Arwed Messmer
Fotograf
Berlin
Geboren 1964 in Schopfheim, Deutschland
Studium der Visuellen Kommunikation an der Fachhochschule Dortmund
Arbeitsvorhaben
Berlin, VINETA: Eine deutsche Stadtbaugeschichte (Arbeitstitel)
Der Schwerpunkt meiner künstlerisch-bildarchäologischen Praxis liegt auf der Recherche, Bearbeitung und Neukontextualisierung gebrauchsfotografischer Bildkonvolute aus öffentlichen Archiven. Die ursprüngliche Funktion dieser Aufnahmen – etwa technische Fotografien für den Städtebau, Überwachungs- oder Erfassungsaufnahmen staatlicher Sicherheitskräfte – ist heute erloschen. In meiner Arbeit lege ich Bildüberschüsse frei und mache einen Reichtum an Zeichen sichtbar, die mit der zeitlichen Distanz an historischer und ästhetischer Relevanz gewinnen. Bisher entstanden sind umfangreiche Ausstellungen und Publikationen zum Ostberlin der 1950er-Jahre, zur Berliner Mauer, zu den Archiven der Staatssicherheit und zum westdeutschen Linksterrorismus.Berlin, VINETA ist ein fotografisch-literarisches Projekt, an dem ich zusammen mit der Schriftstellerin Annett Gröschner arbeite und das in eine Ausstellung und eine Publikation münden soll. Ankerpunkt ist ein Mitte der 1960er-Jahre entstandenes Konvolut von ca. 2.500 Fotografien, das in Vorbereitung des Umbaus eines Areals um die Vinetastraße im Bezirk Wedding 1964–65 für die Berliner Bauverwaltung angefertigt wurde. Zusammen ergeben sie einen historischen „Streetview“ von den Häusern an 25 Straßen und Plätzen, die bis zu den späten 1970er-Jahren fast vollständig abgerissen wurden. Das Viertel war das größte zusammenhängende urbane Sanierungsgebiet der alten Bundesrepublik und Westberlins. Konzeptuelle Grundlage war die „Charta von Athen“, jener Thesenkatalog mit 95 Leitsätzen zum Städtebau, den Le Corbusier 1933 verfasst hatte.
Berlin, VINETA möchte das Thema Stadtpolitik an einem wichtigen Beispiel des Stadtumbaus multiperspektivisch durchdeklinieren. Es geht nicht um Regionalgeschichte, sondern eine im Bachtin’schen Sinne gedachte Chronotopie anhand von Fotografien, Nachlässen von Architekten und Stadtplanungsämtern, Grundstückskartierungen, Bau- und Abrissakten. An keinem Berliner Viertel zeigt sich die auf weite Strecken verfehlte Wohnungspolitik am deutlichsten, kein Viertel eignet sich besser, um zu fragen: Wie wollen und wie können wir zukünftig in der Stadt leben?
Lektüreempfehlung
Messmer, Arwed. Reenactment MfS. Ostfildern: Hatje Cantz, 2014.
Gröschner, Annett und Arwed Messmer, Hg. Taking Stock of Power: An Other View of the Berlin Wall / Inventarisierung der Macht: Die Berliner Mauer aus anderer Sicht. 2 Bde. Ostfildern: Hatje Cantz, 2016.
Messmer, Arwed. RAF: No Evidence / Kein Beweis. Berlin: Hatje Cantz, 2017.
Kolloquium, 14.05.2024
Das latente Bild des Archivs
„Der historische Index der Bilder sagt [...] nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen [...]. Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit, trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.“
Walter Benjamin, „Das Passagen-Werk“, zit. n. Georges Didi-Huberman, „Bilder trotz allem“, München 2007, S. 133.
Für mich sind staatliche Archive zu Schatzinseln geworden, zu einem Ort der Aneignung von Material, um über Vergangenheit zu erzählen und eine alternative Form zur offiziellen Geschichtsschreibung zu finden. Es gibt ein latentes Bild des Archivs, um einen Begriff aus der analogen Fotografie heranzuziehen, das erst mit der Zeit sein Potenzial entwickelt, bzw. dann offenbart, wenn man es zu lesen versteht. Bilddokumente – deren ursprüngliche Funktion bereits erloschen ist – auf andere Weise zu lesen und zu interpretieren und damit ihr latentes Potenzial auszuschöpfen, ist zentraler Bestandteil meiner künstlerischen und bildarchäologischen Praxis geworden.
Anlässlich des Kolloquiums stelle ich im Dialog mit der Kunsthistorikerin Maren Lübbke-Tidow zwei bereits realisierte Projekte vor, um meine Arbeitsmethode zu veranschaulichen. „RAF – No Evidence“, das in Auszügen aus der Präsentation im Clubraum bereits bekannt ist, und „Inventarisierung der Macht. Die Berliner Mauer aus anderer Sicht“. Mit dem Ersten behandele ich eines der großen Traumata Westdeutschlands, basierend auf Bilddokumenten der Ermittlungsbehörden, während das Zweite „das“ prägendste Bauwerk der DDR thematisiert, das ich mit dem Bildmaterial der Grenzsoldaten bearbeite.
Die Zeit am WIKO nutze ich, um eine faszinierende Geschichte zum deutschen Nachkriegsstädtebau weiter in Richtung Umsetzungsreife zu entwickeln. Der Ausgangspunkt ist eine ursprünglich von der Bauverwaltung beauftragte vollständige bildliche Dokumentation eines später fast vollständig abgerissenen und neubebauten Stadtteils in Westberlin, der damals direkt an die Mauer grenzte. Es ist eine Erzählung über einen sehr disruptiven Ansatz im Städtebau, der sich wenig Gedanken über die sozialen Folgen machte. Das über 2000 Negative umfassende Bildkonvolut erinnert uns, in der von mir geplanten Bearbeitung, an einen historischen „Street View“ einer untergegangenen Stadt. Weitere Bildrecherchen in staatlichen Archiven wie bei der Berliner Polizei, dem Stasi-Unterlagen-Archiv, in Vor- und Nachlässen verschiedener Akteure der Zeit ergeben im Zusammenspiel ein viel komplexeres Bild als das streng erfassende Arbeitsmaterial der Planungsbehörden.
Aktuell beschäftigen mich Fragen nach der angemessenen Verflechtung des teilweise sehr heterogenen Materials, inhaltlich als auch ästhetisch. Belasse ich die Arbeit im Historischen oder implementiere ich auch ganz aktuelle Fragen, wie den Gentrifizierungsdruck aus den angrenzenden Altbaugebieten? Welche Rolle sollen dabei ggf. gegenwärtige Bilder spielen und wie könnten sie klug mit den Archivfunden interagieren? Wie verhindere ich, dass die Arbeit als Propaganda gegen den modernen Städtebau missverstanden wird? Wie müsste die Verwebung zwischen Fotografie und Text beschaffen sein, so dass sie sich gegenseitig verstärken und nicht nur nebeneinanderstehen?
Ab Herbst 2024 werde ich das Projekt mit der Schriftstellerin Annett Gröschner weiterzuführen, die ebenfalls schon intensiv zu diesem Thema recherchiert und geschrieben hat und mit der mich eine langjährige Arbeitsbeziehung verbindet.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Messmer, Arwed (Leipzig, 2023)
Messmer, Arwed (Leipzig, 2021)
Berlin, Fruchtstraße : am 27. März 1952/on March 27,1952
Messmer, Arwed (London, 2019)
Messmer, Arwed (Stuttgart, 2018)
Messmer, Arwed (Berlin, 2017)
Messmer, Arwed (Ostfildern, 2016)
The Wall Inventarisierung der Macht ; 2
Messmer, Arwed (Ostfildern, 2016)
Texts, typologies Inventarisierung der Macht ; 1