Andreas Mayer, Dr. phil. habil.
Directeur de recherche
Centre national de la recherche scientifique, Paris
École des hautes études en sciences sociales, Paris
Geboren 1970 in Wien
Studium der Musikwissenschaft, Soziologie und Wissenschaftsforschung an der Universität Wien, der Universität Bielefeld und der University of Cambridge
Arbeitsvorhaben
Anthropologie des Ungreifbaren: Die menschliche Gestik als Gegenstand der modernen Humanwissenschaften
"Le Geste, c'est l'Homme": Diese dem posthumen Werk des französischen Anthropologen Marcel Jousse (1886-1961) entnommene Formel weist prägnant auf eine für die modernen Humanwissenschaften zentrale Problematik hin: das Erfassen jener unzähligen gleichsam automatisch ablaufenden Bewegungen, durch die sich das Leben des Menschen vollzieht. Wenn die Geste bei Jousse zur Grundlage der Anthropologie selbst wird, so geschieht dies primär, weil sie sich filmisch aufzeichnen lässt. Es würde allerdings zu kurz greifen, wollte man in dieser an der kinematografischen Fixierung orientierten Definition der Gestik die endgültige Lösung der Schwierigkeiten erkennen, die sich der Beobachtung von schwer fassbaren Objekten in den Humanwissenschaften seit mehr als zwei Jahrhunderten stellen. Die epistemologische Problematik einer "Anthropologie des Ungreifbaren" ist deshalb historisch zu präzisieren, indem die kulturellen und theoretischen Vorannahmen sowie die spezifischen Praktiken der Beobachtung und Aufzeichnungstechniken genauer rekonstruiert werden. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Welche Definitionen erfährt die menschliche Gestik in der "Wissenschaft vom Menschen", wie sie sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildet? Wie grenzen sich diese Definitionen vom umfassenderen Begriff der "Lokomotion" ab? Welche Beobachtungs- und Aufzeichnungstechniken korrespondieren mit diesen theoretischen Konzepten in verschiedenen lokalen Forschungsfeldern? In welchem Verhältnis stehen Text und Bild bzw. welche Form nimmt eine neue wissenschaftliche Bildkritik und -korrektur an? Weiterhin ist zu fragen, in welchem Verhältnis die empirische Erforschung von Gesten einerseits zum Aufstieg der Bewegungsphysiologie, andererseits zu neuen Formen der Kunstpsychologie steht, die sich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts herausbilden.Lektüreempfehlung
Mayer, Andreas. Wissenschaft vom Gehen: Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Fischer, 2013. Englische Ausgabe: The Science of Walking: Investigating Locomotion in the Long 19th Century. Chicago: University of Chicago Press (erscheint 2020).
-. "Gradiva's Gait: Tracing the Figure of a Walking Woman." Critical Inquiry 38, 3 (Spring 2012): 554-578.
-. Sites of the Unconscious: Hypnosis and the Emergence of the Psychoanalytic Setting. Chicago: University of Chicago Press, 2013.
Kolloquium, 10.03.2020
Gangarten und Gesten: widerspenstige Objekte der Humanwissenschaften
In meinem Kolloquium werde ich die Erforschung und Klassifikation von Gesten, Gebärden und Gangarten vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in einem größeren wissenschaftshistorischen Rahmen diskutieren.
Mein Ausgangspunkt ist die Ausdifferenzierung von Studien menschlicher Körperbewegungen, die die "fortschreitende Bewegung" (locomotion) zum reinen Gegenstand der Mechanik und dagegen die Gestik und die "Ausdrucksbewegungen" zum Thema psychologischer oder physiognomischer Untersuchungen erklärt.
Ab den 1820er Jahren gehen Physiologen, die sich der experimentellen Untersuchung der menschlichen "Gehwerkzeuge" und ihrer Funktionen zuwenden, vielfach davon aus, diese ließen sich unabhängig von kulturellen Bedeutungszusammenhängen analysieren. Bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts etabliert sich die Bewegungsphysiologie als ein prestigereiches Forschungsfeld, welche die Lokomotion von Menschen und Tieren in speziellen Laboren und Untersuchungsstationen in einem rein mechanischen Register untersucht.
Die Beschäftigung mit menschlichen Gesten und "Ausdrucksbewegungen" rückt parallel dazu in den Fokus von ethnographischen Forschungen, die lange weniger beachtet wurden oder durch ihre Verknüpfung mit dem moralisch-ästhetischen Programm der Physiognomik als diskreditiert gelten. Die anthropologischen Studien zu Geste und Bewegung, die in verschiedenen sprachlichen und kulturellen Kontexten zwischen 1820 und 1840 unternommen werden, entwickeln dabei spezifische, manchmal sehr originelle Textformen wie Balzacs "Théorie de la démarche" (Theorie des Ganges).
Mit ihrer Verschränkung von Anekdotischem, Fiktivem und Faktischem richten sich diese Texte nicht an eine Fachleserschaft, sondern vielmehr an ein breiteres Publikum. Die Zusammenstellung von Beobachtungen, die sehr heterogener Art sind, deren Typisierung von Gesten und Verhaltensmustern im Rahmen einer neuen "Wissenschaft vom Menschen" werden dabei oft zum praktischen Gebrauch in einer spezifischen lokalen Kultur formuliert.
Ich werde argumentieren, dass diese vernachlässigten Mischformen des Wissens, die in verschiedenen lokalen Kulturen entstanden, um eine Semiologie des Alltagslebens zu skizzieren, in einer wissenschaftshistorischen Betrachtung auch Einsichten hinsichtlich der Epistemologie des Beobachtens in den Humanwissenschaften liefern können.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Mayer, Andreas (Edinburgh&nEdinburgh University Press, 2023)
Textual criticism, psychoanalysis and the historical method : a conversation
Mayer, Andreas (Berlin, 2023)
Abhandlung über moderne Stimulanzien Traité des excitants modernes
Mayer, Andreas (Berlin, 2022)
Theorie des Gehens Théorie de la démarche
Mayer, Andreas (Göttingen, 2020)
Mayer, Andreas (Paris, 2020)
Mayer, Andreas (Chicago, 2020)
The science of walking : investigations into locomotion in the long nineteenth century Wissenschaft vom Gehen
Mayer, Andreas (Edinburgh, 2018)
Mayer, Andreas (Paris, 2017)
Des rêves et des jambes : le problème du corps rêvant (Mourly Vold, Freud, Michaux)