Ausgabe 12 / Juli 2017
Brief aus Berlin
Offenen Ohres auf dem Weg nach Grunewald
Es heißt, in Berlin ist es einfach, zu Hause zu bleiben: seinen Kiez nie zu verlassen. Viele Indizien sprechen dafür. Ich habe in der Tat Freunde, die ich nie außerhalb ihrer näheren Umgebung gesehen habe. Sie schaffen es, dieselben Restaurants, Bars, Galerien und Parks im Wandel der Jahreszeiten attraktiv erscheinen zu lassen und mich zu ihnen hinzulocken. Ich vermute, dass ich ihnen dabei helfe, aus ihrem Zuhause einen Mikrokosmos der größeren Stadt zu machen. Für andere meiner Bekannten ist Berlin eher eine Zäsur im schnellen Tempo der weiten Welt. Wenn sie hier sind, verschanzen sie sich in ihrem Kiez und laden mich in ihre Wohnzimmer ein. Wir bereiten Abendessen aus dem zu, was da ist, und achten darauf, dass wir dabei alle Lebensmittel aufbrauchen, die schlecht werden könnten, denn die übrige Zeit sind sie woanders: Sie lehren an Universitäten auf dem ganzen europäischen Kontinent oder noch weiter weg, jenseits von Ozeanen und Meeren. Sie reisen als Journalistinnen und arbeiten auf der ganzen Welt als Aktivisten. Sie lassen sich in Berlin nieder, um einen Platz zum Verschnaufen zu haben. Wenn ich vorbeikomme, bin ich Teil des Projekts – meines und ihres –, das Stadtleben und das Leben eines Reisenden menschlich zu machen.
Ich schätze es, mir durch meine Bekannten nach und nach diese verschiedenen Gebiete von Berlin anzueignen. Aber dieses kiezfixierte Imaginäre war nie meine bevorzugte Methode, mich in Berlin zurechtzufinden. Seit ich aufs College ging, und während der Jahre, in denen ich Wissenschaftlerin wurde, habe ich beträchtliche Zeit in der Stadt verbracht. Dieser Zwischenaufenthalt am Wissenschaftskolleg wird der längste gewesen sein, aber die anderen haben eine große Rolle dabei gespielt, mich zu orientieren. Und mich dazu gebracht, neue Dinge und Menschen kennenzulernen. Ich bin hergekommen, um zu forschen, zu arbeiten, wegen der Liebe, der Familie. Um zu hören – wegen Musik.
Berlin war für mich immer ein Ort der Abenteuer, ein Ort, der mich zum Durchqueren auffordert. Ich werde rot, wenn ich daran denke, wie ich dies beurteilt habe, als ich eine ausländische Studentin vor dem Vordiplom war und die U-Bahn zwischen Mitte und Dahlem nahm. Damals war ich eine leidenschaftliche Konzertbesucherin und ich erinnere mich noch, dass ich einmal 23 Konzerte und Opern in einem Monat besuchte, während ich selbst an vier Konzerten mitwirkte. (Es war ein besonders dunkler, kalter und entfremdeter Januar.) Später, als ich Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität studierte, hörte ich die Stadt anders. Die Staatsbibliothek Unter den Linden war eine Baustelle, deshalb ging ich für konzentriertes Arbeiten von meiner Wohnung in Prenzlauer Berg in die Musikbibliothek der Humboldt-Universität und las und las. Das Gebäude, in dem sie sich befindet, liegt gegenüber dem Pergamonmuseum, und ich nahm die Gegenwart dieses Denkmals als Drehscheibe für Touristen intensiv wahr. Viele Nutzer der Bibliothek öffneten Fenster, um die Raumtemperatur zu regulieren und frische Luft hereinzulassen. Diese Routinemaßnahme veränderte die Stille und das abgeschiedene Zusammensitzen mit Wörtern und Gedanken: Ich konnte Straßengeräusche hören und lernte allmählich das Repertoire sowohl der fantastischen als auch der enervierenden Straßenmusiker kennen, die den Eingang flankierten. Selbst jetzt noch, wenn ich auf der Museumsinsel spazieren gehe, horche ich nach den gleichen Musikern mit Erhu, Akkordeon oder Synthesizer, obwohl sie wahrscheinlich längst weitergezogen sind oder dazu gedrängt wurden.
In der Bibliothek hockend, begriff ich, dass dieser akustische Voyeurismus in Berlin normal war, wo das Durch-Wände-Hören jede Menge Beiklänge in der jüngsten Vergangenheit hatte. Natürlich hatte die Stasi mitgehört, hatte Wohnungen verwanzt und Telefonleitungen angezapft. In diesem geschichtlichen Kontext wurde die politische Bedeutung von Wolf Biermanns Album Chausseestrasse 131, dem Meilenstein von 1968, geschaffen, sowohl was Musik als auch was Soundeffekte betraf. Der abtrünnige Liedermacher singt derb: „Die hab’ ich satt!“, schwatzt satirisch über die dumme Realität der DDR und erzählt ernste „Deutschlandmärchen“ über die Gefahren des Mauerüberquerens, während er auf seiner Akustikgitarre klampft. Die Platte bietet aber einen weiteren Ausblick auf Berlin, denn sie wurde gepresst, als Biermann, der als Künstler auf der schwarzen Liste stand, keinen Zugang zu einem professionellen Tonstudio hatte. Stattdessen hören wir ihn bei der Aufnahme zuhause (an der Adresse, die dem Album seinen Titel gab). Ein ungerichtetes Mikrofon erfasst Straßengeräusche: fahrende Straßenbahnen, vorbeisausende Autos, im Wind Schepperndes und eine Menge unidentifizierbare Geräusche, die – für mich – nie wie Stimmen klangen. Als die M10 um die Ecke vor der Bibliothek kurvte, erlaubte ich meinen Gedanken, mir Streiche zu spielen, und hörte Biermanns Lieder als eine Art roter Faden.
Ich empfand meine eigenen neuen Streifzüge an Orte der Populärmusik und in die experimentelle Musikszene auch als eine Art von grenzübertretendem Zuhören. Ich dachte an das berühmt-berüchtigte Konzert von David Bowie 1987, mit der Berliner Mauer als hintere Bühnengrenze. Es heißt, dass er laut genug spielte, sodass die Menschenmenge, die sich an der anderen Seite der Grenze zusammendrängte, ihm zuhören konnte, wie er die zentrale Aussage von „Heroes“ verkündete: „We can be heroes just for one day.“ Bowie brachte Berlin in dem Titel „Neukölln“ auf andere Art zum Erklingen (ebenfalls vom 1977er Album Heroes). Durchgehend klagt der Sänger auf diesem Instrumentalstück, einer Zusammenarbeit mit Brian Eno, auf dem Saxofon. Seine Düsterkeit ist suggestiv und eindringlich: Ist es ein Porträt der Umgebung? Ein modaler Ausflug ins türkische Berlin, das im weiteren Sinn eine orientalistische Fantasie ist? Diese Überreste der beiden Berlins vergangener Zeiten erinnerten mich daran, von Zeit zu Zeit meine Wege zu ändern, weg von der Zentripetalkraft der robusten Klassische-Musik- oder Neue-Musik-Szene. Und Orte zu suchen, wo die pulsierenden Beats der Clubszene mich nicht durch die Kadenz eines Abends trugen. Ich stand am Kottbusser Tor am Rand von Demonstrationen für verschiedene Anliegen und Menschen sangen Hymnen aus aller Herren Länder. Ich brachte meinen Radiorekorder zu einem Park, in dem ein Künstler alle Versammelten dazu aufforderte, ihre Radios auf denselben Sender einzustellen, und wir den öffentlichen Raum im Hochsommer mit Reggae überfluteten. Ich schaute zwei Dragqueens bei ihrem Livekommentar des Eurovision Song Contest in einem Freiluftkino zu, während die Sonne unterging.
In diesem Jahr habe ich meine Angewohnheit beibehalten, Berlin in Konzerthallen, Bars, Clubs und Wohnräumen zuzuhören. Einer meiner Lieblingsmomente war bei einem Konzert der Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev. Ja, seine Interpretation der Vierten Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, dieses Druckkochtopfs, war atemberaubend. Aber ich genoss die Darbietung schon, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Gergiev und der Solist des ersten Stücks des Programms waren verspätet, sie schüttelten das professionelle Uhrwerk ab, durch das sich die Philharmonie auszeichnet. Platzanweiser dimmten die Beleuchtung, das Publikum verstummte. Und wir saßen. Leute fingen an zu murmeln, einige klatschten unruhig, andere buhten. Das Unbehagen dauerte an – vielleicht eine Viertelstunde? Ich genoss dieses ungewöhnliche Durcheinander und wie es die Aufmerksamkeit des Publikums beeinflusste. Da bin ich, wieder beim Mithören – mehr darauf achtend, wie Menschen und Töne Räume erzeugen als vielleicht die Töne selbst oder meine eigene Rolle bei ihrer Erzeugung.
In diesem Jahr jedoch hatte ich eine ganz andere Methode, die Gegenden der Stadt zu entdecken und ihre Kakofonie zu gliedern. Ich habe buchstäblich in einen anderen Gang geschaltet. Anders als die meisten meiner Co-Fellows am Wiko, habe ich mich dafür entschieden, nicht auf dem Campus zu wohnen, sondern in einer Wohnung in Friedrichshain. Ich muss jeden Tag zur Oase namens Grunewald fahren (und tue das auch), und ich entscheide mich, diesen 16-Kilometer-Weg auf meinem Fahrrad zu überwinden. Es macht Spaß. Diese Strecke und Gewohnheit haben mein Selbstbild als Abenteurerin geprägt. Anstatt meinen Horizont zu erweitern, halte ich mich an Eingefahrenes. Immer in Bewegung auf meiner festen Strecke, bin ich, zum Teil gezwungenermaßen, auf der Hut. Auf dem Fahrrad fühlt sich die Stadt anders an, sie sieht anders aus, hört sich anders an, riecht anders. Sie hat eine andere Geschwindigkeit. Mein Körper fühlt die Stadt anders mit dem neuen Wissen, das diese Fahrradfahrt erzeugt – aber nicht, weil dies eine außergewöhnliche sportliche Leistung wäre: Es freut mich berichten zu können, dass Berlin weiterhin flach ist.
Ich beginne meine Morgen auf Kopfsteinpflaster; mein Gehirn und mein Fahrrad rattern los. Den Weg von jenseits des Frankfurter Tores die ganze Karl-Marx-Allee herunter halte ich den Kopf gesenkt, ich fahre direkt in den Wind. Obwohl ich den Fernsehturm selbst an den sonnigsten Morgen kaum bemerke, weiß ich immer, ob der Brunnen am Strausberger Platz an- oder abgestellt ist. (Die Ampelphase an diesem Kreisverkehr ist die einzige lange auf dem ausgezeichneten Fahrradweg der Allee. Und sein Wasser sprudelt laut und lebhaft zischend.) Ich begegne der chaotischen Ansammlung neuer und alter Einkaufszentren am Alexanderplatz und entscheide mich meistens, die ganze Chose zu umgehen. Nach meiner Einschätzung ist kein Weg durch oder um diesen Knotenpunkt sicher. Eine „Baustelle“ – die vermutlich seit Jahren besteht und noch Jahre bestehen wird – zwingt mich mitten in einen Engpass, wo ich ächzenden Bussen die Vorfahrt lassen muss. Ich habe gelernt, diese Strecke mit meinem Hals nach links gereckt zu radeln, um so manchen aggressiven Pendler im Auge zu behalten.
Dann fahre ich eine der eigenartigen Strecken durch die Stadt entlang: vom Schloss, das wieder aufgebaut wird, die Französische Straße gerade herunter zum Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Manchmal ertönen Glocken aus den Domen am Gendarmenmarkt, wenn ich meine Fahrt richtig gelegt habe, aber meistens stehe ich im Stau. Es gibt Motorräder, Fahrradkuriere, Taxis, Limousinen, alle möglichen Busse, Müllmänner, Fußgänger, Läufer und Kutschen. Am Morgen beobachte ich (am Schloss) das Anliefern und (an einem vor Kurzem abgerissenen DDR-Verwaltungsgebäude) das Abholen von Baumaterial. Am späten Abend fahre ich dieselbe Straße in umgekehrter Richtung entlang. Von der Kurve in die Hannah-Arendt-Straße an ist dies bei Weitem meine Lieblingsstrecke in der Stadt. Ohne Autos oder Fußgänger und mit nur wenigen Radfahrern wird Mitte völlig gelassen und unheimlich. Ich kann es unter den Schattierungen der dunkler werdenden Lichter noch kaum wiedererkennen. Ich gestalte meine eigene Vergnügungsfahrt: Ich schaue in den Himmel, hole tief Luft und trete fest in die Pedale, gebe mich dem dazugehörigen Power-Trip hin.
Meine Fahrt ist keine reine Isolations- oder Introversionsübung, obwohl sie natürlich eine ungewöhnliche Aktion ist. Gelegentlich kommunizieren die Touristen um das Mahnmal mit mir und den anderen Radfahrern, die immer in der Nähe sind. Eine Gruppe von (vermutlich) Oberschülern sang Michael Jackson, während sie am Straßenrand darauf warteten, von ihrem Reisebus abgeholt zu werden. Viele stehen auf Fahrradwegen und reagieren freundlich, wenn ich von meinem Rad absteige und ihnen (hoffentlich) sanft eine implizite Regel dieser Stadt erkläre: Stehe niemals einem Rad im Weg. Ich erhebe die Stimme, um Konfrontationen zu vermeiden, doch an einem Morgen beugte sich ein besonders großer Mann herunter und sah mir direkt in die Augen, bevor er meine gut gemeinte Klarstellung mit unsinnigen Silben nachäffte: „Wah-wah-wah, bla, bla, bla, pffff.“ Ich glaube nicht, dass ich das jemals entschlüsseln kann.
Ab der Strecke entlang des südlichen Randes vom Tiergarten schleichen sich die pastoraleren Elemente der Natur in meine Fahrt hinein. Ich höre Tiere, Blätter, Hunde, das Geräusch von Läufern rechts neben mir. Der Fahrradweg ist auf der Straße, daher kann ich die Autos, die zum Überholen ansetzen, mit dem Gehör lokalisieren, wenn ihre Gummireifen auf dem Asphalt beschleunigen. Muss ich an den wenigen Ampeln auf dieser Hauptverkehrsstraße halten, gefällt mir, dass die Atmosphäre einen Kameradschaftsgeist unter den Radfahrern erzeugt: Wir machen Smalltalk, als seien wir im Urlaub.
Meine morgendliche Tour endet, wie sie begonnen hat: mit einer Fahrt die ganze Länge einer von Berlins größten Verkehrsadern herunter. Dieses Mal sind es statt der palastartigen Apartmentkomplexe des sozialistischen Realismus der Karl-Marx-Allee die Luxusboutiquen, die die Promenade namens Ku’damm flankieren. Dieser hat keinen Platz für Fahrräder, trotz der vielen Radfahrer, die ihn durchpflügen müssen. Ich hasse es und ärgere mich darüber. Taxis schlängeln sich durch den Verkehr, ohne zu blinken. Busfahrer – aber das ist vielleicht eine Frage der Wahrnehmung – drücken mich gegen die geparkten Autos. Lieferwagen halten einfach mittendrin. Dieser letzte Abschnitt hat nichts Einladendes – er geht sogar leicht bergauf. Dennoch nehme ich ihn auf mich, vermeide die Seitenstraßen, die mein Leben leichter machen könnten oder in denen ich zumindest nicht das Gefühl hätte, angegriffen zu werden. Ich sehe und höre, wie die städtische Infrastruktur Stress erzeugt. Ich bin angespannt, bis zu dem Moment, wo ich in die Seitenstraßen von Grunewald einbiege.
Vielleicht lassen einen die Herausforderungen des Ku’damms die Illusion ablegen, dass ich (oder überhaupt jemand) in ganz Berlin zuhause sei. Vorbei die naive Studentinnenfantasie, dass ich alle Angebote, kulturell, akustisch, persönlich, dieser Stadt mitnehmen und katalogisieren könnte. Ich erkenne meine Grenzen. Andere, bin ich sicher, fänden den Betrieb auf dieser Straße beruhigend und die Fröhlichkeit eines Sonntagnachmittags in einem Friedrichshainer Park träge oder eskapistisch. Und es gibt natürlich so viele Berlins, die ich nicht sehe und nicht hören kann: Orte, an denen ich sein könnte und Orte, an denen ich nicht willkommen bin. Ich habe Berlin noch lange nicht ausgeschöpft – ich werde es nie, wie aufmerksam ich auch zuhöre. Durch die Wiederholung, die dieser Radfahrt innewohnt, habe ich, glaube ich, doch begonnen, meine eigene, idiosynkratische Umgebung zu gestalten. Auf dieser Strecke, im Wohnzimmer, wo sie ihren Ausgang nimmt, und am Schreibtisch, der mein tägliches Ziel ist, bin ich keine Besucherin, sondern jemand, der seine eigene Wander-Variation über das reizvolle Thema gestaltet, das durch Berlin hallt: den Kiez.
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Fotos: © Maurice Weiss