einer Gebirgsregion (Vierwaldstättersee/Gotthard; CH), an einem Küsten- und Grenzgebiet (Westküste Schleswig-Holsteins: Nordfriesland/Dithmarschen; D) und an einer Metropole (Prag; CZ).
Die eigentliche Forschungsvision ist eine räumlich strukturierte und kartographisch unterstützte Literaturgeschichte Europas, die bestehende Landes- und Sprachgrenzen überwindet.
In meinem Vortrag präsentiere ich den gegenwärtigen Stand der Arbeiten. Zwei Punkte werden dabei besonders wichtig sein:
* Das Potential, aber auch die Grenzen literaturgeographischer Methoden
* Funktionsweisen eines interdisziplinären Dialogs: An dem Projekt sind gleichberechtigt Experten und Expertinnen aus der Kartographie und aus der Literaturwissenschaft beteiligt. Deshalb werden sich einige Ausführungen auch auf die Probleme - und Erfolgserlebnisse! - der Verständigung zwischen diesen beiden Disziplinen beziehen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Piatti, Barbara (Basel, 2021)
Celestino Piatti - everything i paint has eyes
Piatti, Barbara (2009)
Mapping the ontologically unreal : counterfactual spaces in literature and cartography
Piatti, Barbara (Göttingen, 2008)
Die Geographie der Literatur : Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien
Piatti, Barbara (2006)
Schillers Schauplätze und die Topographie des "Wilhelm Tell"
Piatti, Barbara (Basel, 2004)
Piatti, Barbara (Basel, 2002)
Le jardin de Rousseau Le jardin de Rousseau petit périple historique dans l'île Saint-Pierre