Ausgabe 10 / Juni 2015
„Süß ist das neue Schön“
von Hans-Joachim Neubauer
Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai forscht über ästhetische Urteile im Alltag
„Was das wohl sein soll?“, fragt Sianne Ngai. Interessiert betrachtet sie das kleine Ding auf ihrem Handteller. „Es sieht so aus, als solle es etwas Nützliches sein, im Wesentlichen ist es aber ein apfelartig geformtes Ding aus Plastik, in Pink. Oben ist eine Plastikblume in Gelb, Pink und Grün, und sie bewegt sich.“ Tatsächlich winkt die Blume, angetrieben durch eine Fotozelle, mit ihren Blättern. „Ich weiß nicht, wozu das dienen soll“, überlegt Sianne, „vielleicht will es ja bloß unsere Aufmerksamkeit erregen. Es schaut uns an und fragt: ,Magst du mich?‘ Extrem irritierend!“ Sie schaut sich fröhlich um. Gibt’s hier noch mehr Gimmicks?
Bei unserem ersten Treffen im Wissenschaftskolleg erzählte Sianne Ngai von all den kleinen Dingen, die überall auftauchen, wo sich Touristen zeigen, überall, wo es nett und lustig zugehen soll. Wo also interviewt man eine moderne Intellektuelle, die so seltsame Dinge wie Gadgets und Gimmicks erforscht? Im Technik-Museum? Oder im DDR-Museum am Dom? Am Ende entschieden wir uns für die Mall of Berlin am Leipziger Platz, ein Symbol für den Triumph des Konsumismus über die Stadtplanung. A really gimmicky place!
Auf dem Weg dorthin plaudern wir ein wenig übers Rauchen in Berlin und über Clubs, in denen sie war. Und über Dewey, ihren Hund. Der ist mitgekommen aus Stanford nach Berlin. Es regnet, also rein ins Konsumparadies. Ngai schaut sich um. „It’s so American“, ruft sie und lacht. Welcome home!
Das war vor zehn Minuten. Vorsichtig, als ginge es um ein Kleinod aus Meißener Porzellan, stellt Ngai den surrealen Plastikapfel zurück auf seinen Platz. Die Blume winkt noch ein paarmal ihr „Magst du mich?“, dann gibt sie auf und lässt die Blätter hängen. „Bei uns in Amerika gibt’s zum Beispiel Bananenschneidemaschinen“, sagt Ngai und lässt ihren Blick über großäugige Stofftiere, heitere Schlüsselanhänger und fröhlich bedruckte Kaffeetassen schweifen, für die eine der besten Adressen Berlins bebaut wurde. „Bananenschneidemaschinen. Habt ihr sowas hier auch?“
Gimmicks locken mit einem Versprechen. Etwa dem, Arbeit zu sparen. Wozu sonst bräuchte man Bananenschneidemaschinen? „Gimmicks, das sind Dinge oder Techniken, die sich durchschauen lassen. Sie zeigen, wie sie tun, was sie tun.“ Sie machen die Logik, wie sie den intendierten Effekt produzieren, transparent, hätte ein berühmter Berliner Flaneur und Philosoph wohl gesagt, hätte er je die surreale Blume des blöden Winkens gesehen. Gimmicks lösen zwiespältige Gefühle aus: Man bemerkt sie mit Sympathie, freut sich kurz an der in ihnen präsentierten überraschenden Idee. Zugleich fühlt man sich abgestoßen; sie mögen zwar, rein theoretisch, Zeit und Arbeit sparen, zugleich aber sind sie billig. Sie sind technoide Mahnmale des Überflusses und des Überflüssigen zugleich. Niemand braucht sie wirklich. Damit das Billige billig ist, wird es billig produziert. Dazu braucht es Niedriglöhne und Maschinen. Billige Dinge, billige Menschen, winkende Blumen. „Und je billiger Maschinen sind, die wir als Gimmicks kaufen können, desto sicherer ist, dass sie von Maschinen gebaut werden, die billiger produzieren als Menschen.“
Our Aesthetic Categories – zany, cute, interesting hat Sianne Ngai ihr zweites Buch genannt, „Unsere ästhetischen Kategorien: irre, süß, interessant“. Nach langem Suchen finden wir in einem Eiscafé endlich einen ruhigen Platz. Malls machen müde, zumal wenn sie so viel Irres, Süßes, Interessantes bergen wie diese. „Cute ist ein Weg, jemanden zu infantilisieren, zu verniedlichen“, sagt Ngai, „cute antwortet auf ästhetische Machtlosigkeit!“ Was ist daran so bemerkenswert? Es muss doch auch Worte für das Niedliche, Süße, Harmlose geben. Ja, sagt Sianne Ngai, aber „süß“ ist nicht irgendein Wort, es wird inflationär gebraucht, es ist überall zu lesen und zu hören, und: „Cute hat auch eine dunkle Seite. Je mehr Macht wir über etwas ,Niedliches‘ haben, desto ,niedlicher‘ scheint es uns.“ Süßes lässt sich verschlingen, „you simply want to devour it“, sagt Ngai. Am Nachbartisch sitzt eine Frau mit dunkler Jacke und spricht leise mit ihrem Begleiter; ab und an schaut sie herüber zu uns, nickt, lächelt wissend.
Ngai meint es ernst: Tatsächlich verhandele cute den Aspekt der Konsumption, des Verbrauchs einer Ware. Damit kommt die Genderfrage ins Spiel: Schon Edmund Burke bringe das Schöne mit dem Weiblichen zusammen, mit Macht- und Sprachlosigkeit, meint Ngai. „Cuteness is our new beauty“, sagt sie. Süß ist das neue Schön. Erst vor dem Hintergrund der Machtfrage entfaltet sich die Bedeutung von cute: Es ist eine Strategie, das Machtlose und Überwindbare ästhetisch anziehend zu machen. Wer kennt sie nicht, all die Stofftiere an Rucksäcken erwachsener Männer und Frauen, die „lustigen“ Aufkleber auf Vorstadtzweitautos, die augenzwinkernd „ironisch“ daherkommenden Chef-Witz-Sprüche auf Bürotassen? Das Süße und Harmlose kolportiert, dass man harmlos genug ist, sich mit infantilen Harmlosigkeiten zu umgeben. Wer einen süßen Knuddelbär als Rucksack-Trophäe präsentiert, muss selber süß sein. Doch wie einst die Gremlins dehnen die Kuscheltiere ihr Einflussgebiet aus. Siegreich baumeln sie an Handys; als „lustig“ grinsende Emoticons haben sie die elektronische Kommunikation erobert – das nackte Grauen.
Ob sie selbst schon einmal als cute oder zany bezeichnet wurde? „Gute Frage“, sagt sie und lacht wieder ihr helles Lachen, „als Kind hatte ich eine große Brille und war ziemlich klein, aber süß fand mich wohl niemand.“ Sie wollte auch gar nicht süß sein, erinnert sie sich, und wäre es doch immer wieder auch gerne gewesen, schließlich bedeutet Süßsein auch eine Art von Integration – nämlich in ein abgesichertes ästhetisches Schema. Widersprüchliche Gefühle. „Als Frau, als Asiatin, die in den USA aufwuchs, hatte ich es immer wieder mit Zuschreibungen wie cute zu tun“, sagt Ngai und erzählt von dem „low level“-Rassismus, den sie schon als Kind kennenlernte. Für sie wurde race früher zu einem zentralen Begriff als gender, sagt sie. 1971 geboren, wuchs sie mit zwei Schwestern in Virginia auf. Ihre Eltern, beide chinesische Einwanderer, hatten einander in Chicago kennengelernt, der Vater Mathematiker, die Mutter eine der wenigen promovierten Chemikerinnen ihrer Generation in den Vereinigten Staaten.
„Ich bin eine Frau aus dem Süden.“ Für Ngai beginnt der US-amerikanische Süden in Baltimore. Es war nicht weit nach Washington, D.C. mit seiner ethnischen Vielfalt. „Es gab halt rassistische Strukturen“, sagt Ngai, doch der gewöhnliche, alltägliche Rassismus, den sie kennenlernte, war „nicht so schlimm“, man wurde nicht physisch bedroht. Dennoch: „Das hat mich schon ein wenig geprägt.“ Es sind widersprüchliche Gefühle, die das Mädchen Sianne erlebt. Widersprüchlich sind auch die Konzepte, die die Forscherin heute mit cute, zany und interesting identifiziert: Cute erzählt von Zärtlichkeit und Aggression; interesting transportiert intellektuelle Beteiligung und zugleich ästhetische Indifferenz bis hin zur Langeweile, zany spricht von Freude und Stress.
Interesting gehört zu den fast automatisch geäußerten Reaktionen, wenn es darum geht, zu einem Faktum oder einem Ereignis Stellung zu beziehen. Anders als cute hält es das ästhetische Urteil zurück. Oft dient es auch dazu, Unsicherheit, Unklarheit auszudrücken. Wer interesting sagt, meint: Gib mir Zeit, bis ich mir ein Urteil gebildet habe. „Interessant“ ist das Eselsohr der Alltagskommunikation, ein Lesezeichen des Sozialen – und eine Einladung zum Austausch. Das Wort provoziert die Frage nach dem Warum. Wieso ist etwas interessant? Was ist so besonders? Aus einer Bemerkung wird ein Gespräch. Interesting ist auch ein Beispiel für Bronislaw Malinowskis und Roman Jakobsons „phatische Kommunion“ (phatic communion), bei der durch die Rede „Bande der Gemeinsamkeit“ geschaffen werden. Sprechen wird zum sozialen Akt.
Die Informationsinformation interesting ist eine Handlungsaufforderung. Wie sagt Kant? „Interesse wird das Wohlgefallen genannt, das wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden.“ Zu diesem Wohlgefallen gehört eben immer auch ein „Begehrungsvermögen“, das heißt: Interesse bedeutet Aktion, mit ihm beginnt der Diskurs. Das Geschmacksurteil über das Schöne dagegen beruht für Kant auf einem „reinen uninteressierten Wohlgefallen“. Cute ist das neue Schön, und interesting meint: Frag mich was!
Die Frau am Nebentisch schickt wieder ein verschwörerisches Lächeln herüber. Irritierend. Themenwechsel: Warum heißt Dewey eigentlich Dewey? „Wegen ,Dewey defeats Truman‘“, erklärt Ngai. Mit diesen drei Worten meldete die Chicago Daily Tribune im November 1948 voreilig den vermeintlichen Wahlsieg des Republikaners Thomas E. Dewey über Harry S. Truman. Kurz darauf zeigte sich der frisch Gewählte den Fotografen – und präsentierte lachend die Zeitung mit der legendären Schlagzeile. So ist Sianne Ngais Hund eine vierbeinige Erinnerung an die Freuden des Fehlerfindens – und ein Beleg gelebter Ironie.
Und wovon handelt, was meint zany? Das amerikanische Wort für „irre“ hebt ab auf den Produktionsprozess der Dinge. Wie irre grinst die Ware den Kunden an, hysterisch, überkandidelt und reizstark kommt sie daher und erzählt von den hektischen Bedingungen ihrer Herstellung. Der Stress der Arbeit setzt sich fort im stressigen Tanz der Dinge in den analogen und digitalen Warenhäusern. Die Mall, in der wir sitzen, ist voller Signale des konsumptorischen Irrsinns: zerrissene Jeans und T-Shirts mit schrillen Botschaften, polyfunktional überfrachtete Zeitmesser und nicht zuletzt all die Hol-dir-dies-, Kauf-jenes-, Sei-du-selbst-Aufrufe künden von der Anstrengung, derer es bedarf, Dinge herzustellen, damit sie bemerkt, gekauft, verbraucht werden. Im Überbietungskampf der Reize findet auch das Teure seinen Platz: Wo alles manisch, hyperaktiv und dauer-happy daherkommt, lässt das dezente Design einer Nobeluhr ahnen, wie anstrengend es ist, nicht angestrengt zu sein.
Das hat Folgen für die Produktion. „In der postindustriellen Gegenwart bringen immer mehr Unternehmen ihren Mitarbeitern bei, ihre Arbeit als Spaß zu betrachten“, erklärt Ngai. Privat- und Arbeitsleben durchdringen einander, besonders im Dienstleistungssektor. „Ob im Restaurant, in einer Bank oder im Flugzeug: Dienstleister arbeiten dafür, dass wir uns wohlfühlen.“ Und sehr viele dieser stets flexiblen Atmo-Worker sind Frauen: Sie lächeln, schaffen Atmosphäre, sorgen für entspanntes Klima. Es ist ein Knochenjob, die Ware Gefühle zu produzieren. Arbeit wird emotionalisiert; auch von dieser Transformation erzählt das Wort zany.
Schön erhaben, hässlich – Sianne Ngai ist dabei, den Kanon der ästhetischen Kategorien zu erweitern. Oft wird die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin gefragt, ob es ihr Spaß mache, Worte wie zany, cute und interesting zu erforschen, ob sie Gimmicks eigentlich mag. „Keiner sagt, dass man auch lieben muss, was man erforscht“, meint Ngai, „ich untersuche diese Worte und Sachen und das ist es dann auch.“ Gibt es auch ein Leben ohne Gimmicks? Wieder lacht sie, dann muss sie los, Dewey wartet. Alles Gute, bis demnächst!
Jetzt schlägt die Stunde der Frau vom Nebentisch: „Entschuldigung, Sie haben ja dieses Interview – also Sie haben ja mit dieser Frau da geredet, Sie wissen schon.“ – „Ja? Und?“ – „Also, ich glaub, ich kenn die. Die ist doch so ein Model! Oder ist sie Schauspielerin? Die kommt aus den Staaten, oder?“ – „Wie haben Sie das nur erkannt?“ – „Tja, mir macht so leicht keiner was vor“, sagt die Frau und lehnt sich zurück, „ein Star in unserer Mall. Ist ja irre!“
Mehr zu: Sianne Ngai
Fotos: © Maurice Weiss