Ausgabe 16 / Juni 2021
„Momentan sammle ich ganze Klassen von schlechtem Geschmack“
Stephan Schlak
Was ist Geschmack – und wie schreibt man darüber, ohne Mayonnaise anzurühren? Der Historiker Ulrich Raulff spürt einer Zentralvokabel der Ästhetik nach
Stephan Schlak: Wollen wir nicht gleich am Anfang dem Gespräch eine geschmäcklerische Note geben und über die ästhetischen Kollateralschäden der Pandemie sprechen. Wir verplempern ganze Tage im schlechten Licht unserer Bildschirme, tragen im Homeoffice unsere alten zerbeulten Pullover auf und können uns als unfreiwillige Insulaner an die letzte Party kaum mehr erinnern. All die Orte und Arenen, an denen Geschmack, Schönheit, Verfeinerung gelehrt wird – die Restaurants, die Theater, Kinos, die Clubs –, sind geschlossen. Sind es nicht momentan verdammt schwere Zeiten, lieber Ulrich Raulff, für den Geschmacksforscher?
Ulrich Raulff: Das können Sie so oder so sehen. Der Zungengeschmack hat sicher eine Ruhezeit im Moment – aber eben nur in den Restaurants. Man redet ja nicht umsonst vom Coronaspeck, weil die Leute irrsinnig viel Geld für die Pflege ihrer kulinarischen Bedürfnisse ausgeben, für Neueinrichtungen ihrer Küche und Ausstattungen. Aber auch die Delikatessenläden boomen, Wein, Schnaps, Champagner. Diese ganze Sphäre des Geschmacks im materiellen und sinnlichen Sinne – sie blüht ja gerade, wenn auch nur im Privaten. Der Geschmack als gesellschaftsstiftendes Ereignis hat natürlich darunter gelitten, dass jetzt immer eine Mattscheibe zwischen uns ist.
StS: Obwohl das Fegefeuer der Eitelkeiten damit nicht erloschen ist. Man erwischt sich ja selbst dabei, wie die Webcam so ausgerichtet wird, dass der Bildausschnitt ansprechend ist. Die täglichen Sitzungen im Zoom-Käfig sind auch ethnologische Studien fremder Interieurs. Was man da an Geschmacksverirrungen so alles sehen kann ...
UR: Hunderte von Bücherwänden habe ich im letzten Jahr gesehen. Unzählige Billy-Regale, die es immer noch gibt, auch wenn alle es bestreiten, solide Eiche und Orangenkiste, es ist alles noch da. Natürlich lässt die Intimisierung des Arbeitsprozesses oder, wenn Sie so wollen, die Publizierung der häuslichen Sphäre die Welt des Geschmacks nicht unberührt. Grundsätzlich kann ich mir als Historiker nur gratulieren, so eine Situation noch mal mitzuerleben. Solche globalen Laborsituationen haben wir uns zuvor nur in Verbindung mit großen Kriegen vorstellen können. Jetzt erleben wir uns als Labortiere in einem biopolitischen Experiment größten Stils. Biopolitik ist eine Vokabel, die uns Foucault auf die Zunge gelegt hat, und damit haben wir die letzten 40 Jahre munter Theoriearbeit getrieben, ohne einen Begriff davon zu haben, was es ist. Jetzt wissen wir es.
StS: Zum Gespräch haben wir jetzt einmal unsere Corona-Schutzmasken abgelegt – obwohl wir als Freunde der Moralistik und der exzentrischen Anthropologie – „Cool Conduct“ – ja wissen, dass zu einem zeremoniellen, schönen, spielerischen Gespräch die Maske und die Lust an der Verstellung unbedingt dazugehört ...
UR: Das ist eine schöne und noble alteuropäische Tradition, an die die philosophische Anthropologie – die Kältefreaks der Zwanzigerjahre, auf die Sie anspielen – andockt. Dieses große Maskenspiel, das Nicht-Offenlegen des geheimen Inneren, die Etikette, das ist ja die eigentlich gesellige Situation des Ancien Régime gewesen. Vermutlich ist diese Tradition auch gar nicht auf Alteuropa beschränkt, sondern findet sich so ähnlich auch in den großen zeremoniellen Kulturen Asiens. Und jetzt ist das „Pathos der Distanz“, unser „Recht auf Maske“ – nach Plessner – als Apothekerschicksal über uns verhängt. Die Maske hat nichts Graziöses mehr. Dazu mussten die schickeren van-Laack- oder Versace-Modelle nicht erst von der klinischen FFP2-Maske verdrängt werden.
StS: Schon der Blick auf die Maske zeigt, dass das Spektrum des Geschmacks sehr weit aufgefächert ist. Was für den Einen der Inbegriff von Verhaltenssicherheit ist, ist für den Anderen eine Ausdrucksminderung und für den Dritten die Hygienemaßnahme der Stunde. Betreiben wir ein wenig Elementarkunde des Geschmacks. Was zeichnet ihn aus? Was unterscheidet diese Figur von der Reflexion?
UR: Ganz einfach: das Tempo der Beurteilung. Die Schnelligkeit des Mögens oder Nichtmögens, der Zustimmung oder Ablehnung. Schon die frühesten deutschen Ästhetiker wie Johann Ulrich König stellen fest, dass der Geschmack immer sehr schnell fertig ist mit seinem Urteil, „ohne die deutlichen Begriffe des Verstandes vorher darüber zu Rathe zu ziehen“, wie er in der Untersuchung von dem guten Geschmack 1727 schrieb. Der gesamte philosophische Apparat wird nicht vorab konsultiert.
StS: Anders als das Argument, der langsame Brüter, nimmt der Geschmack eine Abkürzung.
UR: Er nimmt den kurzen neuronalen Weg, und das führt auch dazu, dass seine Apodiktik, seine Bestimmtheit umso höher ist. Weil der Geschmack nicht zurückgreifen muss auf den ewig zweifelnden und immer skeptischen und mit sich selbst argumentierenden Verstand. Weil er nicht der Diktatur des Selbst unterliegt und keiner Kategorientafel: Er kommt aus den eigenen Fasern, aus der Innervation, wie Adorno vielleicht sagen würde. Da ist etwas in uns, das sich ganz schnell in der Welt orientiert, ganz schnell Bescheid weiß, ob es etwas mag oder nicht. Ein kurzer Check, eine einfache binäre Operation – ich mag das, ich mag das nicht.
StS: Wenn der Geschmack also dem Bewusstsein vorgelagert ist, sind wir dann in unseren Vorlieben und Affekten Geiseln unseres Geschmacks?
UR: Natürlich zahlen wir einen Preis, denn auf dieser Ebene ist der Geschmack praktisch unerziehbar. Sicherlich kann man den Geschmack verfeinern, ein großer Connaisseur werden, aber dieser einfache schnelle Reflex, der ist unverfügbar, den hat man nicht im Griff. Nirgendwo ist der Mensch weniger Herr im eigenen Hause als in seinem Geschmack.
StS: Wie verhalten sich denn nun die Idiosynkrasien dieses Privatgeschmacks zum Zeitgeschmack? Der durchläuft ja ständige Moden. Als Ideenhistoriker wissen wir, dass jede Saison eine neue Farbe gespielt wird.
UR: Damit ist in der Tat eine andere Schicht des Geschmacks angesprochen, in der wir soziale Wesen sind und wiederum nicht Herr im eigenen Haus. Jetzt gefallen uns diese Autofarben und im nächsten Jahr wieder andere. Gerade möchten wir ein Smartphone in Altrosa haben und im nächsten Jahr eins in Burgund. Da sind wir im hohen Maße, ich will nicht sagen korrumpierbar, aber abholbar. Im Grunde genommen hat unser verehrtes Selbstbewusstsein auf beide Register – sowohl den Privat- wie den Zeitgeschmack – wenig Zugriff. Weder auf die kleine Orientierungsmaschine, die da in uns läuft, dieses binäre Checksystem, noch auf das schon im Vorhinein bestellte Feld des Zeitgeschmacks, das von großen Zeitschriften wie Vogue und Architectural Digest, von Werbeunternehmen, Social Media und anderen tastemakers organisiert wird. Auch da sind wir sehr wenig wir selbst.
StS: Versuchen wir, die große unbekannte Hintergrundfigur, den Geschmack, noch ein wenig einzufangen. Können wir kurz auf den Beipackzettel schauen und ein paar Ingredienzien nennen. Woraus ist Geschmack gemacht?
UR: Wir denken, verführt durchs 18. Jahrhundert, schnell in Richtung Sinnlichkeit und Schönheit, Mode, Wein, Parfüm und so weiter. Erst einmal ist der Geschmack ein Kommunikationsphänomen, und das heißt: ein Sprachspiel. Er ist aus Wörtern gemacht. Geschmack wird dadurch weiterentwickelt, dass neue Begriffe, neue Beschreibungen gefunden werden. Bleiben wir beim Parfüm: Man muss nicht nur einen neuen Duft kreieren, man muss ihm auch einen Namen geben. Damit wir etwas sinnlich verstehen, ein Begehren entwickeln können, sind wir darauf angewiesen, dass uns die Dinge sprachlich nahegebracht werden. Deswegen interessieren mich die Nomenklaturen. Wie benennt man Klangfelder oder Farbspektren? Wo endet Kadmiumrot, wo beginnt Scharlach und welche Schattierungen liegen dazwischen? Das alles ist notwendig zu wissen, wenn wir verstehen wollen, wie Geschmack funktioniert und wie er sich mitteilt. Denn die Mitteilung ist fast die Sache selbst – übrigens schon für Kant.
StS: Die Nomenklaturen, die Sprachspiele, die schnell wechselnden Moden, die gibt es ja auch in der Welt der Theorien.
UR: Da sind wir wieder bei der Ideengeschichte, die ihr eigenes Flavour mitbringt und erzeugt. Ich glaube, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass bestimmte Denkstile atmosphärische Valeurs in sich tragen, die sich dem Geschmack erschließen. Wie Derrida einmal gesagt hat: Heideggers Philosophie hat ein Klima. Das ist ja schon eine sensible, fast geschmackliche Beschreibung für einen philosophischen Stil.
StS: Wenn Geschmack ein Kommunikationsphänomen ist, was passiert dann mit ihm, wenn der Stoff, aus dem er gemacht ist, selbst zur Ware wird: Rohstoff Kommunikation. Daumen hoch/Daumen runter. Das Netz ist ja strukturiert von dieser schnellen Ökonomie des Gefallens.
UR: Die sozialen Systeme der Kommunikation haben, so massiv sie auch dank der entsprechenden Technik in den Alltag vorgedrungen sind, keineswegs die Tendenz, den Geschmack in seiner ganzen Vertikalität bis in die feinsten Spitzen abzutasten. Also: Welche High-End-Höhen der Audiotechnik kann ich noch wahrnehmen und welche Feinheiten der Interpretation bemerke ich, wenn ich jetzt die Goldberg-Variationen von zehn verschiedenen Pianisten höre, wie schnell erkenne ich András Schiff? Diese ganze haarfeine Distinktion, die wir selber in der Welt der Dinge, der Artefakte vornehmen, dafür interessiert sich das Netz erst mal nicht. Das Netz kommt platter daher, es sucht den Konsumenten: Schau an, er verteilt Likes, wie interessant.
StS: Und da bietet die binäre Logik des Gefallens erst einmal viel an.
UR: Verstehen Sie das nicht als kulturkritischen Seufzer. Ich suche selber den flachen Ansatz. Weil ich denke, man muss die Phänomene da ansteuern, wo sie am flachsten, am plattesten, abgeschliffen durch den Gebrauch und die Jahrhunderte, unter der Tür durchkommen. Es ist immer leicht, Höhenkamm-Phänomenologie zu betreiben. Ich suche den flachen Ansatz. Dass die Pfeifen von Dunhill heute nicht mehr aus dem feinsten Straight Grain Bruyère sind, dass sie auch Einschlüsse haben, ja gut, deswegen sehe ich nicht das Abendland untergehen. Natürlich kann ich nicht übersehen, dass das Autodesign eine grauenhafte Entwicklung genommen hat. Aber im nächsten Moment denke ich, warten wir mal zehn Jahre ab. Das geht noch schlimmer. Gleich ist die gute Laune wieder da.
StS: Wie schafft es eigentlich ein Historiker, der ja selbst vom Parfüm seiner Zeit, von der eigenen generationellen Lage geprägt ist, beim Schreiben und auch Nachdenken über den Geschmack nicht zu viel vom Geschmack der eigenen Zeit mitzutransportieren?
UR: Ja gut, es ist nicht leicht, auf den eigenen Rücken zu schauen. Das ist nicht nur anatomisch schwierig, es ist auch zeitdiagnostisch anspruchsvoll. Systeme können ihre Selbstunterscheidung selbst nicht unterscheiden. Das gilt auch für Autoren. Es ist sehr schwer, das Zeitkolorit im eigenen Denken, auch in der intellektuellen Sensibilität, herauszufiltern. Man muss sich auch fragen, ob man das wirklich will, ob man das soll. Ob man damit nicht das eigene Denken geschmacksfrei und fade macht. Der Zeitbefangenheit kann man ja nicht entkommen. Auch der freieste Mensch tigert irgendwie im Käfig seiner Zeit. Man kann nur so oder so damit umgehen. Durch Neutralisierung oder durch Geschmacksverstärkung.
StS: Dann wagen wir uns doch einmal in die entneutralisierte Zone des starken Geschmacks. Es gibt ihn also! Oder mit einem geschmackssicheren Theoretiker aus Ostwestfalen, mit Niklas Luhmann gesprochen: „Die Lehre vom guten Geschmack“ hat „ihre Evidenz nicht in ihren Kriterien, sondern darin, dass es klare Fälle von schlechtem Geschmack gibt“.
UR: Auch ich arbeite zunächst mit einem schlichten binären System: guter Geschmack/schlechter Geschmack. Ich würde mich ja selbst um einen ungeheuren Spaß am Geschmack bringen, wenn ich vorab sagen würde: schlechten Geschmack, den gibt es nicht. Momentan sammle ich ganze Klassen von schlechtem Geschmack. Mit der Einführung des Privatfernsehens begann ja die Umwandlung der westlichen Gesellschaften in Bad-Taste-Partys in Permanenz. Ein wenig will ich mir wohl meinen Kinderglauben erhalten, dass es guten Geschmack gibt. Und zum Beweis dafür muss ich nun die klaren Fälle von schlechtem Geschmack, von denen Luhmann spricht, massenhaft sammeln.
StS: Sind Sie mit der Bad-Taste-Party da am richtigen Ort? Ist das Wissenschaftskolleg im Grunewald ein gutes empirisches Feld, um auf die Suche nach schlechtem Geschmack zu gehen?
UR: Absolut. Der Grunewald ist ja eine Bauausstellung eigener Art: die case study houses der Wilhelminer. Nirgendwo sonst sind Reichtum und schlechter Geschmack eine glücklichere Verbindung eingegangen. Und das geht weiter bis heute, von einer Baugeneration zur nächsten; schlechter Geschmack vererbt sich. Als Kontrastfolie für das Kolleg, diese Insel der Gelehrsamkeit, auch in ihrer Verpflichtung zur Sache, ist das gar nicht zu überbieten. In Dahlem mit seinen dezenten und gekonnten Baustilen wäre der Kontrast viel schwerer herzustellen gewesen. Eine geschmackvolle, intellektuelle Institution mitten unter die wilhelminischen und posthistorischen Geschmacklosigkeiten des Grunewalds zu setzen, war ein genialer Schachzug. Was natürlich nicht ausschließt, dass der Stil nouveau riche – bezogen auf Intellektualität – auch hier reüssieren konnte. Aber man hat doch immer ernsthaft versucht, und da sind wir wieder bei der Geschmacksbildung, genuines Gelehrtentum zu fördern, zu erziehen. Das Wiko ist ja eine Pépinière des guten Gelehrtenseins. Aber eben zeitgemäß, modern, kein Knebelbart, keine Geheimratsattitüde und offen gegenüber der Stadt. Was vielleicht ein bisschen gefehlt hat, waren die ästhetischen tastemaker der 80er- und 90er-Jahre. Natürlich gab es große Ästheten hier, auch selbsternannte. Das ging los mit Jean Bollack und Nicolaus Sombart und endete nicht mit Sara Danius und Barbara Vinken. Vielleicht lag aber die Stärke des Kollegs hier doch vor allem in der Musik, der Pianisten- und Komponisten-Avantgarde. Brendel und Aimard, Henze und Lachenmann. Aber die noch Verrückteren, die haben ein wenig gefehlt. Man hätte vielleicht einmal Vivienne Westwood einladen sollen. Leute ihres Schlages, die im Nahkampf mit dem schlechten Geschmack immer wieder gesiegt haben. Und uns an ihrem Beispiel klarmachen, dass guter Geschmack stark ist, einen großen Magen hat und wahnsinnig viel schlechten Geschmack, Kitsch und so verdauen muss, um daraus wieder fantastische Kreationen zu entwickeln. Aber die Zeit von Karl Lagerfeld, Gianni Versace und Vivienne Westwood ist längst vorbei. Alexander McQueens Totenköpfe trägt dank Breuningers Sortiment jetzt auch die schwäbische Hausfrau.
StS: Zeichnet sich denn schon eine Form, eine kleine ästhetische Architektur ab, in der Ihr Buch über den Geschmack erzählt werden soll? Wie soll gebaut werden?
UR: Bröckelig. Also nicht zu viel legieren und das eine zur Ursache des anderen machen. Sondern die Dinge einfach nur in der Kontinuität und Kontiguität, die die Zeit stiftet, erzählen – das war und das war, und ein Drittes war auch noch. Wenn es einem gelingt, die Dinge so stochastisch zu nehmen, wie sie waren, also eine Form des eklektischen Erzählens zu finden, dann fände ich das gut. „Eklektisch“ ist in meinem Sprachgebrauch ja der Goldstandard. Mein Lieblingsradioprogramm ist FIP, und dieser tolle Sender bewirbt sich selbst so: „La radio musicale la plus éclectique.“ Darin sind wir, FIP und ich, Enkel von Diderot. Wenn man dagegen zu sehr romanhaft legiert, alles zu einer dicken Soße verrührt, dann ähnelt der Schreibstil – wie die wunderbare Sara Danius einmal über Proust gesagt hat – einer Mayonnaise. Ich will jetzt Proust nicht zu nahe treten, aber die Mayonnaise ist unbedingt zu vermeiden – und der Streuselstil anzustreben.
StS: Mit dem Streuselstil sind wir ja schon beim Dessert angekommen. Und dabei haben wir von dem Naheliegendsten in einer Phänomenologie des Geschmacks noch gar nicht gesprochen, dem Zungengeschmack.
UR: Ja, damit fangen auch die geistvollsten Ästhetiken an, darum kommen sie alle nicht herum. Zunächst ist der Geschmack einer der fünf Sinne: Geschmack am Essen, Geschmack am Getränk. Kant beschreibt das ziemlich robust: die Auflösung der Speisen im Mund. Es bleibt erstaunlich, welche enorme Bedeutung das Essen und der Speisegenuss für Kant gespielt haben. Das ist ja auch das Schöne an unserer Vokabel, dass der Geschmack, der mit der innigsten Aufnahme von Nahrung, im Prinzip fremder Materie, in den Körper verbunden ist, zugleich imstande ist, die feinsten ästhetischen Regungen, das zarteste Spiel des Intellekts zu beschreiben. Befeuerte Geselligkeit. Etwas Schöneres gibt es für Kant nicht. Auch nichts Besseres. Es ist gutes Leben.
StS: Da stimmen wir gleich ein Lob der Küche an, der ästhetischen Idealsituation und originären Institution der Geschmacksbildung, die in der Ideengeschichte ja immer noch ein unterbelichteter Ort ist.
UR: Das erweist ja nicht nur unsere langjährige Partyerfahrung. Der beste Teil der Party findet immer in der Küche statt. Und das ist ja auch im Wissenschaftskolleg so, nach meiner bescheidenen Erfahrung.
StS: Das Konvivium im Grunewald. Und am schönsten ist es noch immer, wenn das Gespräch gleich mit der Vorspeise seine Hülle von Seriosität abstreift. Nicht den jüngst gehörten Vortrag mühsam rekapituliert oder ein Projekt nachkaut, sondern sich quer durch den Garten schlägt.
UR: Deswegen braucht es auch seine drei Gänge. Weil es auch drei Formen und Gangarten des Tischgesprächs gibt. Da sind wir wieder bei Kant. Es gibt die Narration, das Geplauder, dann kommt die Disputation, die Erörterung, das lebhafte Gespräch, und zum Schluss kommt der Risus – nicht der Reispudding, sondern das Gelächter.
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Fotos: © Maurice Weiss