Marion Tiedtke
Professorin für Schauspiel und Ausbildungsdirektorin, Dramaturgin für Schauspiel und Oper
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Frankfurt am Main (HfMDK)
von September 2023 bis Februar 2024
Geboren 1962 in Köln, Deutschland
Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Freien Universität Berlin
Arbeitsvorhaben
Die Arbeit hinter dem Vorhang: Produktionsweisen des Theaters am Beispiel der Berliner Schaubühne in den Siebziger- und Achtzigerjahren (Arbeitstitel)
Das Theater befindet sich in den letzten zehn Jahren in einer permanenten Krise: Es soll seine öffentlichen Subventionen rechtfertigen, es produziert immer mehr, um seine Zuschauerzahlen zu halten, es legitimiert sich über Auslastung und Einnahmen. Wie im Hochdruckkessel haben sich Produktionszeiten verkürzt, die Zahl der zu spielenden Rollen für die Schauspielerinnen und Schauspieler extrem erhöht, die Aufgaben vervielfältigt.Die Zeit scheint lange vorbei zu sein, in der sich ein Ensemble noch vertiefen konnte in die großen Repertoirestücke, um über eine intensive Probenarbeit neue Aspekte in der Dramatik freizulegen oder gar große Autoren und Autorinnen kontinuierlich aufzubauen – wie Botho Strauß oder Peter Handke an der Berliner Schaubühne. Die Inszenierungen von Peter Stein, Klaus Michael Grüber und Luc Bondy setzten Maßstäbe. Hier wurden in langer Vorarbeit mit Experten, aber auch mit dem Ensemble (Schauspielerinnen und Schauspieler sowie dem gesamten künstlerischen Personal) Texte gelesen, studiert und diskutiert. Anhand der Protokolle der Berliner Schaubühne und durch eine Vielzahl unterschiedlicher Interviews mit wichtigen Schauspielerinnen und Schauspielern wie Peter Simonischek, Edith Clever, Udo Samel, Ernst Stötzner u. v. a. soll ein Sachbuch entstehen, das diese Arbeit rekonstruiert. Die Recherche als Blick zurück richtet zugleich den Blick nach vorne, um in Zukunft wieder nach anderen Kriterien der Theaterarbeit zu suchen als die der Auslastungszahlen und Einnahmen. Oftmals ist einer kulturaffinen Öffentlichkeit nicht bekannt, wie im Theater ein künstlerisches Programm entsteht, wie Proben ablaufen, Entscheidungs- und Produktionsprozesse sich gestalten. Die Monografie kann Einblick darin geben und zugleich die besondere Arbeitsweise der Schaubühne den heute üblichen Produktionsbedingungen gegenüberstellen.
Lektüreempfehlung
Tiedtke, Marion und Phil
ipp Schulte, Hg. Die Kunst der Bühne: Positionen des zeitgenössischen Theaters. Berlin: Theater der Zeit, 2011.
Tiedtke, Marion. „Einfach loslassen. Zu Luk Percevals Inszenierung ‚Mut und Gnade‘ am Schauspiel Frankfurt.“ In Arbeitsbuch 2019: Luk Perceval, herausgegeben von Thomas Irmer, 94–97. Berlin: Theater der Zeit, 2019.
—. „Fehlende Gewaltenteilung: Die Intendanten haben zu viel Macht, sagt die Dramaturgin Marion Tiedtke. Was können die Theater dagegen tun?“ Von Christine Dössel. Süddeutsche Zeitung, 12. April 2021.
Kolloquium, 12.02.2024
Theater und Demokratie. Produktionsweisen der Berliner Schaubühne in den siebziger und achtziger Jahren
Theater ist eine mehr als 2500 Jahre alte Kultur- und Kunstpraxis, die besonders in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert wesentlich zur Bildung einer Kulturnation beitrug, sodass wir bis heute das weltweit größte subventionierte Theatersystem entwickelt haben. Immer war und ist Theater als Kunstform gefährdet, von der Politik vereinnahmt zu werden und seine Funktion als kritischer Spiegel der Gesellschaft einzubüßen.
Mein Rechercheprojekt konzentriert sich auf das erfolgreichste Theater der BRD als junge Demokratie: Die Berliner Schaubühne. 1962 als ein vielbeachtetes Privattheater aus einem Studententheater hervorgegangen, formierte es sich 1970 neu mit einem eigenen Ensemble, das fast zwanzig Jahre Theatergeschichte schrieb. Eine Gruppe von professionellen Schauspielern und Theaterkünstlern stieg bewusst aus den subventionierten Stadt- und Staatstheatern aus und suchte nach einer demokratischen Praxis in der Kunst, die sich in Mitbestimmung und kollektiven Arbeitsweisen widerspiegeln sollte. Dabei wurden die Zustände der jungen Demokratie von diesem Ensemble kritisch reflektiert und Theater als Erkenntnisinstrument und kollektiver Erfahrungsraum genutzt. Fünfzig Jahre später: In der Zeit der Corona-Pandemie werden verstärkt Stimmen im Theater laut, die erneut den Machtmissbrauch und die hierarchischen Strukturen der öffentlich geförderten Häuser anprangern. Man sucht nach neuen Formen der Partizipation und verlangt strukturelle Veränderung. Grund genug, noch einmal zurück zu schauen auf die Erfahrungen der Berliner Schaubühne.
Während die Theaterkritik Aufführungen kritisch beschreibt, die Theaterwissenschaft Stücke und Regiepositionen analysiert, möchte ich auf das Praxiswissen eingehen: Über 7000 archivierte Seiten Protokolle sind ein außergewöhnliches Zeugnis der Arbeits- und Organisationsstruktur dieses Theaters. Ich habe mich in den letzten Monaten vor allem mit den ersten beiden Jahren dieser Neugründung „in größtmöglicher Selbstbestimmung“ beschäftigt und zugleich viele Gespräche mit Mitgliedern der Schaubühne aus den siebziger und achtziger Jahren geführt. In meiner Präsentation möchte ich eine Matrix der Theaterarbeit freilegen, die am Ende vielleicht zeigen kann, welche Art von demokratischer Praxis das Ensemble stärkt. Ergänzt durch filmische Dokumentationen entsteht eine Zeitreise in die Vergangenheit der Berliner Schaubühne, die mit Fragen zur gegenwärtigen Situation des Theaters endet.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Tiedtke, Marion (Berlin, 2023)
Tiedtke, Marion (München, 2021)
"Wenn Einzelne etwas sagen, kann man das leicht abtun"
Tiedtke, Marion (Frankfurt, 2020)
Demokratie, Frieden, Wohlstand : eine fragile Gleichung
Tiedtke, Marion (Frankfurt am Main, 2020)
Stimmen einer Stadt : Monodramen für Frankfurt
Tiedtke, Marion (Berlin, 2019)
Einfach loslassen : zu Luk Percevals Inszenierung "Mut und Gnade" am Schauspiel Frankfurt
Tiedtke, Marion (Berlin, 2011)
Die Kunst der Bühne : Positionen des zeitgenössischen Theaters Recherchen ; 81