Nina Verheyen, Dr. phil.
Geschichte
Universität zu Köln
Geboren 1975 in Hamburg, Deutschland
Studium der Geschichte, Soziologie und Filmwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Freien Universität Berlin, der Università di Roma Tre und der Columbia University, New York
Arbeitsvorhaben
Die Entdeckung der eigenen Leistung: Konstruktion, Vermessung und Erfahrung individueller Leistungskraft in Europa um 1900
Warum definieren sich Menschen über "ihre" Leistung beziehungsweise über das, was sie selbst und andere dafür halten? Das kulturhistorische Projekt bezieht sich auf Europa um 1900, wobei die deutsche und britische Geschichte im Zentrum stehen. Während der Jahrhundertwende - so die These - und damit erst nach der Formierung des angeblich leistungsorientierten Bürgertums und in Teilen schon vor den transatlantischen Einflüssen des Taylorismus und Fordismus wurde Leistung auf diskursiver Ebene als eine individuell zurechenbare, mess- und steigerbare Größe dargestellt. Es etablierten sich Praktiken der Vermessung individueller Leistung in so unterschiedlichen Feldern wie Bildung, Arbeit und Freizeit. Diese Praktiken wirkten als Techniken der Subjektivierung, das heißt sie veränderten das Selbstverständnis der betroffenen Personen und erlaubten dem Einzelnen, sich über "seine" Leistung zu definieren - ein Gedanke, der für Kulturen der Konkurrenz in der europäischen Moderne konstitutiv ist und das moderne Subjekt seither fest im Griff hat. Anstatt allerdings zu unterstellen, dass sich die skizzierten diskursiven und praxeologischen Verschiebungen bruchlos in männliche oder weibliche Körper einschrieben, fragt das Projekt auch nach Ablehnungen und Devianzen, kreativen Aneignungen und Konflikten. Denn Praktiken der Vermessung - und damit auch der Konstruktion - individueller Leistung erfuhren um 1900 zwar eine Institutionalisierung, sie waren aber hochgradig umstritten.Lektüreempfehlung
Verheyen, Nina. Diskussionslust: Eine Kulturgeschichte des "besseren Arguments" in Westdeutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010.
Verheyen, Nina und Manuel Borutta, Hg. Die Präsenz der Gefühle: Männlichkeit und Emotion in der Moderne. Bielefeld: Transcript, 2010.
Verheyen, Nina. "Unter Druck. Die Entstehung individuellen Leistungsstrebens um 1900." Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 5 (2012): 382-390.
Kolloquium, 29.04.2014
Ehrgeiz als Problem? Zur Geschichte individueller Leistungsorientierung im deutschen Fin de Siècle
Das heutige Deutschland wird oft als "Leistungsgesellschaft" beschrieben. Positiv verstanden drückt dieses Etikett die Hoffnung aus, individuelle Leistung statt Herkunft möge über soziale Platzierung entscheiden und "vertikale soziale Mobilität" erlauben. Analog dazu wird Bürgerinnen und Bürgern eine gewisse Leistungsorientierung attestiert und abverlangt, um gesellschaftliche Produktivität zu sichern. Was als individuelle Leistung gilt, ist allerdings umstritten. Denn individuelle Leistung existiert nicht per se, sondern ist immer eine Frage der sozialen Zuschreibung. Diese Zuschreibungen können implizit verlaufen oder explizit, zum Beispiel über Prüfungen und Wettbewerbe, die Leistungsstandards definieren und damit bestimmen, ab wann das Ergebnis einer zielgerichteten Anstrengung tatsächlich als Leistung einer einzelnen Person anzuerkennen ist und wie sich diese Leistung graduell zu den Leistungen anderer Personen verhält. Zugleich wirken Praktiken der Zuschreibung individueller Leistung auf individuelle Leistungsorientierungen ein, indem sie Menschen zum Beispiele Anreize zum zielgerichteten Lernen (oder auch zum Schummeln) liefern, weil sie Prüflinge in nervöse Aufregung versetzen oder ihnen Erfolgserlebnisse verschaffen und ihren Ehrgeiz beflügeln.
Der Vortrag beleuchtet den Zusammenhang zwischen individueller Leistungsorientierung einerseits und sozialen Praktiken der Zuschreibung individueller Leistung andererseits in historischer Perspektive. Es geht um Deutschland in der Zeit von ca. 1880 bis zum Ersten Weltkrieg. Das war eine Zeit, in der sich die Eliten für die Vermessung und Optimierung individueller Leistungskraft ausgesprochen interessierten und entsprechende soziale Praktiken etablierten. Zudem vermuteten Lehrer, Politiker, aber auch Psychologen, die Erfahrung einer Leistungsprüfung - zum Beispiel in der Schule - könne den Ehrgeiz eines Menschen ganz erheblich anstacheln. Diese gleichsam über soziale Institutionen stimulierte Leistungsorientierung galt aber als Problem, weil sie mitunter zur nervösen Überreizung und Überarbeitung, manchmal sogar zum Zusammenbruch führte - so jedenfalls der Verdacht. Vor allem Personen, die nicht zur etablierten männlichen, christlichen Elite zählten, wurden mit dem medizinischen Hinweis auf "ehrgeiziges Strebertum" bei ungenügender "Leistungsfähigkeit" und daher alsbald drohendem Leistungsabfall in ihren Prüfungs-, Selbstoptimierungs- und Aufstiegsambitionen abgebremst. So verband sich in der "Leistungsgesellschaft" der Jahrhundertwende das Paradigma ökonomischer Produktivität nicht nur mit dem Anspruch sozialer Dynamik, sondern auch mit dem Bemühen um soziale Stabilität.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Verheyen, Nina (Wiesbaden, 2018)
Verheyen, Nina (Bonn, 2018)
Die Erfindung der Leistung Schriftenreihe ; Band 10259
Verheyen, Nina (Baden-Baden, 2014)
Bürgerliches Leistungsethos? Geschichtswissenschaftliche Korrekturen einer irreführenden Formel
Verheyen, Nina (2014)
Verheyen, Nina (Stuttgart, 2012)
Verheyen, Nina (Stuttgart, 2012)
Verbriefte Gefühle : eine Quellencollage 1910/11
Verheyen, Nina (Frankfurt, 2011)
Gefühlswissen : eine lexikalische Spurensuche in der Moderne
Verheyen, Nina (2011)
Verheyen, Nina (Göttingen [u.a.], 2010)
Diskussionslust : eine Kulturgeschichte des "besseren Arguments" in Westdeutschland Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft ; 193
Verheyen, Nina (Bielefeld, 2010)
Die Präsenz der Gefühle : Männlichkeit und Emotion in der Moderne 1800 - 2000 ; Bd. 2