Andreas Diekmann, Dr. rer. pol.
Professor (em.) der Soziologie
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich
Geboren 1951 in Lübeck, Deutschland
Studium der Soziologie und Psychologie an den Universitäten Hamburg und Wien
Arbeitsvorhaben
Soziale Ordnung durch Reputation
In wirtschaftlichen und sozialen Austauschbeziehungen treten regelmäßig Vertrauensprobleme auf. Tauschbeziehungen sind zumeist sequenziell und Tauschpartner laufen wechselseitig Gefahr, ausgebeutet zu werden. Anthropologische, wirtschaftshistorische und soziologische Forschungen zeigen, dass sich je nach Kontext und Technologie unterschiedliche Institutionen zur Lösung von Vertrauensproblemen entwickelt haben. Insbesondere deuten historische Untersuchungen, experimentelle Arbeiten und die Analyse von Daten digitaler Märkte darauf hin, dass selbstorganisierte Reputationssysteme wesentlich zur Entstehung stabiler Austauschbeziehungen, sozialer Ordnung und Kooperation beitragen können. So wird in der historischen Studie von Avner Greif die Bedeutung von Reputation beim kommerziellen Tausch in den Mittelpunkt gerückt. Auch in Max Webers Arbeit über protestantische Sekten in Amerika wird auf ein Nebenprodukt religiöser Gemeinschaften mit rigiden Aufnahmeregeln aufmerksam gemacht: die Verleihung von Reputation für weltliche, kommerzielle Geschäfte durch Mitgliedschaft. Reputation ist Information über wahrgenommene Aktivitäten einer Person oder Organisation mit einem Akteur oder mit Dritten. Man könnte in Analogie zu Robert Axelrods "Schatten der Zukunft" von Reputation als "Schatten der Vergangenheit" sprechen. Kennt man die Handlungsgeschichte eines Akteurs, kann sich auch unter eigennützigen Akteuren Kooperation entwickeln, wenn man davon ausgeht, dass dem Akteur an der Aufrechterhaltung von Reputation gelegen ist. Wie auch spieltheoretische Arbeiten formal und präzise zeigen, kann Reputation selbst bei einmaligen Interaktionen mit Fremden kooperatives Handeln hervorbringen. In der menschlichen Entwicklung hat Reputation immer eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt der Gemeinschaft gespielt. Mit der rasanten Verbreitung von Reputationssystemen auf digitalen Märkten, in sozialen Netzen und anderen Bereichen der digitalen Welt sind aber auch Risiken verbunden. Mit dem Forschungsvorhaben werden Entstehung, Verbreitung und Auswirkungen von Reputationssystemen in den Blick genommen und auf Grundlage neuer Daten analysiert.Lektüreempfehlung
Diekmann, Andreas, Ben Jann, Wojtek Przepiorka und Stefan Wehrli. "Reputation Formation and the Evolution of Cooperation in Anonymous Online Markets." American Sociological Review 79 (2014): 65-85.
Diekmann, Andreas und Wojtek Przepiorka. "Punitive Preferences, Monetary Incentives and Tacit Coordination in the Punishment of Defectors Promote Cooperation in Humans." Scientific Reports 5, 10321 (2015).
Diekmann, Andreas und Siegwart Lindenberg. "Sociological Aspects of Cooperation." In: International Encyclopaedia of the Social & Behavioral Sciences, 2nd edition, herausgegeben von James D. Wright, 862?866. Amsterdam: Elsevier, 2015.
Kolloquium, 10.10.2017
Vertrauen und Reputation in der digitalen Welt. Reputationssysteme verringern Unsicherheit und fördern soziale Kooperation, haben aber auch Schattenseiten
Ist es möglich, dass Kooperation in einer "Hobbesschen" Welt unter anonymen Akteuren entsteht, ohne irgendeine Form staatlicher Regulierung? Reputation, "image scoring" (Nowak und Sigmund 1994) und "signalling" sind verwandte und effektive Mechanismen zur Förderung kooperativen Handelns. Vorausgesetzt, der "Schatten der Zukunft" (Axelrod 1984) ist hinreichend groß, kann Kooperation bei wiederholten Interessenkonflikten entstehen. Im Unterschied hierzu informiert Reputation über vergangenes Verhalten und kann so, quasi mit dem "Schatten der Vergangenheit", kooperatives Handeln aufrechterhalten, selbst wenn sich Tauschpartner nur einmal begegnen. Insbesondere ökonomische Transaktionen setzen voraus, dass die Partner einander Vertrauen entgegenbringen (Kollock 1994). Forschungen aus der Anthropologie, Wirtschaftsgeschichte (Greif 1989) und Spieltheorie (Milgrom et al. 1990) zeigen, dass Reputationsmechanismen, basierend auf den jeweils zeitgenössischen Technologien, dazu beigetragen haben, dass sich ökonomische Transaktionen entwickeln konnten. Heute ist Reputationsbildung ein wirkungsvoller Mechanismus, um Kooperation auf digitalen Märkten zu erzeugen (Diekmann et al. 2014), sogar auf den illegalen Märkten im "Darknet". Aber es gibt auch Schattenseiten von Reputationssystemen, wenn Informationen unzuverlässig oder sogar gefälscht sind. Zudem gibt es ein Anreizproblem, verlässliche Informationen zu liefern. Denn ein Reputationssystem ist ein Kollektivgut und eigennützige Trittbrettfahrer haben kein Interesse, zum Kollektivgut beizutragen. Empirische Studien zeigen aber, dass das Kollektivgutproblem durch das psychologische Motiv "altruistischer Reziprozität" (Gintis 2000) gelöst werden kann.
In meinem Vortrag möchte ich diese und weitere Probleme dezentraler und selbst-organisierter Reputationssysteme anhand von historischen Fallstudien, experimentellen Studien und statistischen Analysen großer Datensätze von Online-Auktionen behandeln.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Diekmann, Andreas (Wiesbaden, 2019)
Environmental concern : a global perspective
Diekmann, Andreas (Amsterdam, 2019)
Diekmann, Andreas (London, 2019)
Do environmental concern and future orientation predict metered household electricity use?
Diekmann, Andreas (S.l., 2018)
Does money change everything? Priming experiments in situations of strategic interaction
Diekmann, Andreas (Baden-Baden, 2018)
Experimentelle Studien und Repräsentativität : zur Klärung einiger Irrtümer und Missverständnisse
Diekmann, Andreas (2017)
Diekmann, Andreas (Reinbek bei Hamburg, 2016)
Spieltheorie : Einführung, Beispiele, Experimente rowohlts enzyclopädie
Diekmann, Andreas (2016)
Diekmann, Andreas (Oxford, 2015)
The logic of relative frustration : Boudon's competition model and experimental evidence