Kolloquienreihe zur "Finalität Europas"
Der Entwurf des Konvents für eine neue Verfassung der EU ist nicht beschlossen worden, die Probleme, auf die die neuen Regeln reagieren sollten, bleiben. Vor allem eine räumlich erweiterte und gegenständlich vertiefte Union benötigt eine geeignete institutionelle Ordnung.
Die Entscheidungen darüber hängen von der Antwort auf tiefergreifende Vorfragen ab. Gemeint sind die Fragen nach den Zielen, die die europäische Integration leiten, und der Gestalt, die sie am Ende haben soll, also die Frage nach der "Finalität Europas".
Das Interesse an diesem Zielpunkt weist über die eigentliche Verfassungsdiskussion hinaus: Der mit dem Konvent berührte europäische Einigungsprozess ist als ein gesellschaftlicher Fundamentalvorgang zu verstehen, der die Frage nach der Zukunft politischer, kultureller, und sozialer Identitäten und Grenzziehungen in Europa sowie die nach den sich daraus ergebenden Konflikten neu aufwirft. Gleichzeitig geht es aber auch um die "Außenverhältnisse" Europas, insbesondere die Sicherung der gesellschaftlichen Standards in einer globalisierten Welt, wie um die Verantwortung gegenüber den Entwicklungsländern.
Zusammen mit Peter Glotz und Karl Lamers hat Dieter Grimm eine interdisziplinäre Kolloquien-Reihe des Wissenschaftskollegs initiiert, die die europäische Verfassungsdiskussion begleitet und sich mit der "Finalität Europas" beschäftigt. Dabei kommen Wissenschaftler und Politiker aus verschiedenen Ländern zusammen, damit jeder für seinen Verantwortungsbereich von den Perspektiven des anderen lernen kann.
Das erste Kolloquium in der Villa Vigoni war folgenden drei Fragenkomplexen gewidmet:
1. Die Rolle Europas in der Welt
Wenn Europa einen "Beitrag zu einer besseren Welt" (Lamers) leisten soll, ist auch das Verhältnis zu den Nachbarn und zur Dritten Welt zu bedenken. Insbesondere muss eine Einstellung zu der Verantwortlichkeit Europas für die Konfliktregulierung in der Welt gefunden werden. Es ist nötig, Kriterien für militärisches Einschreiten in anderen Regionen zu finden. Die Frage der Wertebasis der Europäischen Union fließt dabei zwangsläufig in die Debatte ein.
Eine Haltung ist aber auch hinsichtlich der angrenzenden Staaten zu formulieren, die nur teilweise zu Europa gehören oder besonders enge Beziehungen mit Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben, also vor allem die Türkei, Russland, Israel und Nordafrika.
2. Die Verfassungsproblematik
Die Frage nach einer Verfassung oder einem Vertrag als Rechtsgrundlage der Europäischen Union ist von weitreichender Bedeutung und setzt die Entscheidung, ob die Europäische Union die Form eines Staatenverbunds beibehält oder zu einem (Bundes-)Staat werden soll, voraus. Die Frage nach einer erhofften Identitätsstiftung und Integrationswirkung einer Verfassung drängt sich auf, ebenso wie die nach den Auswirkungen des Konstitutionalisierungsprozesses für die Bewältigung des künftig anfallenden Reformbedarfs der Union ("von Gipfel zu Gipfel").
3. Das Verhältnis von Markt und Sozialstaatlichkeit
Sozialstaatlichkeit ist ein zentrales Merkmal dessen, was man als Modell Europa ansehen kann. Gleichzeitig sind die Sozialsysteme in den einzelnen Staaten so unterschiedlich gestaltet, dass der Vereinheitlichung gewichtige Grenzen gesetzt sind. Die Frage, wie dieser Aspekt europäischer Eigenart durch die EU als solche stabilisiert werden kann, stellt deshalb eine Reihe von grundsätzlichen Fragen der verfassungsrechtlichen Gestaltung Europas. Vor allem die Aspekte des Verhältnisses von Innen und Außen, von Einheit und Vielfalt, und das Problem von Sozialstaatlichkeit und der Rolle des Staates im Verhältnis zum Dritten Sektor und zum privatwirtschaftlichen Bereich sind zu berücksichtigen.
Die Diskussion dieser Themen führte zu einem weiteren Treffen Anfang Januar 2003 auf dem Petersberg bei Bonn, das vom WDR aufgezeichnet und über den Fernsehsender Phoenix ausgestrahlt wurde.
Ein weiteres Gespräch hat auf Anregung einiger amerikanischen Fellows am 17. Juli 2003 zum Thema "Europa und Amerika nach dem Irak-Krieg" im Wissenschaftskolleg stattgefunden. Dieser Krieg hat zu tiefen Meinungsverschiedenheiten geführt, zwischen der US-Regierung und dem alten Europa, zwischen den europäischen Ländern, zwischen Regierungen, Intellektuellen und veröffentlichter Meinung.
Ein Teil dieser Diskussion wurde wiederum von Phoenix, diesmal in Zusammenarbeit mit dem ARD-Hauptstadtstudio, aufgezeichnet und am 23. Juli um 14.45 Uhr auf Phoenix ausgestrahlt.
Am 13. Januar 2004 fand eine erneute Diskussion, diesmal zum Thema "Kerneuropa" statt, die am 17. Januar um 22.15 Uhr und am 18. Januar um 17.00 Uhr auf Phoenix ausgestrahlt wurde. In der Diskussion ging es um folgende Fragen:
Der europäische Verfassungsvertrag ist vorerst gescheitert. Wann der nächste Anlauf unternommen wird, lässt sich noch nicht absehen. Um so mehr tritt die Frage nach einem "Kerneuropa" mit beschleunigter Integration wieder in den Vordergrund. Der deutsch-französischen Zusammenarbeit kommt dabei besondere Bedeutung zu. Präsident Chirac spricht mit den anderen europäischen Regierungschefs auch im Namen des Bundeskanzlers Schröder, ein symbolischer Akt in der Debatte um die neuen Strukturen in der EU. Beide demonstrieren damit, wie eng die Abstimmung zwischen beiden Ländern ist. Manche Mitgliedstaaten setzen ihre Hoffnung auf die deutsch-französische Initiative, andere fürchten sie. Sollte der Kerneuropa - Weg beschritten werden? Bringt er die europäische Integration voran oder sprengt er die Union? Stärkt oder schwächt er Europas Rolle in der Weltpolitik?
Die Teilnehmer der Gespräche waren
(in unterschiedlicher Zusammensetzung):
- Bruce A. Ackerman, Professor, Yale Law School
- Elmar Brok, Mitglied im Europäischen Parlament, Mitglied im Europäischen Konvent
- Yehuda Elkana, Rektor der Central European University, Budapest
- Peter Glotz, Professor, Direktor des MBA "Media and Communication" der Universität St. Gallen
- Dieter Grimm, Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin, ehem. Richter des BVerfg
- Mats Hellström, Schwedischer Botschafter a.D.
- Jacqueline Hénard, Journalistin, Guest Fellow am Centre d'Etudes et des Recherches Internationales (CERI), Paris
- Adrienne Héritier, European University Institute, Florenz
- Stephen Holmes, Professor, New York Law School
- Jürgen Kocka, Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
- Stephen Krasner, Professor, Stanford University
- Karl Lamers, Mitglied des Deutschen Bundestages a.D.
- Joachim Nettelbeck, Sekretär des Wissenschaftskollegs zu Berlin
- Claus Offe, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin
- Tommaso Padoa-Schioppa, Mitglied der Europäischen Zentralbank, Frankfurt/Main
- Fritz Pleitgen, Intendant des Westdeutschen Rundfunks, Köln
- Andrei Plesu, Rektor des New Europe College, Bukarest
- Fritz W. Scharpf, em. Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
- Ezra Suleiman, Professor, Institut d'Études Politiques, Paris, Direktor des European Studies Program, Princeton University
- Alain Supiot, Maison des Sciences de l'Homme, Nantes
Die Reihe wurde von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius unterstützt.