Ausgabe 13 / Juli 2018
Ein Plädoyer für mehr kulturelle Sensibilität
von Katja Gelinsky
Die Soziologin Viktoriya Sereda betrachtet die Ukraine als ein historisches, sprachliches, wirtschaftliches und politisches Mosaik mit changierenden Mustern
Viktoriya Sereda kennt sich aus mit Interviewsituationen, kennt die Zumutungen, die Fragen und Nachfragen für den Menschen gegenüber bedeuten können. Die ukrainische Soziologin bereist und erforscht ihr Heimatland auf der Suche nach Antworten zu existentiellen Themen: Heimat, Erinnerung, Identität. Sie hat darüber mit Landsleuten in Dörfern und Städten des Landes gesprochen und ist dazu in die verschiedenen Regionen und abgelegenen Gegenden des Landes gereist. Mit diesen Themen verwoben sind Erlebnisse und Erfahrungen, die die jüngste Geschichte der Ukraine geprägt haben: Orange Revolution, Euromaidan, die Annexion der Krim, militärische Konflikte im Osten des Landes, Flucht und Vertreibung. Die Professorin der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neu gegründeten Ukrainischen Katholischen Universität Lwiw möchte der lokalen Perspektive mehr Beachtung verschaffen, wenn gesellschaftliche Entwicklungen in der Ukraine und anderen Ländern beschrieben werden, wo ein Großteil der Bevölkerung in kleinen und mittelgroßen Städten lebt. Ihrer Meinung nach ist die nicht vorhersehbare, in der letzten Zeit wachsende Unterstützung des Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern und den USA ein Grund, den Stimmen von Menschen auf dem Lande mehr Beachtung zu schenken, deren Denk- und Lebensweise in gegenwärtigen geistes- und sozialwissenschaftlichen Studien oft nicht ausreichend abgebildet wird. Persönliches zu erfragen, gehört zum Kern dessen, was ihre soziologische Forschung auszeichnet. Dagegen ist es nicht ganz leicht, von der Soziologin Viktoriya Sereda etwas über den Menschen Viktoriya Sereda zu erfahren.
Sie wurde 1974 in Lwiw geboren, das damals zur Sowjetunion gehörte, aber aufgrund seiner schillernden, manchmal tragischen Vergangenheit unter oft wechselnder Herrschaft seinen eigenen Mythos pflegte – wie derjenigen der Habsburger im 19. Jahrhundert, der polnischen Zwischenkriegsregierung und dann unter nationalsozialistischer, dann sowjetischer Gewaltherrschaft, welche den Stadtcharakter tief greifend veränderten. Sie studierte bis zum Diplomabschluss Geschichte und hatte fest vor, diesen Weg weiter zu verfolgen, zu promovieren und eine Unikarriere anzustreben, wurde jedoch durch die patriarchalen Strukturen der traditionsbewussten Disziplin entmutigt. So wechselte sie nach Schottland und schloss ein Soziologiestudium an der University of Edinburgh an. Mit dieser Doppelausbildung konnte sie ihr Forschungsfeld nun quasi interdisziplinär angehen und wurde schließlich als Mitbegründerin des neu eingerichteten Fachbereichs Soziologie an ihre Universität zurückgeholt.
Die neue Disziplin bot offenere Strukturen und größeren Gestaltungsspielraum. Im Übrigen war Viktoriya Sereda schon durch ihre Kindheit in einer dreisprachigen Familie – ihre Großmutter sprach polnisch, ihre Mutter ukrainisch und ihr Vater vornehmlich russisch mit ihr – an die historische und politische Vielfältigkeit und Komplexität ihrer Heimat und ihres neuen Forschungsfelds gewöhnt: „Mein Vater interessierte sich sehr für Geschichte. In der Sowjetunion gab es viele geschichtliche Themen, die nicht erforscht oder die nicht öffentlich erörtert werden konnten, aber auf der Ebene der Heimatkunde konnten einige Themen in einem gewissen Ausmaß erforscht werden. Daher wandten sich damals bestimmte Historiker der vorsowjetischen Heimatkunde zu, um dem sowjetischen Geschichtsnarrativ zu entkommen, das mit Ideologie vollgestopft war. Meine Heimatstadt Lwiw – auch Lvov, Lwów, Lemberg oder Leopolis – war in der Sowjetunion ein Ausnahmefall. Sogar in dieser Zeit konnte sie sich eine starke regionale Identität bewahren. Es war so, dass für viele, wie für meinen Vater, das Interesse an der vorsowjetischen Geschichte der Stadt, als sie eine mitteleuropäische, multikulturelle Weltstadt war, eine Möglichkeit war, der sowjetischen Gegenwart zu entkommen. Er hat mir seine Leidenschaft für Geschichte vermittelt. Außerdem hat meine Großmutter, die seit den frühen 1930er-Jahren in der Stadt gelebt hat, die Naziverbrechen und auch die stalinistische repressive Politik miterlebt. Diese Themen konnten nicht offen angesprochen werden, aber manche Erinnerungen wurden privat weitergegeben, zwischen den Zeilen. Und aus dieser Erfahrung heraus weiß ich, wie wichtig das nicht offizielle kulturelle Gedächtnis ist.“
Stereotypen Betrachtungsweisen und Denkmustern entgegenzutreten, das ist seither Teil der wissenschaftlichen Arbeit von Viktoriya Sereda. Sie war auch an vielen anderen Bildungs- und Forschungsinitiativen beteiligt, die die Reform der Hochschulbildung in der Ukraine zum Ziel hatten, darunter ein neues Forschungszentrum, das dazu beitrug, die Gender Studies an den Universitäten einzuführen.
Einen differenzierteren Blick würde sich Viktoriya Sereda manchmal auch von ausländischen Beobachtern wünschen, die über die Ukraine berichten. Das in westlichen Medien verbreitete Ost-West-Schema bilde die komplexe Lebenswirklichkeit nicht angemessen ab. Eher gleiche die Ukraine historisch, sprachlich, wirtschaftlich und politisch einem Mosaik mit changierenden Mustern. Anschauliche Details liefert das Programm „MAPA: Digitaler Atlas der Ukraine“, ein gemeinsames Projekt des Ukrainischen Forschungsinstituts der Harvard-Universität und verschiedener Partner in der Ukraine, dessen Team Viktoriya Sereda angehört. Ausländischen Kommentatoren empfiehlt sie, nicht nur genauer, sondern auch mit mehr kultureller Sensibilität auf die Ukraine zu blicken. „Man könnte den Eindruck gewinnen, als seien politische Entscheidungen nicht von den Ukrainern selbst zu treffen, sondern als müssten sie dafür die Regierungen anderer Länder um Erlaubnis fragen.“ Eine solche auf ausländische Akteure fixierte Haltung verletze die Gefühle der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger, die im letzten Jahrzehnt zweimal auf die Straße gegangen seien, um gegen Bevormundung zu protestieren, kritisiert Viktoriya Sereda.
Mit ihrer Arbeit über zivilgesellschaftliches Engagement im Zusammenhang mit den politischen Protesten in der Ukraine möchte sie den Blick dafür öffnen, dass eine Vielzahl neuer Aktivitäten und Netzwerke entstanden sind. Zahlreiche Analysen der Schwächen der Zivilgesellschaft und der demokratischen Entwicklungen in postkommunistischen Ländern konzentrierten sich vor allem auf Nichtregierungsorganisationen und wiesen darauf hin, dass diese ihre Aufgabe, eine größere gesellschaftliche Zusammenarbeit herbeizuführen, nicht erfüllen konnten und dass sie keine öffentlichen Proteste gegen die repressiven Regime mobilisieren konnten. Seredas Forschungsergebnisse weisen auf die Notwendigkeit hin, die Definitionen von Zivilgesellschaft und Aktivismus zu überdenken. Sie argumentiert, dass Wissenschaftler, die Zivilgesellschaften und soziale Bewegungen erforschen, dazu tendieren, sich auf sozialen Aktivismus und Umwälzungen während der Revolutionen in Osteuropa zu konzentrieren, aber weiter gefasste Formen von Aktivismus übersehen, die nicht so einfach in ihr vorgefasstes Geschichtsbild passen. Anstatt sich auf bestimmte institutionalisierte Akteure zu konzentrieren, sollten Wissenschaftler sich näher damit befassen, auf welch vielfältige Weise Personen durch scheinbar alltägliche Aktivitäten zu sozialem Wandel beitragen und die Zivilgesellschaft stärken.
Wieder ist es vor allem die lokale Ebene, die sie aus ihrem Schattendasein holen möchte. „Schaut man sich nur die offiziell registrierten Nichtregierungsorganisationen und deren Aktivitäten an, übersieht man leicht, wie breit gefächert das soziale Engagement in den örtlichen Gemeinschaften ist.“ Befragungen von Euromaidan-Teilnehmern hätten ergeben, wie sehr die Protestbewegung von jeder Form zivilgesellschaftlichen Engagements, ob im sozialen oder im kulturellen Bereich, profitiert habe.
Eine weitere Stärkung und Festigung der ukrainischen Zivilgesellschaft hat Viktoriya Sereda bei der Bewältigung von Flucht und Vertreibung infolge der russländischen Annexion der Krim und des Kriegsgeschehens im Donbass beobachtet. Bevor der Staat in der Lage gewesen sei zu reagieren, hätten Privatleute umfassende Hilfe für Hunderttausende organisiert, die ihre Heimat und ihre Existenzgrundlage verloren hätten. Die Freiwilligen halfen bei der Suche nach Unterkunft und Arbeit, organisierten medizinische Versorgung, kümmerten sich um Behördenangelegenheiten und schufen Kontaktnetze und Begegnungsstätten. Durch die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Ereignisse macht Viktoriya Sereda die ukrainischen Erfahrungen mit Fluchtbewegungen zugänglich für den grenzüberschreitenden Diskurs darüber, wie Gesellschaften mit Zuwanderung zurechtkommen, wie es um Aufnahmefähigkeit, Aufnahmebereitschaft und Integrationswillen bestellt ist. Viktoriya Seredas Studien vermitteln ein insgesamt ermutigendes Bild.
Die Übersiedlung ukrainischer Binnenflüchtlinge habe nicht zu nennenswerten gesellschaftlichen Konflikten geführt. Kontrollstudien hätten keine Hinweise darauf ergeben, dass die Solidarität mit den Neuankömmlingen durch Abwehrreaktionen oder andere Formen gesellschaftlicher Überforderung überschattet oder abgelöst wurden. Auch dort nicht, wo man aus religiösen Gründen Spannungen hätte vermuten können. Befragungen ukrainischer Muslime, also von Tataren, die von der Krim geflohen waren, hätten ergeben, dass sie mit Bedacht in vorwiegend christlich geprägter Umgebung Zuflucht gesucht hätten, um unter religiösen Landsleuten zu sein, berichtet Viktoriya Sereda. Die in der Ukraine beheimateten Christen verschiedener Konfessionen – griechisch-katholisch, ukrainisch-orthodox nach Kiewer oder nach Moskauer Patriarchat – hätten mit Verständnis und Hilfsbereitschaft reagiert. „In einer Ortschaft hat man den muslimischen Neuankömmlingen sogar Klosterräume angeboten, weil es ja noch keine Moscheen gab.“ Eine gesellschaftliche Krise aufgrund von Flucht und Vertreibung sei der Ukraine erspart geblieben, fasst die Soziologin zusammen.
Nur vereinzelt habe es unter jenen, die ihre Heimat verlassen hätten, Klagen über Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche gegeben. Arbeit zu finden sei für die Neuankömmlinge ebenfalls nicht immer einfach. Aber das habe nichts mit mangelnder Wertschätzung zu tun, sondern sei eher der Sorge mancher Arbeitgeber zuzuschreiben, die Zugezogenen würden schon bald in ihre Heimat zurückkehren. Darüber hinaus erfuhren einige Binnenflüchtlinge aus dem Donbass eine Art doppelte Isolation. Sie müssen soziale Netzwerke, auch mit den Bewohnern vor Ort, erst noch aufbauen, gleichzeitig schränken sie aber oft den Kontakt zu anderen Vertriebenen aus dem Donbass ein, da sie deren politische Ansichten oder Beteiligung am Krieg nicht einschätzen können. „Wir erleben hier kriegerische Konflikte, aber diese haben nicht zu einem vermehrten ethnischen Nationalismus geführt“, hebt Viktoriya Sereda hervor.
Auch Umfragen zum nationalen Selbstverständnis bestätigten, dass die Ukrainer ihre Identität nicht an sprachliche, ethnische oder religiöse Homogenität knüpften. „Wenn Sie die Menschen fragen, was es heißt, Ukrainer zu sein, dann ist es vor allem das Gefühl, sich selbstbestimmt für eine gemeinsame Zukunft einzusetzen.“ Identität werde gelebt als etwas, das Gemeinschaft stifte, nicht als etwas, das die Menschen auseinandertreibe.
Die Soziologin führt dies auch auf erfolgreiche Aufklärungsarbeit zurück. Wenn ein Land sich in einem realen Krieg und einem Propagandakrieg befindet, ist für die Medien die Versuchung groß, eine Sprache der Ausgrenzung zu verwenden. Anfangs habe es vereinzelt Fälle gegeben, in denen Medien – bewusst oder unbewusst – Misstrauen gegen Menschen aus dem Osten des Landes schürten. Ein breites Netzwerk gesellschaftlicher Organisationen und Institutionen habe sich diesen Ansätzen entgegengestemmt. So habe man zum Beispiel Schulungen und Informationsveranstaltungen für Journalisten angeboten, die über den massenhaften Zuzug von der Krim und den militärischen Konflikt im Donbass berichtet hätten. Auch Viktoriya Sereda gehörte zu den Mitwirkenden. Das Etikett soziale Aktivistin behagt ihr allerdings nicht; da fehle der wissenschaftliche Kontext.
Sich selbst sieht Viktoriya Sereda in dieser für die Ukraine kritischen Phase als Grenzgängerin, die zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft, zwischen lokaler und internationaler Ebene, zwischen Ost und West pendelt. Ein anstrengendes Unterfangen, da es einen ständigen Perspektivwechsel verlangt. „Die größte Herausforderung besteht darin, die notwendige Empathiefähigkeit mitzubringen“, schildert Viktoriya Sereda. „Man muss verstehen, wie die Menschen sich selbst und ihre Welt sehen, um brauchbare Theorien zu entwickeln.“ Das setze eine Menge Vertrauensarbeit voraus. Dafür wiederum braucht es wissenschaftliches Verantwortungsbewusstsein – nicht nur damit die Gesellschaft von den gewonnenen Daten profitieren kann, sondern ebenso im Interesse derer, die bereit sind, über schmerzhafte Erlebnisse und Eindrücke zu berichten. Für ihre Studien hat Viktoriya Sereda unter anderem Krimtataren befragt, deren Familien nach den von Stalin angeordneten Deportationen erst in den 1980er-Jahren in ihre Heimat zurückkehren konnten. Mit der russländischen Annexion der Krim verloren Zehntausende von ihnen abermals ihre mühsam aufgebaute Existenzgrundlage. „Wenn wir solch sensible Themen ansprechen, sind wir verantwortlich für die Folgen, die das für die Betroffenen haben kann“, sagt Viktoriya Sereda mit Nachdruck. Wissenschaftlichen Mitarbeitern, die die Soziologin auf Befragungen vorbereitet, schärft sie ein: „Niemals mit einem tragischen Erlebnis aufhören!“
Behutsamkeit und kritische Selbstkontrolle gehören zu den Grundprinzipien ihrer Forschungsarbeit. Diesen Ansprüchen gerecht zu werden, sei eine ständige Herausforderung. „Es kann passieren, dass man Dinge nicht richtig erkennt, weil man zu stark involviert ist. Umgekehrt kann es sein, dass man etwas falsch einschätzt, weil die Distanz zu groß ist.“ Dagegen helfe nur, die Rolle des „Insiders“ und die des „Outsiders“ immer wieder zu tauschen. Man merkt Viktoriya Sereda an, wie sehr es sie beschäftigt, eigener Voreingenommenheit oder Verständnislosigkeit, Unkenntnis oder sonstigen Unzulänglichkeiten auf die Schliche zu kommen. „Mir macht Sorge, ich könnte etwas übersehen, weil meine eigene Sichtweise nun einmal in einer bestimmten Weise geformt ist, die Welt aber so komplex ist.“ Deshalb legt sie großen Wert darauf, in möglichst heterogenen Teams zu arbeiten. Gleiches gilt für den Austausch mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen und aus anderen Ländern. Immer wieder hat Viktoriya Sereda ihre Koffer gepackt, um bei Forschungsaufenthalten im Ausland Abstand zum Gewohnten und zugleich Raum für neue Eindrücke und Erfahrungen zu gewinnen. Das Wissenschaftskolleg zu Berlin ist für sie Rückzugsraum und Tor zur Welt zugleich. „Ein einzigartiger Ort, um sich kritisch zu hinterfragen und durch andere Sichtweisen anspornen und inspirieren zu lassen.“ Wo und wann biete sich schon die Gelegenheit, mit Ethnologen aus Afrika über Erinnerungs- und Gedenkkultur zu sprechen? Viktoriya Sereda möchte solche Dialoge auch über Berlin hinaus fortsetzen und gerade auch den wissenschaftlichen Nachwuchs einbeziehen. Einen Aufsatz über afrikanische Unabhängigkeitstage von Fellow Carola Lentz, Ethnologin an der Universität Mainz und Convener einer Schwerpunktgruppe am Wissenschaftskolleg, hat sie bereits an ihre Studenten in Lwiw verschickt.
„Für Außenstehende könnte dieser Ort wie ein Elfenbeinturm wirken, in den Wissenschaftler sich zurückziehen, um sich auf ihre Forschung zu konzentrieren“, fügt sie hinzu, „aber wenn man sich der Gemeinschaft anschließt, merkt man, dass sich ein ganzes Universum deutscher und internationaler Wissenschaft eröffnet, das zu erforschen grenzenlose Freude bereitet.“
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Fotos: © Maurice Weiss