Ausgabe 10 / März 2015
Brief aus Berlin
Das Kolleg
Nicht irgendein Kolleg, sondern das Kolleg. Strömen im September die Fellows von überall her in den Grunewald, reiben sie sich verwundert die Augen angesichts der Annehmlichkeiten, die zu ihrem Genuß bereitstehen. Dazu gehört natürlich der fabelhaft findige Bibliotheksservice, wahrlich ein superbes Geschenk, das es dem Fellow leichtmacht, sich in ein Thema einzubohren, umgeben und flankiert von turmhohen Materialsammlungen, die wieselflink aus allen Ecken und Enden der Stadt beigeschafft werden. Vergessen sei auch nicht das opulente und zugleich gediegene Mittagsmahl, das gemeinhin Punkt dreizehn Uhr genossen werden darf.
Alles gut, alles schön, alles wunderbar.
Über die geheimnisvolle innere Verfaßtheit des Kollegs, seine innerstimmliche Glühfähigkeit, wissen die Außenstehenden und temporären Besucher allerdings wenig. Sie ist Sache der Menschen, die hier ständig arbeiten, eine Aufgabe, die zugleich Hingabe erfordert, nur hie und da findet oder vielmehr fühlt sich ein Fellow dazu aufgerufen, miteinzustimmen, um den höheren Glühbetrieb am Laufen zu halten.
Einstimmen, das Wort wurde mit Bedacht gewählt. Denn wochentags, Punkt zwölf Uhr, emaniert ein sonderbarer Singsang, begleitet von Klöpfeln, Schlegeln, Ruckeln, Quäkeln, spizzikatohaftem Hochzischeln und Piepsen aus der Küche im Untergeschoß und von verschiedenen Bürogeräten in den Etagen der Villa Wallotstraße 19. Es braucht allerdings sehr feine Ohren, um diesen Singsang und seine rhythmisierenden Begleitgeräusche zu vernehmen. Nur die extrem feinhörigen Komponisten und Musiker sind darauf geeicht und laben sich an dem, was die Sinneshärchen der inneren Ohrgehäuse ihnen melden. Was die im Singsang begriffenen Menschen angeht, so erkennt man sie nur an ihren um eine winzige Wenigkeit verschobenenen Mundbewegungen, die sich mit dem, was sie an normaler Konversation gerade im Begriff sind hervorzubringen, nicht ganz vertragen. Ein scharfer Beobachter kann diesen Mündern abmerken, daß etwas Ungeheuerliches im Gange ist. Auch hebt sich den Leuten ganz leicht der Brustkorb, und sie sitzen eine Spur aufrechter in ihren Stühlen, eilen etwas beschwingter durch die Flure, klettern steiglustiger treppauf treppab als gewöhnlich.
Fangen wir mit dem Rektor an. Sind zufällig Besucher da, merken sie vielleicht, daß der Rektor ihnen ein klein wenig größer, ein klein wenig erhabener vorkommt, daß er gleichsam ein klein wenig pneumatisch gelüpft im Sessel vor ihnen sitzt. Und der Mann, den sie gemeinhin für trocken und sachlich halten, bekommt um den Mund so ein aus dem Universum herbeigeflogenes Weißnichtwas, welches sie leicht irritiert, ohne daß sie anzugeben wüßten warum. Sie wissen natürlich nicht, daß der Rektor gerade in seinem inwendigen dreiminütigen Singsang begriffen ist, mit dem der ganze Zauber (Spuk wollen wir ihn nicht nennen, denn er dient hochgestimmten Zwecken) Punkt zwölf Uhr beginnt. Die Angestellten folgen dem Vorsänger drei Millisekunden später, alle auf einen Schlag, wo immer sie sich gerade befinden mögen.
Natürlich handelt es sich um eine hauseigene Hymne, die allerdings nicht zum Inhalt hat, die Schöpfung zur Gänze, gerade mal so lala und obenhin zu preisen; sie widmet sich vielmehr präzise dem Höhererseits erfolgten Schöpfungsbefehl, dieses eine, besondere Kolleg zu gründen und zu erhalten, und keinesfalls ein anderes, womöglich gleichwertiges, anderswo. Ob die dem inneren Singsang hingegebenen Menschen merken, was sie gerade tun, weiß man nicht so genau, vielleicht wissen sie es selbst nicht. Natürlich beteiligen sich die vormaligen Rektoren in ihren Wiko-Zimmern ebenso daran wie die beiden Herren, die im Dunkelkämmerchen zu ebener Erde ihre Gerätschaften pflegen. Von der Dame am Empfang wird die Hymne besonders schwungvoll gesungen. Und natürlich, wie könnte es anders sein, auch die Bibliothekare im Haus gegenüber enthalten sich nicht des Gesanges, sie fallen sogar besonders melodiös mit kanonhaftem Dreiklang darin ein.
Nun, die Musiker und Komponisten, die das Haus dankenswerterweise bevölkern, hören natürlich schärfer hin als die den Wissenschaften ergebenen Fellows, sie fühlen das verschwiegene Gebraus, das anhebt und nach drei Minuten auf ein geheimes Kommando hin wieder verstummt, fühlen den Aufschwung und das brüske Ende der geheimen Aufführung in ihren unwillkürlich aufzuckenden Fingerspitzen. Ohne in Worte fassen zu können, wovon nun genau, profitieren sie davon. Die Finger der Musizierenden geschmeidigen sich, werden biegsamer, hupflustiger, scheinen den an sie drangehängten Leibern davonrennen zu wollen; müssen sie ihre Instrumente beatmen, entströmt ihnen die Luft mit nie gekannter Kraft. Die Komponisten wiederum werden zu ausgreifenderen Tongebirgen verlockt, natürlich wissen sie nicht, warumwozuweshalb, denn es geht ja um ein von Hoher Warte in Schwung gebrachtes Schwindelunternehmen, das Köpfe und Herzen in Bewegung setzt, auf intrikaten Wegen versteht sich – hinauf, hinauf, immerzu hoch und höher hinauf! Einem Komponisten schwirrt dann minutenlang der Kopf, als hätte das Weltall ihm persönlich den Befehl erteilt, sich mit ihm zu befassen.
Mag sein, daß der eine oder andere Biologe, der sich in Gedanken über eine Mikrobe beugt, glaubt, diese lispele ihm unhörbar etwas zu. Mag sein, daß ein Physiker wie elektrisiert vom Sofa hochfährt, weil er vermeint, das Universum habe ihm geantwortet. Vielleicht wird der eine oder andere Philosoph von einem erhellenden Geistesblitz durchzuckt, der ihn aber sofort wieder flieht, sobald er sich daran macht, diesen schriftlich zu fixieren, weil er in das tumultuarische Gebiet des Religiösen fällt und nicht in seins.
Vergessen wir nicht die Küche. Da wird plötzlich herzhafter in den Suppen gerührt, da wird zackzack! Gemüse zum geheimen Takt der Hymne geschnitten, da wird munter drauflos geschlagen, gebeselt, gehäckselt, geklappert, gewischt, gleichsam das rhythmische Unterfutter der Hymne bereitgestellt.
Herrjemine, und wovon handelt dieses sagenumwobene Liedchen denn nun genau? Wer wird da gelobt, bezirzt, aus inwendigen Leibeskräften besungen? Auch das ist geheim. Nur so viel sei verraten: die Hymne zielt hoch. Fußballerhaft könnte es heißen: ein Steilpaß in Richtung Schöpfer mit der Bitte – das Kolleg, laß es weiterhin blühen und gedeihen!
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Fotos: © Maurice Weiss