Ausgabe 13 / Mai 2018
Eine Stadt muss nicht gemütlich sein!
Irene Dische
Vittorio Magnago Lampugnani betrachtet scheinbare Nebensächlichkeiten, wie Straßenschilder, Parkbänke, Gullys und Pissoirs als wichtige Indizien zur Deutung europäischer Stadträume
Irene Dische: Erzähl doch mal von deinem jetzigen Projekt, was du hier machst.
Vittorio Magnago Lampugnani: Mein Projekt hier am Wissenschaftskolleg ist ein Vorhaben, über das alle erst einmal lachen. Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes machen. Als ich die Einladung nach Berlin bekam, schwebte mir ein einigermaßen seriöses Projekt vor, nämlich die Geschichte der Diskussion über die nachhaltige Stadt.
ID: Was bedeutet nachhaltig?
VML: Es bedeutet eine Stadt, die ökonomisch tragbar ist, die wenig Energie verbraucht, wenig Müll produziert, ein angenehmes Klima und gute Luft hat. Es geht also um diese ökologischen Fragen, von denen wir heute so tun, als ob wir sie neu entdecken würden, aber die es eigentlich stets gegeben hat. Die Stadt hat immer Umweltprobleme geschaffen und sie war immer auch ein Mittel, diese Umweltprobleme zu lösen oder zumindest einzugrenzen. Diese alte, teilweise uralte Diskussion wollte ich nachzeichnen. Ich halte das immer noch für ein gutes und auch wichtiges Thema, aber dann hatte ich eine andere Idee. Durch die städtebaulichen Analysen, vor allem aber durch die städtebaulichen Projekte, an denen ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, ist bei mir eine Neugierde, ein Interesse aufgekommen für die ganz banalen Dinge, die niemand so richtig wahrhaben und schon gar nicht entwerfen will in der Stadt, aber die es einfach geben muss: Wasserabläufe, Schachtabdeckungen, Bodengitter, Bodenbezeichnungen und Bodenbeschriftungen. Dazu kleine untergeordnete Architekturen: U-Bahn-Eingänge, Haltestellen, Kioske, öffentliche Toiletten, Telefonzellen, Trinkhallen, Tiefgarageneinfahrten. Und dann noch und vor allem noch kleinere Einrichtungsgegenstände: Denkmäler, Brunnen; Straßenlampen, Uhren, Bänke, Straßenschilder, Hausnummernschilder, Ampeln, Postkästen, Abfallkörbe, Hydranten, Briefkästen und Klingelanlagen, Poller, Reklamen, Verkehrszeichen, Gedenktafeln, Fahrradständer, Feuermelder und Rufsäulen, Informationsschilder.
ID: I see.
VML: Ich habe gemerkt oder zumindest gemutmaßt, dass diese scheinbar belanglosen Dinge wichtig sind für die Atmosphäre und die Ausstrahlung und letztendlich auch die Schönheit eines Stadtraumes. Du kannst mit drei hässlichen und falsch aufgestellten Bänken jeden Platz kaputtmachen, und du kannst durch overdesignte Hausnummernschilder jede Straße zerstören. Das sind nicht nur technische Aufgaben, das sind kulturelle Aufgaben. Und es gibt viele davon. Man kann an diesen winzigen, vermeintlich nebensächlichen Dingen die ganze Komplexität der Stadt, ihrer Einflüsse und ihrer Ansprüche aufzeichnen. Und das finde ich faszinierend; auch, weil die Geschichten dieser Gegenstände zum Teil sehr spannend sind. Das sind Geschichten, die ich erzählen möchte, Geschichten über die kleinen Dinge im Stadtraum in verschiedenen europäischen Städten. Zum Beispiel die der Gullys. In der Regel fangen alle diese Geschichten mit der Antike an. Die Bocca della Verità in Rom zum Beispiel war ein Gully: Durch die Augen und den Mund der Steinmaske floss das Regenwasser in die Cloaca Maxima ab. Und wie nun haben sich die Gullys entwickelt? Es gibt dazu nicht eine, sondern zwei Geschichten, aber das habe ich erst bei genauerem Hinsehen gemerkt: Denn Abflussgitter und Schachtabdeckungen, also die Kanaldeckel, die manhole covers – wunderbares Wort, manhole, weil Loch und Deckel genau so groß sind, dass ein Mann in das Loch, also in den Schacht hineinklettern kann – sind völlig unterschiedliche Dinge, das eine leitet das Wasser in die Kanalisation, das andere ist einfach nur ein Deckel über einer Öffnung, in der Regel einer Inspektionsöffnung, der verhindert, dass man hineinfällt.
ID: Der Bankräuber benützt sie gelegentlich. Sehr wichtig für Stadtgeschichte.
VML: Sehr wichtig. Harry Lime in Der dritte Mann versucht, durch einen begehbaren Wasserablauf zu entfliehen, aber der klemmt und dadurch ist er verloren.
ID: Und wo gibt es die schönsten? – Rom natürlich, oder?
VML: Nein, das kann ich so nicht sagen, und das ist auch gar nicht mein Anliegen, sozusagen die Schönheitskönigin unter den Wasserabläufen und den Schachtabdeckungen auszumachen.
ID: Also auf jeden Fall sie sind nicht alle gleich.
VML: Sie sind extrem unterschiedlich– du musst mal nur in Berlin hinschauen! Und dann in Paris und in Wien: nochmal ganz anders. Schon in Mailand und Rom sind sie völlig verschieden. Gut, sie sind natürlich auch deswegen verschieden, weil es ältere und neuere gibt. Bereits ihr Material sagt viel aus über die Zeit, in der sie entstanden sind, und den technischen und ästhetischen Anspruch, der mit ihnen verbunden war: von Stein über Gusseisen und Fließstahl zu Beton und Kunststoff. Dann die Schriften: Sie reichen von Kürzeln, die sich auf Modellnummern und technische Normen beziehen, bis zu Namen und Logos der Firmen, die sie hergestellt haben. Zuweilen erklären sie explizit, welche Aufgabe die Schächte haben, die sie schützen: Wasser, Gas, Elektrizität, aber auch Kohle oder pneumatische Post, also längst vergangene Funktionen, die sie so in Erinnerung rufen. Und immer wieder beziehen sie sich auf die Stadt, für die sie geschaffen sind, und tragen ihren Namen oder ihr Wappen. In Chandigarh hat es Le Corbusier sogar geschafft, seine Skizze des Plans der Stadt auf jeden ihrer Kanaldeckel prägen zu lassen. Manchmal sind die Schachtdeckel nicht nur mit einer Stadt, sondern mit einem ganz besonderen Ort in ihr verbunden: wie etwa die Schachtdeckel, die eigens für die Esposizione Universale Roma geschaffen wurden, die 1942 als Verherrlichung des Regimes von Mussolini vor den Toren Roms hätte stattfinden sollen. Sie fand nicht statt, dafür der Zweite Weltkrieg und der Sturz des faschistischen Regimes: Die Schachtdeckel aber sind weiterhin da und erinnern an ein ambivalentes Stück urbaner und politischer Geschichte.
ID: Und solche Geschichten gibt es für alle diese unterschiedlichen Elemente?
VML: Ja. Bürgersteige, Straßenlaternen, Litfaßsäulen und Gullys haben ihre eigenen Geschichten und sie erzählen sie auch. Man braucht nur genau hinzuschauen. Der Straßenbelag in den Städten der römischen Antike zeugt von der Entwicklung einer neuen, aufwendigen Ingenieurskunst, die in den Dienst der militärischen und wirtschaftlichen Effizienz, aber auch des bürgerlichen Komfort gestellt wurde; die Rillen in den sorgfältig gearbeiteten großen Steinplatten erinnern an den starken Verkehr von Fuhrwerken und Pferdewagen. Aber auch an jüngeren Straßenbelägen lässt sich ihre Geschichte ablesen: Die steinernen Straßenpflasterungen des 19. Jahrhunderts erzählen von dem Willen, die Straßen zu befestigen, aber auch Qualitäten und Atmosphäre der historischen Stadt wiederaufleben zu lassen; die oft einfach darübergelegte Asphaltierung von dem Glauben an die Vorherrschaft des (vor allem motorisierten) Fahrverkehrs, an die glatte, reine Bequemlichkeit und an das optimierte Kosten-Nutzen-Verhältnis. Dort, wo der Belag an die Hauseingänge und Haussockel anstößt, lässt sich dessen Schichtung in der Zeit ziemlich gut ablesen.
ID: Und dann gibt es in Berlin jetzt diese goldfarbenen Kupferpflastersteine mit Namen von ermordeten Juden.
VML: Ja, das sind die Objekte zwischen den Objektskategorien. Eines meiner Themen ist die Pflasterung, logischerweise. Ein anderes Thema ist der Bürgersteig und ein weiteres Thema ist das Denkmal. Und die Stolpersteine sind eigentlich ein Denkmal, aber es ist ein Denkmal, das zur Pflasterung wird, und diese wiederum zum Teil des Bürgersteigs.
ID: Laternen auch, Straßenbeleuchtung gehört dazu?
VML: Jaja, die Straßenlampen sind besonders anschauliche historische Zeugnisse, besonders gute Erzähler. Ihre Pfosten und Lampenköpfe verraten, ob es sich um historische oder zeitgenössische Exemplare handelt, möglicherweise um Wiederauflagen von alten Modellen. Die Farbschichten, die zuweilen leicht abblättern, zeugen von Pflege und Veränderungen. Die Leuchtsysteme weisen auf die unglaubliche technische Entwicklung hin, die die städtische Beleuchtung seit dem frühen 19. Jahrhundert durchgemacht hat, von der Öllampe über Gas zur Elektrizität in ihren unterschiedlichsten Nutzformen und mit ihren unterschiedlichsten Leuchtmitteln. Und auch aus der Stellung der Lampen im Stadtraum lassen sich Rückschlüsse auf Gepflogenheiten, Normen und Absichten zum Licht in der Stadt ableiten. Das ist ein Thema, darüber ist schon viel geforscht und geschrieben worden. Aber die Straßenschilder zum Beispiel, darüber gibt es fast nichts. Die Straßennamen sind sehr gut untersucht und üppigst publiziert. Aber die Tafeln, auf die die Namen der Straßen geschrieben sind, sind ein blinder Fleck auf der Landkarte der Stadtforschung. Ich habe immer noch nicht herausgefunden, und ich suche danach seit Monaten, wann in Italien die Marmortafeln aufgetaucht sind, auf denen, sehr schön, wie ich finde, die Straßennamen eingraviert sind.
ID: Sind sie nicht an jeder Ecke am Gebäude aufgebracht?
VML: Ja, genau. Es ist ein Marmorstück, das ist exakt so groß, dass man es noch zu zweit gut tragen kann, und völlig einheitlich in ganz Italien, von Piemont bis Sizilien. Ich nehme an, das ist nach der Vereinigung Italiens geschehen, also nach 1861 wahrscheinlich, aber ich habe nichts wirklich Zuverlässiges darüber gefunden. In Berlin sind die Straßenschilder – das ist auch ziemlich konsistent – längliche emaillierte Metalltafeln, die sehr großzügig aufgestellt wurden, fast an jeder Straßenecke. Das ist nicht in jeder Stadt der Fall. Ursprünglich wurden sie überwiegend an Laternenpfosten befestigt, da hatte man schon den Pfosten und man hatte auch die Beleuchtung des Straßenschilds. Es gibt verschiedene Schriften und verschiedene Farben, die sich aber nicht groß geändert haben. Unter den Nationalsozialisten hat man nicht nur die Namen von vielen Straßen geändert, sondern auch die Schrift und hat die Fraktur wieder eingeführt, die nicht mehr benutzt wurde, weil sie schlecht zu lesen ist. Das ist nach dem Ende des Kriegs und des Nationalsozialismus rückgängig gemacht worden. Die DDR hat gespart und anstelle der emaillierten Metalltafeln Kunststoff verwendet, wobei die Schrift von einer Schicht darüberliegenden, durchsichtigen Kunststoffs geschützt ist. Und der Westen schaute herablassend und sagte, ja, die DDR, arme Schlucker. Aber der Westen hat auch gespart. Es wurde nicht mehr Emaille verwendet, sondern Siebdruck auf Metall, weil das billiger ist. Doch Siebdruck verblasst unter Sonneneinstrahlung und Witterungseinfluss. Also mussten die neuen Schilder bald wieder ersetzt werden.
ID: Ich habe darüber auch schon nachgedacht, dass die Qualität der Schilder etwas darüber aussagt, wieviel Fremde man sich in einer Stadt wünscht.
VML: Nein, Straßenschilder wurden ursprünglich nicht für die Fremden angebracht. Im Mittelalter und in der Antike gab es keine Straßenschilder. Es gab Straßennamen, und die haben die Ortsansässigen sowieso gewusst. Wenn jemand fremd war, hat man ihm den Weg gezeigt und erklärt, da, wo die große Kirche steht, oder da, gleich neben dem Wirtshaus. Die Bezeichnung der Straßen mit Schildern beginnt im 18. Jahrhundert, und dafür gab es zwei Gründe. Ein Grund war die Steuererhebung, man hatte mit klar benannten Straßen eine bessere Kontrolle über die Steuerpflichtigen. Der zweite Grund war der Einzug der Nichtfreiwilligen für den Krieg: So wusste man, in der Soundso-Straße gibt es soundso viele junge Männer, die einberufen werden können.
ID: Ach, gar nicht für Fremde gedacht ...
VML: … später, so im 19. Jahrhundert, schon. Da ging es darum, den Ortsunkundigen zu helfen, sich zu orientieren. Aber vorher nein.
ID: Aber eine Touristenstadt muss viele Schilder haben. Wien hat zum Beispiel großartige Schilder.
VML: Die ältesten, die heute noch zu sehen sind, gehen zurück auf das Jahr 1860. Damals beschloss der Magistrat der Stadt, Straßennamen und Bezirk anzugeben. Zwei Jahre darauf wurden auch die Tafeln selbst normiert: Sie hatten aus weiß lackiertem Zinkguss zu bestehen und mussten für die Längsstraßen rechteckig, für die Querstraßen oval geformt sein. Die Beschriftung erfolgte in steiler Fraktur, für die Straßen schwarz, für die Plätze rot; die Wörter Gasse, Straße oder Platz wurden getrennt, aber ohne Bindestrich angefügt. Die Umrandung war bei den Plätzen rot, bei den Straßen je nach Bezirk rot, violett, grün, rosa, schwarz, gelb, blau, grau oder braun. Eine neue Regelung von 1907 weichte die Materialmaßgabe leicht auf und tolerierte in „mehr oder weniger entrückten Bezirkteilen“, wie es so schön hieß, das einfachere und billigere Zinkblech. 1923 wurden die Straßentafeln erneuert und vereinheitlicht: alle länglich viereckig, blau emailliert mit weißer Schrift in lateinischen Schriftzeichen und ebenfalls weißem Rand. Drei Jahre darauf wurde in einer Rückbesinnung auf das ursprüngliche Prinzip eine leichte Differenzierung eingeführt: Die Tafeln der Querstraßen wurden an den Ecken abgerundet. Die Rückkehr zur Frakturschrift, die nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland diskutiert wurde, wurde nicht umgesetzt. Und seit den Achtzigerjahren werden nach dem Muster der Tafeln von 1862 Kunststofftafeln hergestellt und eingesetzt. In den Neunzigern wurden gezielt Erläuterungstafeln angebracht, die die Hintergründe des Namens der Straße erklären. Das sind wohl die, die du meinst.
ID: Ja, genau. Findest du das wichtig?
VML: In Theodor Fontanes letztem Roman, „Der Stechlin“ von 1898, erklärt der Parvenu und Hausbesitzer Schickedanz seiner Frau auf dem Totenbett: „Hausname, Straßenname, das ist überhaupt das Beste. Straßenname dauert noch länger als Denkmal.“ Was so viel Bedeutung hat, verdient es, angemessen angezeigt zu werden. Welche sind die schönsten Straßenschilder? Das ist eine Frage des Geschmacks. Welche sind die besseren Schilder? Ich glaube, jene, die gut lesbar sind, die nur die allernötigste Information liefern und dazu ein ganz klein wenig mehr, vor allem aber jene, die nicht immer wieder modisch aufpoliert oder gar neu erfunden werden, sondern mit einer soliden und unaufgeregten Gestaltung zur Unverwechselbarkeit der Stadt beitragen. Zu ihrer Identität.
ID: Und wie wählst du aus, was du untersuchst und was nicht? Alles, was dir in der Stadt auffällt?
VML: Das Thema der kleinen städtischen Elemente scheint klein, aber wenn man damit anfängt, erweist es sich als geradezu uferlos. Die Anzahl ist selbst dann, wenn man verwandte Typen zusammenfasst, immer noch erstaunlich groß, und über jedes einzelne ließe sich eine dicke Abhandlung verfassen – was teilweise auch geschehen ist. Ich versuche, aus dieser großen und unhandlichen Anzahl die Elemente herauszusuchen, die mir für ihre Gattung einigermaßen typisch erscheinen: also eine angemessene Anzahl von festen Straßen- und Platzelementen wie Belag oder Bürgersteig, eine angemessene Anzahl von Kleinbauten wie Untergrundbahnstationen, öffentliche Toiletten und Telefonzellen, eine angemessene Anzahl von Ausstattungsobjekten wie Straßenlampen, Brunnen, Poller und Schachtabdeckungen. Die Auswahl ist natürlich subjektiv und bis zu einem gewissen Grad auch willkürlich. Ich lasse mich von der Vermutung leiten, die ausgewählten Objekte seien typisch, bedeutsam und ergiebig, aber auch – und vielleicht vor allem – von meiner Neugierde. Und von meiner Lust, über das betreffende Element eine Mikrogeschichte zu schreiben.
ID: Wie machst du das?
VML: Die Mikrogeschichten sind alle nach einem mehr oder minder gleichen Muster aufgebaut. Sie fangen mit einer Begriffsklärung an, die etymologisch dem Ursprung der wichtigsten Wörter auf den Grund gehen soll. Dann versuche ich, die Geschichte des Elements möglichst konzis zu skizzieren: von den Anfängen bis zur Gegenwart. Die geografische Grenze ziehe ich mit Europa, und innerhalb Europas tauchen bei mir immer wieder die gleichen Städte auf: Rom, Paris, London, Wien, Berlin. Weil diese Städte bedeutend sind, Rom als beherrschende Metropole der Antike oder Berlin als verspätete Haupt- und Industriestadt, aber auch aus dem Grund, dass ich diese Städte einigermaßen kenne und so auf eigenes Anschauungsmaterial zurückgreifen kann. Mit meiner Mikrogeschichte versuche ich, die Entwicklung des jeweiligen Elements in einen plausiblen Kontext zu stellen. Ich frage also nach dem konkreten funktionalen Bedarf, nach den technischen Bedingungen, nach den klimatischen und hygienischen Bedürfnissen, aber auch danach, wem Boden und Bauten gehören, wer für die Elemente bezahlt und warum, wie der Unterhalt gesichert wird, welche organisatorischen und rechtlichen und normativen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Nicht zuletzt, genauer: von Anfang an und durchgängig, unter welchen politischen und ideologischen Voraussetzungen die Elemente entstehen und was sie gesellschaftlich versinnbildlichen und tatsächlich bewirken. Zum Schluss versuche ich eine aktuelle Bilanz, bei der ich meine persönliche Meinung nicht zurückhalte, und sogar eine – nicht minder persönliche – Perspektive.
ID: Und du machst eine Recherche über diese städtischen Accessoires und bist noch offen für alles, also für die Teile, die kleinen, die die Stadt auszeichnen eigentlich und charakterisieren?
VML: Meine Objekte sind nahezu ausnahmslos Ausbau- und Einrichtungsgegenstände, die den öffentlichen Raum funktional aufwerten, also die Stadt besser nutzbar und lebbar machen. Sie sind aber auch Gestaltungselemente, die den Stadtraum verschönern oder verunstalten und seinen Charakter entscheidend mitbestimmen. Ein Bürgersteig mit den gleichen Ausmaßen und in der gleichen Straße, einmal aus großen Granitplatten zusammengefügt und einmal in Asphalt gegossen, macht aus der Straße eine andere Straße. Und ob ein Asphaltbürgersteig eine einheitliche Fläche aufweist oder ein Flickwerk schlecht zueinander passender Reparaturen und Ausbesserungen, verändert diese Straße und ihren Charakter noch einmal tief greifend. Die kleinen Elemente des Stadtraums sind allerdings, glaube ich, noch mehr: Sie sind Details, an denen man die Entwicklung der Stadt als Ganzes exemplarisch ablesen kann. Bereits die Tatsache, ob der öffentliche Raum einer Stadt eingerichtet ist oder nicht, sagt viel über sie aus. In der antiken Stadt gab es zahlreiche Brunnen, Bänke und öffentliche Einrichtungen, weil ihre Straßen und Plätze Orte, ja geradezu Dispositive des gesellschaftlichen Lebens waren und sie auch politisch auf Öffentlichkeit gründete. Das ist im Mittelalter und in der frühen Neuzeit viel weniger der Fall. Mit der Industrialisierung erhielt im späten 18. und dann vor allem im 19. Jahrhundert der Stadtraum wieder eine neue Bedeutung. Durch die Trennung von Wohn- und Arbeitsstätten bewegten sich immer mehr Menschen immer öfter und länger in der Stadt, die entsprechend neu ausgestattet werden musste. Das, was Walter Benjamin die „Wohnung des Kollektivs“ nennen sollte, wurde „möbliert“. Das war funktional notwendig: Die Menschen mussten essen, sich ausruhen, sich informieren, konsumieren und auch ihre Notdurft verrichten. Das war aber auch, und vor allem, politisch notwendig: Das neue Großstadtleben musste in geordnete Bahnen gelenkt werden, die Bewohner diszipliniert und ihr Verhalten so geregelt, dass Anstand und Ordnung nicht verletzt wurden. Es ist kein Zufall, dass im 20. und im frühen 21. Jahrhundert die Ausstattung des Stadtraums noch weiter zugenommen hat: Er ist zu einer Bühne geraten, vollgestellt mit Requisiten, die den Rahmen für die Inszenierung des globalisierten Konsums abgeben. Aber auch und vor allem als Einzelstücke sind die kleinen Elemente des Stadtraums Indizien für die Entwicklung der Architektur der Stadt als Ganzes. Sie können nach den gleichen Dimensionen befragt werden, die für die Form der Stadt bedeutsam sind: nach den Nutzungsanforderungen, der Technologie, dem Klima, den Eigentumsverhältnissen, den ökonomischen Mechanismen, den rechtlichen Instrumenten – und nicht zuletzt nach den politischen, ideologischen oder religiösen Motiven. Das ist das, was man untersuchen muss, um zu verstehen, warum eine Stadt ihre besondere Form hat und keine andere. Und das lässt sich auch anhand eines Bürgersteigs, einer Straßenlaterne oder eines Ablaufgitters untersuchen – etwa so, wie es im späten 19. Jahrhundert der Kunsthistoriker Ivan Lermolieff alias Giovanni Morelli tat. Weißt du, wer er war? Eine Art Detektiv der Kunstgeschichte, ein Sherlock Holmes der Bildidentifikation. Er schaute sich Details wie Hände, Ohren oder Stofffalten genau an und zog daraus Rückschlüsse auf das Gesamtgemälde. Die kleinen Elemente des Stadtraums sind solche Indizien und bilden den Schlüssel zum Verständnis des Stadtraums selbst. Und der Stadt, zu der sie sich zusammenfügen.
ID: Also bist du der Stadtdetektiv, der die Accessoires der Straße als Indizien verwendet. Ist Accessoires ein guter Ausdruck?
VML: Ja, in der Regel nennt man das Stadtmöblierung, was ein nicht besonders glücklicher Begriff ist.
ID: Weil sie nicht verrückbar sind?
VML: Erstens, weil sie nicht verrückbar sind, meine Elemente sind keine Möbel, sie bewegen sich nicht und können auch nicht bewegt werden, sie sind fest. Zweitens suggeriert der Begriff, dass die Stadt und ihre Straßen und Plätze so eingerichtet werden wie ein gemütliches Wohnzimmer, und das ist ganz falsch. Eine Stadt ist eine Stadt und muss nicht gemütlich sein.
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Fotos: © Maurice Weiss